Baurecht

Gebietsübergreifender Anspruch auf Erhalt des Gebietscharakters – Rücksichtnahmegebot bei Verminderung der Besonnung

Aktenzeichen  1 CS 19.2392

Datum:
7.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 2712
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 1
VwGO § 80 Abs. 5, § 113 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 4 S. 6, § 152 Abs. 1, § 162 Abs. 3
BayBO Art. 59 S. 1

 

Leitsatz

Ein Gebietsprägungserhaltungsanspruch scheidet aus, wenn das Baugrundstück im unbeplanten Innenbereich liegt, während sich das Nachbargrundstück im Geltungsbereich eines Bebauungsplans befindet. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 11 SN 19.3570 2019-11-11 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich als Nachbarn gegen den Anbau von zwei Reihenhäusern an ein bestehendes Wohngebäude auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung K…, S…straße … (im Folgenden: Baugrundstück). Sie sind Eigentümer des an das Baugrundstück im Norden unmittelbar angrenzenden Grundstücks FlNr. …, Gemarkung K…, K…weg … (im Folgenden: Nachbargrundstück), das mit einem Wohnhaus bebaut ist.
Die Antragsteller erhoben gegen die Baugenehmigung vom 10. Mai 2019 und die Tekturgenehmigung vom 11. Oktober 2019 Klage zum Verwaltungsgericht, über die noch nicht entschieden ist und stellten einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Das Verwaltungsgericht hat diesen Antrag mit Beschluss vom 11. November 2019 abgelehnt. Die Baugenehmigung verletze voraussichtlich keine Nachbarrechte der Antragsteller, insbesondere bestehe kein Gebietserhaltungsanspruch. Das Nachbargrundstück liege in einem anderen Baugebiet als das Baugrundstück, ein baugebietsübergreifender Gebietserhaltungsanspruch bestehe nicht. Auch könne nicht angenommen werden, dass aufgrund der Quantität des Vorhabens mit insgesamt drei Wohneinheiten ausnahmsweise eine abweichende Qualität der Nutzung vorliege. Das Maß der Nutzung sei nicht nachbarschützend und eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots infolge einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Besonnung und Belüftung bestehe angesichts der Einhaltung der Abstandsflächenvorschriften nicht.
Die Antragsteller beantragen,
Unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 11. November 2019 wird die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Baugenehmigungsbescheid des Antragsgegners vom 10. Mai 2019 sowie den Tekturbescheid vom 11. Oktober 2019 angeordnet.
Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht darauf abgestellt, dass auf den Grundstücken FlNr. …, … und … ein Dreispänner vergleichbarer Größe vorhanden sei. Dieser halte eine Abstandsfläche von 10 m zur Grundstücksgrenze ein und wirke nicht nachteilig für die Belichtung der nördlich angrenzenden Grundstücke, weshalb er nicht als Bezugsfall herangezogen werden könne. Aus der Zusammenschau der Höhe des beabsichtigten Vorhabens und der geringen Abstandsflächen ergebe sich eine nicht unerhebliche Verschlechterung der Besonnungssituation für das Nachbargrundstück. Das Verwaltungsgericht habe den Gebietsprägungsanspruch nicht berücksichtigt. Auf Grund der Dimensionierung der Anlage werde eine neue Art der baulichen Nutzung in das Wohngebiet hineingetragen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Eine Verletzung eines Gebietsprägungsanspruchs dergestalt, dass ausnahmsweise Quantität in Qualität umschlagen könne, liege ersichtlich nicht vor. Das Bauvorhaben füge sich hinsichtlich seiner Firsthöhe in den Rahmen der näheren Umgebung ein. Das Gebäude der Antragsteller habe eine vergleichbare Firsthöhe von 9,70 m und weitere benachbarte Gebäude eine ähnliche Höhenentwicklung. Ein Widerspruch zur Eigenart der näheren Umgebung sei deshalb nicht zu erkennen. Die von den Antragstellern befürchtete Reduzierung der Besonnung in den Wintermonaten beziehe sich auf eine Betrachtung der Firsthöhe und lasse außer Acht, dass das Gebäude nur eine Breite von 9,0 m aufweise und die Dachschräge sowie die Wanderung der Sonne im Jahresmittel nur zu einer geringeren Verminderung der Besonnung führe.
Zum weiteren Vorbringen der Parteien und zu den übrigen Einzelheiten wird auf die beigezogenen Behördenakten sowie die Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
Die im Beschwerdeverfahren innerhalb der gesetzlichen Begründungsfrist dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), geben keine Veranlassung, die angegriffene Entscheidung zu ändern. Dem Beschwerdevorbringen ist nach summarischer Prüfung nicht zu entnehmen, dass die im vereinfachten Verfahren erteilte Baugenehmigung gegen Vorschriften verstößt, die in diesem Verfahren nach Art. 59 Satz 1 BayBO zu prüfen waren und die nicht nur dem Schutz der Interessen der Allgemeinheit, sondern auch dem Schutz der Interessen der Antragsteller als Grundstücksnachbarn dienen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Soweit die Antragsteller einen aus § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO abgeleiteten Anspruch auf Wahrung der typischen Prägung des Gebiets (Gebietsprägungsanspruch) geltend machen, bleibt die Beschwerde ohne Erfolg. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sind die in den §§ 2 bis 14 aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Hieraus wird unter Bezug auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Mai 2002 (4 B 86.01 – NVwZ 2002, 1384) teilweise ein „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ abgeleitet. Danach soll ein Vorhaben, das im konkreten Baugebiet hinsichtlich der Nutzungsart an sich entweder allgemein oder ausnahmsweise zulässig ist, gleichwohl als gebietsunverträglich vom Nachbarn im (auch faktischen) Plangebiet abgewehrt werden können, wenn es der allgemeinen Zweckbestimmung des maßgeblichen Baugebietstyps widerspricht, wenn es also – bezogen auf den Gebietscharakter des Baugebietes, in dem es verwirklicht werden soll – aufgrund seiner typischen Nutzungsweise störend wirkt und deswegen gebietsunverträglich ist (vgl. zum Streitstand: BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – juris Rn. 9). Ein solcher Anspruch scheidet hier schon deshalb aus, weil das Baugrundstück im unbeplanten Innenbereich liegt, während sich das Nachbargrundstück im Geltungsbereich eines Bebauungsplans befindet. Ein gebietsübergreifender Anspruch auf Schutz vor gebietsfremden Nutzungen besteht nicht (vgl. BVerwG, B.v. 10.1.2013 – 4 B 48.12 – BauR 2013, 934). Dies gilt auch für den geltend gemachten Anspruch auf Wahrung der typischen Prägung des Gebiets.
Im Übrigen gehen sämtliche Beteiligte davon aus, dass die Umgebung durch Wohngebäude geprägt wird, weshalb die geplante Wohnnutzung der gebietstypischen Prägung „Wohnen“ nicht widerspricht. Für das von den Antragstellern geltend gemachte Umschlagen von „Quantität in Qualität“ gibt es keine Anhaltspunkte. Ein Widerspruch der hinzukommenden baulichen Anlage oder deren Nutzung drängt sich bei objektiver Betrachtung nicht offensichtlich auf. Die Größe des geplanten Baukörpers ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO, der hier über § 34 Abs. 2 BauGB Anwendung findet, stellt nicht auf das Maß der baulichen Nutzung ab, sondern betrifft allein die Art der Nutzung (vgl. BVerwG, U.v. 16.3.1995 – 4 C 3.94 – BauR 1995, 508; BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 9 CS 19.1767 – juris Rn. 15). Auch dient die Frage, ob sich das Bauvorhaben nach dem Maß der baulichen Nutzung einfügt, grundsätzlich nicht dem Nachbarschutz. Auch hiervon ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen (vgl. BA S. 8 Rn. 28; BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – NVwZ 1996, 170; BayVGH, B.v. 13.3.2014 – 15 ZB 13.1017 – juris Rn. 7). Auf die Situierung und Dimensionierung des Dreispänners auf FlNr. …, … und … kommt es nicht entscheidungserheblich an.
2. Das Bauvorhaben verstößt aufgrund seiner Lage und Baukörpergröße voraussichtlich auch nicht gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hängen die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Dabei ist darauf abzustellen, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – NVwZ 2005, 328).
Gemessen an diesen Grundsätzen können die Antragsteller nicht mit Erfolg geltend machen, dass das Gebot der Rücksichtnahme wegen einer erheblichen Beeinträchtigung der Belichtung und Besonnung ihres Grundstücks verletzt ist. Zunächst ist festzustellen, dass das Gebäude der Antragsteller (Firsthöhe ca. 9,70 m) eine ähnliche Höhenentwicklung aufweist wie der geplante Baukörper (Firsthöhe ca. 9,80 m). Aufgrund dieser Größenverhältnisse ist für die Annahme einer abriegelnden bzw. erdrückenden Wirkung des genehmigten Baukörpers kein Raum (vgl. BayVGH, B.v. 1.3.2018 – 1 CS 17.2539 – juris Rn. 6; B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 9). Eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Besonnung scheidet zudem in aller Regel aus, wenn – wie hier nach den Angaben des genehmigten Plans – die gesetzlich vorgeschriebenen Abstandsflächen eingehalten werden (vgl. BayVGH, B.v. 15.2.2017 – 1 CS 16.2396 – juris Rn. 10; B.v. 11.2.2019 – 1 ZB 16.1046 – juris Rn. 7). Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Belichtung und Besonnung verschont zu bleiben (vgl. BayVGH, B.v. 6.2.2019 – 1 CS 18.2514 – juris Rn. 10). Die Antragsteller machen keine Umstände geltend, auf Grund derer im vorliegenden Fall ausnahmsweise trotz der Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen eine rücksichtslose Situation entstehen könnte. Vielmehr bewirkt die Lage des geplanten Bauvorhabens unmittelbar im Süden des Nachbargrundstücks, dass wegen des dortigen Sonnenhöchststandes im Vergleich zu anderen Himmelsrichtungen eine geringere Verschattung eintritt. Zudem beträgt die Breite der dem Nachbargrundstück zugewandten Giebelseite lediglich 9 m, bei einer Gesamtgrundstücksbreite von ca. 22 m. Der von den Antragstellern in den Vordergrund gestellte Firstbereich des Vorhabens ist angesichts der sich aus der Dachneigung von 49° ergebenden erheblichen Dachschrägen zudem nur kurzzeitig geeignet, eine Verschattung auf dem Nachbargrundstück zu bewirken.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner, weil ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2, § 159 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dass der Beigeladene seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da er sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben