Baurecht

Erfolgreicher Antrag des Nachbarn nach § 80a Abs. 3 VwGO: Das Maß der baulichen Nutzung in einem (Änderungs-)Bebauungsplan war drittschützend (“subjektiv-rechtlich aufgeladen”)

Aktenzeichen  9 CS 21.817

Datum:
15.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16356
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

1. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Besonderheiten des Einzelfalls rechtfertigen es, hier davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin und Plangeberin die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung im Rahmen der Änderungsplanung gegenüber dem Ursprungsbebauungsplan subjektiv-rechtlich aufgeladen hat (hier: die Annahme einer nachbarschützenden Wirkung erschien vor allem deshalb gerechtfertigt, weil die Bebaungsplanänderung nur für ein einzelnes Baugrundstück unter Ausschöpfung nicht nur des städtebaulich, sondern gerade auch des nachbarlich zumutbaren größtmöglichen Rahmens erfolgte. (Rn. 20 – 21) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 5 S 21.74 2021-03-01 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 1. März 2021 wird in Nr.
I. und II. aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klagen der Antragsteller vom 8. Dezember 2020 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 4. November 2020 wird angeordnet.
II. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt die Antragsgegnerin mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
III. Der Streitwert wird für die Beschwerdeverfahren auf insgesamt 10.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich gegen die der Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Mehrfamilienhauses mit 16 Wohneinheiten auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung W. (Baugrundstück).
Das Baugrundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 10.8 „W.weg – L.straße – Südseite – S.tal *“ der Antragsgegnerin vom 3. Juni 1981 in der Fassung der 1. Änderung Nr. 10.8.1 „W.weg – L.straße – Südseite (Ehem. … …) – S.tal … – für das Grundstück FlNr. …“ vom 9. Juni 1989. Der Geltungsbereich der 1. Änderung umfasst dabei ausschließlich das Baugrundstück.
Mit Unterlagen vom 20. Dezember 2018, zuletzt geändert mit Stand 27. August 2020, beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau eines Mehrfamilienhauses mit 16 Wohneinheiten im südlichen Bereich des nach Norden abfallenden Grundstücks FlNr. … Gemarkung W. Das Bauvorhaben erfordert mehrere Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 10.8 in der Fassung der 1. Änderung Nr. 10.8.1 sowie eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften. Die Antragsgegnerin erteilte die beantragte Baugenehmigung mit Bescheid vom 4. November 2020 unter Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der festgesetzten Geschossflächenzahl, der Zahl der Vollgeschosse, der Dachform, der Überschreitung der Baugrenze auf der Nordseite, der sichtbaren Sockelhöhe und der Traufhöhe sowie einer Abweichung betreffend die Abstandsfläche auf der Westseite für die Stützmauer des Grenz-Parkliftes. Hiergegen erhoben die Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht (Az. W 5 K 20.1994), über die noch nicht entschieden ist.
Die Antragsteller sind Miteigentümer des Grundstücks FlNr. … Gemarkung W., das nicht vom Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 10.8 umfasst wird. Dieses Grundstück liegt östlich des Baugrundstücks und grenzt – ebenso wie dieses – unmittelbar an den L.weg an. Der Antragsteller zu 1 ist zudem Eigentümer des Grundstücks FlNr. … Gemarkung W., das im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 10.8, östlich des Baugrundstücks und nördlich des Grundstücks FlNr. … Gemarkung W. liegt.
Mit Schriftsatz vom 13. Januar 2021 beantragten die Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 1. März 2021 ablehnte. Zur Begründung wurde seitens des Verwaltungsgerichts insbesondere ausgeführt, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans, von denen befreit wurde, nicht drittschützend seien und das Bauvorhaben das Gebot der Rücksichtnahme gegenüber den Antragstellern nicht verletze.
Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihren Beschwerden. Sie sind der Ansicht, dass die Festsetzungen des Änderungs-Bebauungsplans Nr. 10.8.1 zum Maß der baulichen Nutzung drittschützend seien, weil sie nicht ausschließlich städtebaulich motiviert gewesen seien. Neben den Interessen der Antragsgegnerin, wegen der Verkleinerung des Baufensters keine Entschädigungsansprüche zahlen zu müssen, und den Interessen des Grundstückseigentümers, habe sich die Plangeberin ausdrücklich an den nachbarlichen Interessen orientiert. Die Erwähnung der Würdigung der nachbarlichen Interessen in der Begründung des Bebauungsplans spreche dafür, dass den entsprechenden Festsetzungen Nachbarschutz habe zukommen sollen. Das Gesamtkonzept des Änderungs-Bebauungsplans habe sicherstellen sollen, dass die unterschiedlichen Belange miteinander in Einklang gebracht werden können. Durch die erteilten Befreiungen werde in dieses Abwägungsgefüge erheblich eingegriffen. Zudem verletze die erteilte Baugenehmigung das Gebot der Rücksichtnahme, weil die Gesamtheit der nachteiligen Auswirkungen unberücksichtigt geblieben sei. Das Bauvorhaben überschreite in seiner Gesamtheit das Maß dessen, was nachbarverträglich sei; gesunde Wohnverhältnisse seien nicht mehr gewährleistet. Es entstehe eine erdrückend wirkende Nachbarbebauung mit ungewünschten Einsichtsmöglichkeiten und nachteiligen Emissionen, was durch die Hanglage verstärkt werde. Das Maximalmaß zumutbarer Rücksichtnahme, wie es dem Änderungs-Bebauungsplan zugrunde liege, werde durch die erteilten Befreiungen überschritten.
Die Antragsteller beantragen,
unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 1. März 2021 die aufschiebende Wirkung der Klagen der Antragsteller vom 7. Dezember 2020 gegen den Baugenehmigungsbescheid der Antragsgegnerin vom 4. November 2020 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerden zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die Festsetzungen seien nicht drittschützend, da kein dahingehender Wille der Plangeberin erkennbar sei. Intention der Änderungsplanung sei ausschließlich die städtebauliche Neuentwicklung des Grundstücks FlNr. … Gemarkung W. gewesen. Die Festsetzungen erfolgten im Hinblick auf eine geordnete städtebauliche Entwicklung unter Ermittlung des für die Nachbarschaft noch Zumutbaren anhand der vorhandenen Umgebungsbebauung. Aus der Begründung ergebe sich, dass bei der Abwägung der privaten Belange untereinander den Interessen des Grundstückseigentümers eine höhere Gewichtung beigemessen worden sei. Dementsprechend seien Rückschlüsse auf den planerischen Willen eines Nachbarschutzes nicht nachvollziehbar, da sich die nachbarlichen Belange gerade nicht gegen die Interessen der Öffentlichkeit und des Grundstückeigentümers durchsetzen konnten und zurückgestellt wurden. Ein wechselseitiges Austauschverhältnis scheitere auch daran, dass sich die Grundstücke der Antragsteller nicht im Geltungsbereich des Änderungs-Bebauungsplans befinden. Der Prüfungsmaßstab des Verwaltungsgerichts sei mangels Befreiung von drittschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans zutreffend; eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots liege ebenfalls nicht vor. Die Gesamtwirkung sei erkannt und berücksichtigt worden; eine Beeinträchtigung nachbarlicher Rechte hierdurch scheide jedoch aus. Auch bei einer Würdigung der Befreiungen in ihrer Gesamtheit ergäben sich keine unzumutbaren Belastungen für die Antragsteller.
Die Beigeladene hat sich weder vor dem Verwaltungsgericht noch im Beschwerdeverfahren geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der verschiedenen Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die Beschwerden haben Erfolg.
Die von den Antragstellern dargelegten Gründe, auf die die Prüfung des Senats im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen die Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht hat die Anträge der Antragsteller voraussichtlich zu Unrecht abgelehnt, weil den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung im Änderungs-Bebauungsplan Nr. 10.8.1 – entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts und der Antragsgegnerin – voraussichtlich nachbarschützende Wirkung zukommen dürfte und damit die Klagen der Antragsteller im Hauptsacheverfahren nach summarischer Prüfung voraussichtlich Erfolg haben werden. Das Vollzugsinteresse der Beigeladenen an der Baugenehmigung gegenüber dem Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen bleibt daher nachrangig.
Zutreffend hat das Verwaltungsgericht darauf abgestellt, dass der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB davon abhängt, ob die Festsetzungen, von denen dem Bauherrn eine Befreiung erteilt wurde, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2019 – 9 CS 19.1595 – juris Rn. 22).
Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung sind grundsätzlich nicht drittschützend (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 15.2.2019 – 9 CS 18.2638 – juris Rn. 20). Ob eine solche Festsetzung auch darauf gerichtet ist, dem Schutz eines Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab (vgl. BVerwG, B.v. 13.12.2016 – 4 B 29.16 – juris Rn. 5 und B.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 14). Maßgebend ist, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen worden ist oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2014 – 9 CS 14.84 – juris Rn. 17; B.v. 29.7.2014 – 9 CS 14.1171 – juris Rn. 15; B.v. 12.7.2016 – 15 ZB 14.1108 – juris Rn. 11; OVG RhPf, B.v. 1.8.2016 – 8 A 10264/16 – juris Rn. 6).
Eine solche ausnahmsweise drittschützende Zielrichtung von Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung muss sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan‚ seiner Begründung oder aus sonstigen Unterlagen der planenden Gemeinde ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 19.11.2015 – 1 CS 15.2108 – juris Rn. 8). Günstige Auswirkungen einer Festsetzung auf die Nachbargrundstücke reichen zur Annahme eines Nachbarschutzes ebenso wenig aus, wie dass die Gemeinde ihrer Pflicht aus § 1 Abs. 7 BauGB zur gerechten Abwägung der betroffenen Belange, hier insbesondere der Einwendungen der Antragsteller als angrenzende Nachbarn, nachgekommen ist (vgl. BayVGH, B.v. 19.11.2015 – 1 CS 15.2108 – juris Rn. 8). Letztlich ausschlaggebend ist jedoch eine wertende Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs (vgl. BayVGH, B.v. 18.12.2017 – 9 CS 17.345 – juris Rn. 16 m.w.N.).
Offenbleiben kann, ob hier allen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung in gleicher Weise eine nachbarschützende Wirkung zukommt. Dagegen spricht, dass sich die Plangeberin bei der Festlegung der Geschossflächenzahl zwar an der östlich und westlich benachbarten vorhandenen Bebauung orientiert hat (vgl. Begründung Änderungsplan S. 9), hierbei jedoch kein weiterer Bezug auf nachbarliche Belange erfolgt und eine solche Orientierung typischerweise gerade städtebaulichen Belangen entspricht. Aus der Begründung des Änderungs-Bebauungsplans und dem Festsetzungszusammenhang im Übrigen ergibt sich aber, dass jedenfalls der Gesamtheit der Festsetzungen und insbesondere den Festsetzungen zur Trauf- und Sockelhöhe sowie der Zahl der Vollgeschosse nachbarschützende Wirkung zukommen dürfte.
Zwar führen die von der Plangeberin angeführten naturschutzrechtlichen und öffentlichen Interessen an der Vermeidung von Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen dazu, dass die Planänderung nicht ausschließlich aus städtebaulichen Gründen erfolgt ist. Allein hieraus ergibt sich aber noch nicht die erforderliche nachbarschützende Wirkung, da die genannten Interessen nicht auch dem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen sollen (vgl. BayVGH, B.v. 27.4.2021 – 9 ZB 20.1669 – juris Rn. 16; B.v. 19.4.2021 – 9 ZB 20.602 – juris Rn. 19). Die Besonderheiten des Einzelfalls rechtfertigen es jedoch, hier davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin und Plangeberin die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung im Rahmen der Änderungsplanung gegenüber dem Ursprungsbebauungsplan subjektiv-rechtlich aufgeladen hat.
