Baurecht

Erfolgreiches Nachbar-Eilverfahren wegen Abweichung von Abstandsflächen

Aktenzeichen  Au 4 S 19.1926

Datum:
19.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 30307
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3
BauGB § 212a
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 4, Abs. 9 S. 1 Nr. 1, Art. 58, Art. 63

 

Leitsatz

1. Ein Grenzbauwerk ist nur privilegiert, wenn es bei objektiver Würdigung mit Blick auf den Nutzungszweck insgesamt als Garage anzusehen ist. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Zulassung einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften, wie z.B. den Abstandsflächenvorschriften kann der Nachbar nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen, sondern ist auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grund (objektiv) rechtswidrig ist. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Zur Frage der Voraussetzungen für die Zulassung einer Abweichung von Abstandsflächenvorschriften (Rn. 29 – 32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 8.11.2019 gegen die vom Antragsgegner mit Bescheid vom 29.10.2019 für das Bauvorhaben des Beigeladenen, Fl.Nr., Gemarkung, erteilte Abweichung wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage betreffend eine dem Beigeladenen erteilte Abweichung von Abstandsflächenvorschriften.
Die Antragsteller sind Eigentümer des mit einem Wohnanwesen bebauten Grundstücks Fl.Nr., Gemarkung … Unmittelbar westlich grenzt das Vorhabengrundstück Fl.Nr., ebenfalls Gemarkung, an. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans „Mittlere …“ der Stadt, welcher als Art der baulichen Nutzung ein allgemeines Wohngebiet festsetzt. Zur Gestaltung der Gebäude enthält der Bebauungsplan unter anderem die Festsetzung, dass alle Dachformen zugelassen sind und dass die eingetragene Firstrichtung einzuhalten ist.
Mit am 7. August 2019 unterschriebenem Formblatt reichte der Beigeladene über die Stadt … Bauvorlagen für das Vorhaben „Neubau eines Einfamilienhauses mit Doppelgarage“ auf dem Vorhabengrundstück ein. Angekreuzt auf dem Formblatt war, dass die Vorlage im Genehmigungsfreistellungsverfahren nach Art. 58 BayBO erfolge; das Vorhaben halte alle Festsetzungen des einschlägigen Bebauungsplans ein.
Die eingereichten Bauvorlagen sehen im westlichen Bereich des in Nord-Süd-Richtung ausgerichteten Einfamilienhauses einen eingeschossigen Flachdachbau mit Dachterrasse und im östlichen Bereich einen zweigeschossigen Flachdachbau vor. Unmittelbar an der Grenze zum Grundstück der Antragsteller ist auf einer Länge von 8,74 m eine eingeschossige Doppelgarage, ebenfalls mit Flachdach, vorgesehen, welche mit dem Wohnhaus verbunden ist. Der südwestliche Bereich der Garage wird auf einer Länge von ca. 6,80 m und einer Breite von ca. 2,80 m vom Obergeschoss des Wohngebäudes überbaut. In diesem Bereich des Überbaus über der Garage sind Teile eines Flurs sowie Kinderzimmer und ein Abstellraum vorgesehen. Das Obergeschoss des Wohngebäudes wie auch der nicht von der Garage umfasste Teil des Erdgeschosses des Wohngebäudes liegen 3,19 m vom Grundstück der Antragsteller entfernt.
Mit Schreiben vom 30. August 2019 teilte die Stadt … dem Beigeladenen mit, dass eine Baugenehmigung gem. Art. 58 Abs. 1 BayBO nicht erforderlich sei (Genehmigungsfreistellung).
Am 16. Oktober 2019 wandten sich die Antragsteller an das Landratsamt … und teilten mit, dass der Beigeladene mit der Umsetzung des Vorhabens begonnen habe. Sie seien vom Beigeladenen nicht über das Vorhaben informiert worden; dieses habe auch nicht das Freistellungsverfahren durchlaufen dürfen, da es die im Bebauungsplan festgesetzte Firstrichtung nicht einhalte.
Mit Schriftsatz der Antragstellerbevollmächtigten vom 17. Oktober 2019 forderten die Antragsteller das Landratsamt … auf, gegen das Bauvorhaben des Beigeladenen bauaufsichtlich einzuschreiten und den Bau einzustellen. Zur Begründung wurde neben einem erneuten Einwand betreffend die Firstrichtung darauf verwiesen, dass das Vorhaben gegen Abstandsflächenrecht verstoße. Die Garage könne nicht gem. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO abstandsflächenfrei errichtet werden, da Bereiche oberhalb der Garage für das Wohngebäude vorgesehen seien.
Mit Schreiben vom 18. Oktober 2019 wies das Landratsamt … den Beigeladenen darauf hin, dass die Garage funktionell (Verbindungstüre) und statisch mit dem abstandsflächenpflichtigen Wohngebäude verbunden sei. Damit unterfalle sie nicht Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO, sondern müsse Abstandsflächen zum östlichen Grundstück einhalten. Es werde vorgeschlagen, umzuplanen oder einen Antrag auf Abweichung von den Abstandsflächen einzureichen. Bis zur Entscheidung über den Abweichungsantrag dürfe nicht weiter gebaut werden.
Mit Datum 22. Oktober 2019 wurde für den Beigeladenen beim Landratsamt … ein Antrag auf Abweichung von Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO für die Doppelgarage gestellt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Einzelgarage neben dem Wohnhaus ohne direkte Verbindung mit diesem ohne Nachweis einer Abstandsfläche denkbar sei. Die Größe dieser Einzelgarage wäre in Bezug auf die Grundstücksgrenze dieselbe wie bei der Doppelgarage. Der zweite Stellplatz in der Doppelgarage habe keinen Einfluss auf die Nachbarschaft. Dieses Prinzip sei schon mehrfach auf anderen Grundstücken des Bebauungsplangebiets verwirklicht worden. Dem Antrag war ein geänderter Erdgeschossplan beigefügt, welcher keine Tür mehr zwischen Wohnhaus und Garage, sondern eine Tür aus der Garage ins Freie Richtung Westen vorsieht.
Mit Bescheid vom 29. Oktober 2019 erteilte das Landratsamt … dem Beigeladenen eine Abweichung gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO von Art. 6 Abs. 5 und Abs. 6 BayBO für den nicht eingehaltenen Grenzabstand der Doppelgarage nach Osten. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Doppelgarage befinde sich zu einem Teil unter dem Wohngebäude und falle daher nicht unter die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO. Jedoch lägen die Voraussetzungen für die Zulassung einer Abweichung wegen der Unterschreitung des Grenzabstands nach Osten vor. Belichtung und Belüftung gegenüber der Bebauung auf dem Nachbargrundstück würden nicht nachteilig beeinflusst. Aufenthaltsräume bzw. zum Wohnhaus gehörende Räume hielten die erforderlichen Abstandsflächen ein. Die Garage könne planerisch und statisch vom Wohnhaus getrennt werden und sei dann gem. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO zulässig. Äußerlich würde sich, insbesondere in Bezug auf das östlich angrenzende Grundstück, nichts ändern. Auf die Begründung des Abweichungsantrags werde verwiesen.
Die Kläger ließen am 8. November 2019 Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 22. Oktober 2019 erheben, über die noch nicht entschieden ist (Au 4 K 19.1925). Ferner beantragten sie
die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO lägen nicht vor. Es fehle an der erforderlichen Atypik; an diesem Erfordernis sei auch angesichts Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO festzuhalten. Zudem seien die betroffenen Belange mangelhaft gewürdigt worden. Wegen der Nutzung des über der Garage liegenden Raums zu Wohnzwecken entfalle die abstandsflächenrechtliche Privilegierung für die Garage insgesamt. Daher lägen die Abstandsflächen der Garage insgesamt auf dem Grundstück der Antragsteller. Es komme also nicht nur darauf an, ob eine direkte Verbindung zwischen Garage und Wohnhaus bestehe. Die eindeutige Wertung, dass die gesetzgeberische Privilegierung hier nicht greife, könne nicht durch Erteilung einer Abweichung ins Gegenteil verkehrt werden. Die Erwägungen im Bescheid, dass Wohnhaus und Garage statisch und planerisch voneinander getrennt werden könnten, seien sachfremd. Eine abstandsflächenrechtliche Privilegierung der Garage scheide auch dann aus. Gerade durch das Einrücken der Garage in das Wohngebäude entstehe ein massives Vorhaben, welches nachbarliche Belange unzumutbar beeinträchtige. Auch seien die privaten und öffentlichen Belange, die für und gegen eine Abweichung sprächen, nicht ermittelt oder gewürdigt worden. Zudem sei die erteilte Abweichung auch zu unbestimmt, weil es an einem aktuellen und prüffähigen Abstandsflächenplan fehle.
Der Antragsgegner beantragte mit Schreiben vom 13. November 2019,
den Antrag abzulehnen.
Die erteilte Abweichung sei rechtmäßig. Nach der Begründung zur Novelle der BayBO sei für eine Abweichung vom Abstandsflächenrecht gem. Art. 63 BayBO keine Atypik mehr erforderlich. Die Doppelgarage könne statisch und planerisch von dem Wohnhaus getrennt werden und sei dann gem. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO zulässig. So könne die Garage erst nachträglich in das Wohnhaus hineingeschoben werden, oder sie könne in zwei Einzelgaragen unterteilt werden. In Bezug auf Belichtung und Belüftung ändere sich für das antragstellerische Grundstück nichts. Das Wohngebäude selbst halte die nötigen Abstandsflächen zum Grundstück der Antragsteller ein. Der Abweichungsantrag sei auch bestimmt genug gewesen. Bei der grenzständigen Doppelgarage erfolge die Reduzierung der erforderlichen Abstandsflächen auf 0 H. Ergänzend sei zu bemerken, dass das Vorhaben des Beigeladenen, anders als die Antragsteller geltend machten, die Festsetzungen des Bebauungsplans einhalte. Da zulässigerweise ein Flachdach vorgesehen sei, sei auch mangels First keine Firstrichtung einzuhalten. Zudem sei die Festsetzung zur Firstrichtung gestalterischer Natur und damit nicht nachbarschützend. Auch die Baugrenzen und die Festsetzungen zur GRZ würden durch das Vorhaben eingehalten. Einen Anspruch auf Einhaltung des richtigen Genehmigungsverfahrens gebe es nicht.
Der Beigeladene äußerte sich bisher im Klage- oder Antragsverfahren in der Sache nicht.
Mit Beschluss vom 13. November 2019 ordnete die Kammer die aufschiebende Wirkung der Klage einstweilen bis zur Entscheidung über den Antrag nach §§ 80a, 80 Abs. 5 VwGO an.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Gerichts- und die Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der gem. §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO gestellte Antrag ist zulässig und begründet.
Der Antrag ist statthaft. Die Klage gegen die mit Bescheid vom 29. Oktober 2019 dem Beigeladenen erteilte Befreiung entfaltet i.S.d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO angesichts § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung. Unter den Begriff der „bauaufsichtlichen Zulassung“ im Sinne dieser Norm fällt auch eine dem Bauherrn erteilte Befreiung, wenn das Vorhaben – wie hier – im Genehmigungsfreistellungsverfahren durchgeführt werden soll und deshalb keine Baugenehmigung erteilt wurde (vgl. Kalb/Külpmann, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 212a Rn. 24a m.w.N.).
Der Antrag ist auch begründet. Im Rahmen eines Antrags gemäß § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung darüber zu treffen, welche Interessen höher zu bewerten sind – die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streitenden. Dabei stehen sich das Suspensivinteresse des Nachbarn und das Interesse des Bauherrn, von der Baugenehmigung sofort Gebrauch zu machen, grundsätzlich gleichwertig gegenüber. Im Rahmen einer Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches Indiz zu berücksichtigen. Fällt die Erfolgsprognose zugunsten des Nachbarn aus, erweist sich die angefochtene bauaufsichtliche Zulassung also bereits bei summarischer Prüfung gegenüber den Nachbarn als rechtswidrig, so ist die Vollziehung der Genehmigung regelmäßig auszusetzen (vgl. BayVGH, B.v. 12.4.1991 – 1 CS 91.439 – juris). So liegen die Dinge hier. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage verletzt die mit der Klage angegriffene Befreiung von Abstandsflächenvorschriften die Antragsteller voraussichtlich in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die auf einer Länge von 8,74 m (vgl. Planinhalt Erdgeschoss) grenzständig zum Grundstück der Antragsteller vorgesehene östliche Außenwand der Doppelgarage des Wohnbauvorhabens ist nicht gem. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO ohne eigene Abstandsflächen zulässig, so dass insoweit die Erteilung einer Abweichung erforderlich ist. Hiervon geht auch der streitgegenständliche Bescheid aus. Im westlichen Bereich der Garage ist im Obergeschoss ein Überbau durch das Wohngebäude vorgesehen; die dort vorgesehenen Räume dienen dem Wohnen (Flur; Zimmer; Abstellraum) und sind nicht der darunterliegenden Garage zugeordnet. Die Garage ist damit teilweise in das Hauptgebäude integriert und bei objektiver Betrachtung unmittelbarer Teil desselben. Dies gilt unabhängig davon, ob Türen der Garage ins Wohnhaus oder ins Freie führen. Auch statisch ruhen die Räumlichkeiten im Obergeschoss offenkundig auf den darunter liegenden Garagenräumlichkeiten.
Eine Garage verliert aber ihre gesetzliche Privilegierung als an der Grenze zulässiges Bauwerk, wenn ihr „Nebenraum“ funktional nicht der Garagennutzung zugeordnet ist; dies kann auch dann der Fall sein, wenn es sich – wie hier – bei Räumlichkeiten im Obergeschoss um einen Teil des Hauptgebäudes handelt (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2015 – 15 B 15.1371 – juris Rn. 9). Ein Dachbodenraum über einer Grenzgarage darf nicht Teil des Hauptgebäudes sein (vgl. VG München, 24.2.2014 – M 8 K 13.922 – juris Rn. 21 m.w.N.). An dem Entfallen der Privilegierung gem. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO ändert sich nichts dadurch, dass – wie hier offenbar in Anwendung von Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO („16m-Privileg“) vorgesehen – der Raum oberhalb der Garage in einem Abstand von 3 m zum Nachbargrundstück errichtet werden soll. Ein Grenzbauwerk ist nur privilegiert, wenn es bei objektiver Würdigung mit Blick auf den Nutzungszweck insgesamt als Garage anzusehen ist. Dies ist hier nicht der Fall, weil angesichts der baulichen Integration der Doppelgarage in das Hauptgebäude und durch den Überbau der Garage im Obergeschoss durch zum Wohnen geeignete, also nicht der Garage zugeordnete Räume und Flächen, nicht von einem eigenständigen Grenzbauwerk „Garage“ ausgegangen werden kann. Damit handelt es sich bei dem Grenzanbau insgesamt nicht um eine Garage im Sinn des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO, so dass der Abstand des dem Wohnhaus zugeordneten Teils des Dachraums zur Grundstücksgrenze insoweit keine Bedeutung hat (vgl. BayVGH, B.v. 21.11.2006 – 15 CS 06.2862 – juris Rn. 13 m.w.N.). Die Privilegierung gem. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO ist auch dann nicht gegeben, wenn der über das nicht-privilegierte Gebäude zugängliche Raum z. B. durch eine geschlossene Abmauerung so abgetrennt errichtet wird, dass er die für das Hauptgebäude vorgeschriebene Abstandsfläche einhält. Denn durch den Raum, der funktionell dem nicht-privilegierten Gebäude zugerechnet ist, wird die Privilegierung nach Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 beseitigt (Dhom/Franz/Rauscher, in: Simon/Busse, BayBO, Art. 6 Rn. 537). Auch im Bereich der Außenwand der Garage wäre damit ein Grenzabstand von mindestens 3 m einzuhalten gewesen (Art. 6 Abs. 5 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 BayBO).
Die danach erforderliche Befreiung von Abstandsflächenvorschriften ist dem Beigeladenen durch den streitgegenständlichen Bescheid voraussichtlich zu Unrecht erteilt worden.
Bei der Zulassung einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften, wie hier den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO, kann der Nachbar nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen, sondern ist auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grund (objektiv) rechtswidrig ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris Rn. 4 m.w.N.). Eine solche Rechtswidrigkeit der erteilten Befreiung liegt hier voraussichtlich vor.
In der bisherigen Rechtsprechung ist für die Zulassung einer Abweichung von Abstandsflächenvorschriften eine atypische Fallgestaltung bzw. Situation gefordert worden. Die Zulassung einer Abweichung erforderte danach Gründe, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen. Es musste sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln (vgl. etwa BayVGH, U.v. 9.11.2017 – 2 B 17.1742 – juris Rn 21 m.w.N.). Eine solche „Atypik“ kann sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern ergeben; auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren konnte zu einer Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung führen (vgl. zusammenfassend BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 16 m.w.N.). Für eine solch atypische Fallgestaltung ist hier jedoch weder etwas vorgetragen noch ersichtlich. Schon deshalb lägen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung hier nicht vor und wäre diese zu Lasten der Antragsteller rechtswidrig.
Zum 1. September 2018 wurde jedoch Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO eingefügt, wonach Art. 63 BayBO unberührt bleibe (§ 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10. Juli 2018, GVBl. S. 523). Nach der Gesetzesbegründung (LT-Drs. 17/21574, S. 13) soll damit ausdrücklich klargestellt werden, dass die tatbestandliche Voraussetzungen einer Abweichung von Vorgaben des Abstandsflächenrechts ausschließlich in Art. 63 geregelt sind. Das Gesetz fordere nicht die von der Rechtsprechung verlangte Atypik.
Ob jedoch ein etwa vorhandener Wille des Gesetzgebers, dass eine Atypik bei der Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen generell nicht mehr zu prüfen sein soll, im Wortlaut des neuen Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO einen (hinreichenden) Niederschlag gefunden hat, wird in der Rechtsprechung bislang uneinheitlich beurteilt (keine Änderung der Rechtslage bzw. Beschränkung auf die in der Gesetzesbegründung genannten Fälle: VG München, U.v. 24.7.2019 – M 9 K 18.5334 – juris Rn. 27 ff.; offen gelassen: VG Würzburg, B.v. 13.11.2018 – W 5 S 18.1260 – juris Rn. 49; ohne Problemdiskussion weiterhin vom Erfordernis einer Atypik ausgehend VG Ansbach, U.v. 12.9.2019 – AN 3 K 18.01948 – juris Rn. 112; mit der Gesetzesbegründung das Erfordernis einer Atypik nunmehr verneinend VG Augsburg, U.v. 11.7.2019 – Au 5 K 19.54 – juris Rn. 35, U.v. 1.8.2019 – Au 5 K 19.84 – juris Rn. 38). Auch in der Literatur wird kritisch angemerkt, dass eine vom Wortlaut her eindeutige Regelung, wonach Abweichungen von Abstandsflächenvorschriften keine Atypik verlangen, dem neuen Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO nicht entnommen werden könne (Weinmann, in: BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, Art. 63 BayBO, Rn. 42). Diesen kritischen Stimmen ist zumindest zuzugeben, dass sich die Voraussetzungen für die Erteilung von Abstandsflächenvorschriften schon bisher unstreitig nach Art. 63 BayBO richteten und die Frage einer Atypik Teil der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO war: Jede Abweichung von den Anforderungen des Art. 6 BayBO hat zur Folge, dass die Ziele des Abstandsflächenrechts nur unvollkommen verwirklicht werden können, so dass die Zulassung einer Abweichung Gründe von ausreichendem Gewicht voraussetzt, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Belüftung im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen (vgl. etwa BayVGH, B.v. 4.12.2017 – 2 CS 17.1969 – juris Rn. 4). Insofern erscheint in der Tat zumindest nicht eindeutig, ob Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO mit seinem Verweis auf Art. 63 BayBO zu der nach der Gesetzesbegründung wohl gewollten Änderung der Rechtslage geführt hat. Dies gilt umso mehr, als seitens beteiligter Kreise noch vor förmlicher Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens darauf hingewiesen wurde, dass der geplante Wortlaut womöglich nicht geeignet, sei, die Intentionen der Gesetzesänderung umzusetzen (Bayerische Architektenkammer, Stellungnahme vom 21.2.2018, S. 3, abrufbar unter https://wwwbyak.de/data/ pdfs/Recht/ Stellungnahmen/180221_Stellungnahme_BayBO_ ByAK. pdf). Trotz dieser Bedenken hat der Gesetzgeber offenbar an dem zumindest Fragen aufwerfenden Wortlaut der Neuregelung festgehalten.
Das vorliegende Eilverfahren ist nicht dazu geeignet, diese strittige Rechtsfrage einer Klärung zuzuführen. Im Rahmen der vorliegend gebotenen Interessenabwägung ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber, wollte man das Erfordernis einer Atypik angesichts Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO nunmehr für entbehrlich halten, die Rechtslage zu Lasten des von einer Abstandsflächenunterschreitung betroffenen Nachbarn geändert hätte. Andererseits ist im vorliegenden Fall nicht erkennbar, dass das Vorhaben auf den Verzicht des Erfordernisses einer Atypik angewiesen wäre. Dies spricht für das vorliegende Eilverfahren dafür, die durch Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO entstandene Rechtsunsicherheit derzeit zu Gunsten der Antragsteller zu werten: Da nicht hinreichend geklärt ist, ob sie in Folge einer Gesetzesänderung die erleichterte Erteilung von Abweichungen betreffend Abstandsflächenvorschriften hinzunehmen haben, wiegt ihr Aufschubinteresse gegen die dem Beigeladenen erteilte Abweichung schwerer als dessen Vollzugsinteresse.
Selbst wenn vorliegend indes auf das Erfordernis einer Atypik verzichtet würde, lägen wohl die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung gem. Art. 63 Abs. 1 Satz 4 BayBO i.V.m. Art. 63 Abs. 1 BayBO nicht vor. Gem. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO können Abweichungen zugelassen werden, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar sind. Bei der Gewichtung der nachbarlichen Belange ist zu bedenken, dass diesen Interessen schon deshalb ein gewisser Vorrang zukommt, weil sie auf einem Interessenausgleich beruhen, den der Gesetzgeber im Regelfall für sachgerecht angesehen hat. Für die Erteilung einer Abweichung genügt auch nicht, dass die Belange des Nachbarn nur geringfügig beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung nachbarlicher Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (Dhom/Simon, in: Simon/Busse, BayBO, Art. 63 Rn. 33, Rn. 46).
Hiervon ausgehend ergibt sich summarisch geprüft hier folgendes: Die erteilte Abweichung führt dazu, dass die Antragsteller auf eine Länge von 8,74 m eine Grenzbebauung in einer Höhe von annähernd 3 m hinzunehmen haben, ohne dass es sich hierbei um eine gem. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO privilegierte Grenzgarage handelt. Durch die Reduzierung des Abstands auf „Null“ über eine Länge von annähernd 9 m wird auf einer durchaus erheblichen Länge die maximal mögliche Unterschreitung des regelmäßig einzuhaltenden Mindestabstands von 3 m (Art. 6 Abs. 5 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 BayBO) erzielt. Gewichtige Gründe des Bauherrn für eine solche Grenzbebauung werden weder vom Antragsgegner noch vom Beigeladenen im Abweichungsantrag genannt; vielmehr wird der Sache nach darauf abgestellt, dass sich für das Grundstück der Antragsteller im Vergleich zur zulässigen Errichtung einer Grenzgarage nichts ändere. Die Überlegungen führen hier jedoch nicht weiter. Würde diese Argumentation entscheidend herangezogen, spielten die von der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien, in welchem Umfang eine „Garage“ abstandsflächenrechtlich gem. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO privilegiert ist, in Folge der Erteilung einer Abweichung, wie vorliegend geschehen, regelmäßig keine Rolle mehr. Für eine Würdigung der gegenläufigen Interessen, wie auch und gerade gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO i.V.m. Art. 63 BayBO verlangt, bliebe kaum noch Raum. Denn bei einem Aufbau über einer Garage, der seinerseits den nötigen Grenzabstand einhielte, könnte regelmäßig argumentiert werden, dass der Nachbar nicht schlechter gestellt wäre, als würden Hauptgebäude und Garage separat errichtet. Im Übrigen berücksichtigt die Erteilung einer Abweichung nicht, dass die Privilegierung als Grenzgarage insgesamt entfällt; eine Würdigung der Interessen im Vergleich zur Situation einer zulässigen Grenzgarage erscheint daher nicht sachgerecht. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Gesetzgeber in Art. 6 Abs. 9 BayBO bereits die gegenläufigen nachbarlichen Interessen hinsichtlich des Umfangs der Zulässigkeit einer Grenzbebauung zu einem Ausgleich gebracht hat und dass die Begriffe des Art. 6 Abs. 9 einer engen Auslegung bedürfen, um den Zielen des Abstandsflächenrechts gerecht zu werden (vgl. Dhom/Franz/Rauscher, in: Simon /Busse, BayBO, Art. 6 Rn. 484). Auch insoweit erscheint es nicht sachgerecht, die nachbarlichen Interessen regelmäßig durch Zulassung einer Abweichung für ein Gebäude, welches seinerseits nicht die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 9 BayBO erfüllt, mit der Begründung zurückzustellen, die Beeinträchtigung sei nicht geringer, als wenn zulässiger Weise eine Grenzgarage gem. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO errichtet würde.
Auch die Überlegungen des Antragsgegners im Abweichungsbescheid sowie in der Antragserwiderung betreffend eine mögliche planerische, statische oder zeitliche Trennung von Garage und Wohngebäude führen nicht weiter. Solche Alternativplanungen sind nicht verfahrensgegenständlich und wurden vom Beigeladenen in seinem Abweichungsantrag auch nicht genannt. Eine bloß scheinbare Trennung von Garage und Wohngebäude dürfte ohnehin eine Abweichung nicht entbehrlich machen, weil es auf eine objektive Würdigung der Gegebenheiten ankommt. Die Abstandsflächenregelungen bzw. die Vorgaben des Art. 6 Abs. 9 BayBO betreffend zulässige Grenzgaragen dürften auch nicht dadurch umgangen werden können, dass eine augenscheinlich geplante Doppelgarage pro forma in zwei Einzelgaragen aufgeteilt würde.
Zu berücksichtigen ist schließlich, dass der Beigeladene, sollte eine separat vom Wohngebäude zu errichtende Doppelgarage weiterhin gewünscht sein, den Hauskörper entsprechend vom Grundstück der Antragsteller weg verschieben müsste. Im Falle der grenzständigen Errichtung einer Einzelgarage bei gleichem Abstand des Wohngebäudes zur Grundstücksgrenze stünde dem Beigeladenen jedenfalls an der entsprechenden Stelle weniger Garagenraum zur Verfügung und müsste Raum für einen weiteren Kfz-Stellplatz an anderer Stelle auf dem Baugrundstück gefunden werden. Insofern wäre die im Rahmen des Art. 63 Abs. 1 BayBO vorzunehmende Interessenabwägung nicht von identischen Gesichtspunkten geprägt, würde der Beigeladene die Vorgaben des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO einhalten.
Dem Antrag war damit mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO zu entsprechen. Da der Beigeladene sich mangels Antragstellung keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1, Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Hinsichtlich des Umfangs der vorliegend getroffenen Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage sieht sich die Kammer zu folgenden Hinweisen veranlasst: Die aufschiebende Wirkung betrifft lediglich die mit Bescheid vom 29. Oktober 2019 erteilte Abweichung und damit die Zulässigkeit einer Grenzbebauung durch die in den Plänen ausgewiesene Doppelgarage. Mangels erteilter und damit angefochtener Baugenehmigung kann sich dieser Beschluss nicht auf das Bauvorhaben insgesamt erstrecken. Unerheblich ist insoweit, ob das Vorhaben zu Recht im Genehmigungsfreistellungsverfahren behandelt und keine Baugenehmigung, sondern nur die hier streitgegenständliche Abweichung erteilt wurde. Der Einzelne kann zwar verlangen, dass seine materiellen Rechte gewahrt werden, er hat jedoch keinen Anspruch darauf, dass dies in einem bestimmten Verfahren geschieht (vgl. BayVGH, U.v. 19.5.2011 – 2 B 11.397 juris Rn. 19; VG Würzburg, U.v. 6.3.2014 – W 5 K 13.1017 – juris Rn. 24).


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