In der Begründung des Änderungsbebauungsplans stellt die Plangeberin darauf ab, dass die Befürchtung, der Baukörper könnte durch ein überhöhtes Sockelgeschoss usw. talseitig unverhältnismäßig hoch aus dem Gelände herausragen und hier bis zu vier Geschossen und mehr in Erscheinung treten, durch die Beschränkung der Traufhöhe auf maximal 8 m und der sichtbaren Sockelhöhe auf maximal 0,70 m unbegründet werde. Zudem führt die Plangeberin an, dass der Ausgleich einer intensiveren Nutzung des verbleibenden Grundstücksteiles am L.weg städtebaulich und unter dem Gesichtspunkt der nachbarlichen Interessen vertretbar sei, weil die Festsetzungen nicht zu einem nachbarbereichsstörenden, für die Umgebung untragbaren Bauwerk führten. Daraus lässt sich entnehmen, dass das Ziel der Planänderung hinsichtlich des Bauvolumens und der Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung in ihrer Gesamtheit nicht allein städtebaulichen und sonstigen öffentlichen Belangen dient, sondern eben auch gerade dahingeht, bei Ausschöpfung der größtmöglichen Bebaubarkeit die sich hieraus ergebende Zumutbarkeitsgrenze für die Nachbarschaft festzulegen. Denn es wird, anders als bei der Abwägung der nachbarlichen Interessen, das „Bauvolumen durch Beschränkung auf ein kleines eingeschossiges Einzelhaus möglichst niedrig zu halten“ (vgl. Begründung zum Änderungsplan S. 7), ein Bauvolumen festgesetzt, das weit darüber hinausgeht und in der Gesamtheit der Festsetzungen als noch vertretbar angesehen wird. Damit wird letztlich ein nachbarliches Austauschverhältnis begründet, weil der nachbarliche Interessenkonflikt – über die Einwendungen hinaus – im Änderungs-Bebauungsplan durch Merkmale der Zuordnung und insbesondere der Verträglichkeit geregelt und ausgeglichen wird (vgl. BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – Rn. 15). Die Annahme der nachbarschützenden Wirkung ist vor allem deshalb gerechtfertigt, weil die Bebaungsplanänderung hier nur für ein einzelnes Baugrundstück unter Ausschöpfung nicht nur des städtebaulich, sondern – nach Vorstellung der Plangeberin – gerade auch des nachbarlich zumutbaren größtmöglichen Rahmens, der sich aufgrund der o.g. weiteren Interessenlage ergibt, erfolgt. Durch die Aufhebung der Bebaubarkeit des nördlichen Teils des Baugrundstücks, die „Baulückenqualität“ des zur Bebauung vorgesehenen südlichen Teils des Baugrundstücks und die Hanglage ergibt sich im Zusammenhang mit dem Interesse, dem Grundstückseigentümer zur Vermeidung von Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen eine möglichst intensive Ausnutzung des Grundstücks zu ermöglichen, eine besondere Situation, die über die bloße Abwägung der o.g. nachbarlichen Interessen im Rahmen des § 1 Abs. 7 BauGB hinausreicht und den Ausführungen der Plangeberin in der Begründung des Änderungsbebauungsplans zu den nachbarlichen Belangen unter Berücksichtigung ihrer städtebaulichen und gerade auch der weiteren Interessen an einer größtmöglichen Ausschöpfung des Bauvolumens eine andere Bedeutung zukommen lässt.
Der Annahme einer nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung steht hier auch nicht entgegen, dass sowohl das Grundstück FlNr. … Gemarkung W. des Antragstellers als auch das Grundstück FlNr. … Gemarkung W. beider Antragsteller nicht innerhalb des Geltungsbereichs des Änderungs-Bebauungsplans Nr. 10.8.1 liegen. Auch für einen gebietsübergreifenden Nachbarschutz von Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung ist erforderlich, dass diese nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin diese Funktion haben sollen (vgl. BayVGH, B.v. 1.8.2016 – 15 CS 16.1106 – juris Rn. 17 m.w.N.). Dafür, dass ein solcher gebietsübergreifender Nachbarschutz von der Plangeberin gewollt ist, würde zwar die bloße Orientierung der Plangeberin an der Nachbarbebauung, auch im Falle der Planänderung für nur ein einzelnes Baugrundstück, grundsätzlich nicht ausreichen. Hier hat sich die Plangeberin aber nicht nur an der Umgebungsbebauung orientiert, sondern – wie oben ausgeführt – durch die Festsetzungen die größtmögliche Bebaubarkeit unter Berücksichtigung der nachbarlichen Belange ausgeschöpft und damit den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung eine nachbarschützende Wirkung beigemessen. Aufgrund der Besonderheit, dass hier nicht nur die Antragsteller und früheren Einwendungsführer im Bauleitplan-Änderungsverfahren, sondern sämtliche Nachbarn außerhalb des Änderungs-Plangebiets liegen, führt die nachbarschützende Wirkung der Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung hier zwangsläufig dazu, dass diese sich auf außerhalb des Plangebiets liegende Nachbarn erstreckt, weil ausschließlich solche vorhanden sind.
Im Hinblick darauf, dass die Antragsgegnerin den drittschützenden Charakter der Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung im Änderungs-Bebauungsplan Nr. 10.8.1 verkannt und damit die nachbarlichen Interessen nicht zutreffend gewürdigt hat, führt bereits dieser Fehler zum Erfolg der Klagen. Denn bei nachbarschützenden Festsetzungen führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2020 – 9 CS 20.2172 – juris Rn. 27 m.w.N.; BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris Rn. 5).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 VwGO. Ihre außergerichtlichen Kosten trägt die Beigeladene, die sich nicht geäußert hat, selbst (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben