Baurecht

Nachbarklage, Errichtung eines Lager-/Abstellraums auf eine Grenzgarage ohne innere Verbindung der Räumlichkeiten, abstandsflächenrechtliche Gesamtbetrachtung

Aktenzeichen  M 11 K 20.244

Datum:
12.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 26827
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Baugenehmigung des Landratsamts … … vom 18. Dezember 2019 (Az. … …) wird aufgehoben.
II. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst. Im Übrigen tragen der Beigeladene und der Beklagte die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Die Klage ist zulässig und begründet.
Die angefochtene Baugenehmigung vom 18. Dezember 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zu berücksichtigen ist, dass im Rahmen einer Nachbarklage eine Aufhebung der Baugenehmigung nicht allein wegen objektiver Rechtswidrigkeit in Betracht kommt, sondern nur, wenn dritt- oder nachbarschützende Normen verletzt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Die Prüfung hat sich vielmehr darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, verletzt sind (zur sog. Schutznormtheorie vgl. etwa Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 42, Rn. 89 ff.).
Vorliegend verletzt die erteilte Baugenehmigung Vorschriften des Abstandsflächenrechts, welchen grundsätzlich drittschützende Wirkung zukommt (vgl. Kraus in Busse/Kraus, BayBO, 141. EL Stand März 2021, Art. 6, Rn. 14 f.). Der Klägerin ist es zudem nicht verwehrt, sich hierauf zu berufen.
1.1 Das Vorhaben hält die gesetzlich vorgeschriebenen Abstandsflächen zum Grundstück der Klägerin nicht ein. Denn die Beklagtenseite hat insoweit verkannt, dass nicht nur die beantragte Aufstockung des Garagengebäudes, sondern der entstehende Baukörper insgesamt abstandsflächenrechtlich neu zu beurteilen ist (sog. abstandsflächenrechtliche Gesamtbetrachtung).
Für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage ist entsprechend der allgemeinen verwaltungsprozessualen Grundsätze auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen (vgl. Dirnberger in Busse/Kraus, a.a.O., Art. 66, Rn. 590 ff.). Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Rechtsänderungen werden nur berücksichtigt, wenn sie sich zugunsten des Bauherrn auswirken (BVerwG, B.v. 23.4.1998 – 4 B 40/98 – NVwZ 1998, 1179). Nachträgliche Änderungen der Rechtslage zugunsten der Nachbarn können hingegen nicht berücksichtigt werden, da der Bauherr mit dem Wirksamwerden der Baugenehmigung bereits eine gesicherte Rechtsposition innehat (vgl. Dirnberger, a.a.O., Rn. 592). Die zum 1. Februar 2021 in Kraft getretenen Änderungen des Art. 6 BayBO durch das Gesetz vom 23. Dezember 2020 (GVBl. 2020, 663) finden im vorliegenden Fall daher nur Anwendung, sofern sich aus ihnen eine für den Beigeladenen günstigere Rechtsposition ergibt, weil er mit der Zustellung des streitgegenständlichen Bescheids bereits eine gesicherte Rechtsposition erlangt hat. Vorliegend hält das genehmigte Vorhaben die erforderlichen Abstandsflächen sowohl nach den Regelungen des Art. 6 BayBO in der bis zum 31. Januar 2021 geltenden Fassung, als auch nach aktueller Rechtslage nicht ein.
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs lösen bauliche Änderungen eines Gebäudes eine abstandflächenrechtliche Neubeurteilung des Gesamtgebäudes aus, wenn sich im Vergleich zum bisherigen Zustand spürbare nachteilige Auswirkungen auf die von diesen Änderungen betroffenen Nachbargrundstücke hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange ergeben können. Ob eine bauliche Veränderung oder auch eine Nutzungsänderung den bisherigen Interessenausgleich in Frage stellt und die Situation nicht unerheblich verschlechtert, bemisst sich dabei nach den mit der gesetzlichen Abstandsflächenregelung verfolgten Zielen. Maßgeblich ist, ob eine (mehr als nur geringfügig) ungünstigere Beurteilung insbesondere auch unter dem Blickwinkel nachbarlicher Interessen als zumindest möglich erscheint (vgl. grundlegend: BayVGH, U.v. 20.2.1990 – 14 B 88.02464 – juris Rn. 20 ff.; BayVGH, B.v. 24.3.2017 – 15 B 16.1009 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 21.2.2018 – 15 CS 17.2569 – juris Rn. 10; BayVGH, U.v. 11.11.2014 – 15 B 12.2672 – juris Rn. 35; BayVGH, U.v. 8.11.1990 – 2 B 89.339 – BeckRS 1990, 8661 – jew. m.w.N. zur Rspr; Kraus in Busse/Kraus, a.a.O, Art. 6, Rn. 26 ff.). Rechte des oder der jeweiligen Nachbarn werden in solchen Fällen aber nur dann verletzt, wenn die bauliche Änderung – wie vorliegend der Fall – die dem jeweiligen Nachbargrundstück zugewandte Außenwand betrifft und diese infolge der Gesamtbetrachtung die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhält (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2017, a.a.O.).
Daran gemessen wirft die geplante Aufstockung die Frage der abstandsflächenrechtlichen Zulässigkeit des gesamten Gebäudes auf.
Der (Gesamt-)Baukörper liegt nach der Bestandsdarstellung des Grundrissplans bei einer Messung mit dem Lineal etwa 0,9 m von der Südwest-Ecke des klägerischen Grundstücks entfernt und unterschreitet damit sehr deutlich den sowohl nach bisheriger als auch nach aktueller Rechtslage zu beachtenden gesetzlichen Mindestabstand von 3 m (Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO n.F. = a.F.), der allenfalls an der Nordost-Ecke des Garagengebäudes eingehalten wird. Von der Unterschreitung des Mindestabstands betroffen ist damit nahezu der gesamte Bereich der gemeinsamen Grundstücksgrenze der Fl.Nrn. … und … auf einer Länge von etwa 11,5 m. Ob das Bestandsgebäude – welches auch ohne Berücksichtigung des Carports unstrittig länger als 9 m ist und somit nicht die Privilegierungsvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO a.F. = Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 n.F.) erfüllt – in der Vergangenheit legal errichtet wurde, kann im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung dahinstehen. Denn bei dem Vorhaben handelt es sich um eine ganz erhebliche Änderung des Bestandsgebäudes, mit der das bislang erdgeschossige Flachdachgebäude ein weiteres Vollgeschoss mit Satteldach erhält. Selbst die isolierte Neuerrichtung eines Satteldachs wäre demgegenüber nach den Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in seiner Entscheidung vom 20. Februar 1990 (Az. 14 B 88.02464 – juris Rn. 21) nicht ohne weiteres bzw. nicht ohne Erteilung einer entsprechenden Abweichung von den einzuhaltenden Abstandsflächen möglich. Der 14. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs führt in dieser, den Einbau einer Gaube betreffenden Entscheidung aus: “So ginge es beispielsweise schwerlich an, die Aufbringung eines Satteldachs auf einem Gebäude, das sich längs einer Grenze erstreckt und bisher ein Flachdach trägt, abstandsflächenrechtlich allein mit der Erwägung gutzuheißen, es sei nur auf die geplante Änderung abzustellen, die vorgesehene Dachneigung überschreite jedoch nicht 45 Grad (s. hierzu Art. 6 Abs. 3 Satz 4 BayBO); zur Erforderlichkeit von Befreiungen für solche Aufstockungen grenznaher Flachdachgebäude s. OVG Lüneburg vom 10.3.1986 und vom 2.7.1986 BauR 1987, 74 und 76).“.
Der Umstand, dass sich an der Grundstücksgrenze ein Geländesprung befindet, sodass das bestehende Garagengebäude deutlich tiefer liegt als das klägerische Grundstück (vgl. Foto Bl. 39 d.BA bzw. 80 d.GA), rechtfertigt keine andere Bewertung. Die Abstandsfläche einer Wand ist immer von der Geländeoberfläche des Baugrundstücks aus zu bestimmen. Unterschiede in der Höhenlage zwischen Bau- und Nachbargrundstück sind für die Bemessung der Abstandsfläche mithin grundsätzlich irrelevant (vgl. Kraus in Busse/Kraus, a.a.O., Rn. 168 m.w.N.). In Hinblick auf die Ausführungen der Klageerwiderung ist ferner klarzustellen, dass der Gesetzgeber heute zwar nicht mehr ausdrücklich zwischen natürlicher oder festgelegter Geländeoberfläche differenziert, grundsätzlich aber auf die natürliche Geländeoberfläche, d.h. auf die gewachsene und nicht die durch Aufschüttungen oder Abgrabungen veränderte Geländeoberfläche als unterer Bezugspunkt i.S.d. Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO (a.F. = n.F.) abzustellen ist (vgl. Kraus in Busse/Kraus, a.a.O., Rn. 188 ff. m.w.N.). Zwar kann eine veränderte Geländeoberfläche nach längerer Zeit, die sich nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt, zur natürlichen Geländeoberfläche werden (vgl. Kraus in Busse/Kraus, a.a.O., Rn. 191; BayVGH, B.v. 12.2.2020 – 15 CS 20.45 – BayVBl. 2020, 444; BayVGH, B.v. 7.11.2017 – 1 ZB 15.1839 – juris Rn. 5), auch dies führt jedoch nicht dazu, dass das Flachdach des Garagengebäudes als Teil einer baulichen Anlage mit der natürlichen Geländeoberfläche gleichzusetzen wäre; maßgeblich ist vielmehr das unterhalb des Bestandsgebäudes liegende Geländeniveau. Anderes gilt nur im Falle einer Neufestlegung des Geländeniveaus, wobei eine solche einen förmlichen Rechtsakt der Behörde erfordert (vgl. Kraus in Busse/Kraus, Bay-BO, Stand März 2021, Art. 6, Rn. 188 ff.; BayVGH, B.v. 12.2.2020 – 15 CS 20.45 – juris Rn. 30; BayVGH, B.v. 28.9.2001 – 1 CS 01.1612 – juris Rn. 12 f.; BayVGH, B.v. 30.4.2007 – 1 CS 06.3335 – juris Rn. 24). Abgesehen davon, dass allein die Darstellung einer neuen Geländeoberfläche in den genehmigten Bauvorlagen für eine Neufestlegung des Geländes nicht ausreichend ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.4.2007 – 1 CS 06.3335 – juris Rn. 24 m.w.N. zur Rspr.; offengelassen: BayVGH, B.v. 27.12.2006 – 25 CS 06.3222, BeckRS 2009, 40612), wird ein von dem bestehenden Gelände abweichendes geplantes Geländeniveau im vorliegenden Eingabeplan gar nicht ausgewiesen. Allein die unnatürlich anmutende, unbeschriftete „Geländedarstellung“ in der Ostansicht reicht hierfür jedenfalls nicht aus. Eine Darstellung des bestehenden Geländes mit entsprechender Bezeichnung findet sich lediglich in der Südansicht des Eingabeplans und zwar unmittelbar vor der Gebäudedarstellung sowie im Bereich der Darstellung des Geländeniveaus auf dem benachbarten Grundstück der Klägerin. Der Südansicht lässt sich damit der bereits angesprochene Geländesprung entnehmen, es ergeben sich daraus aber keinerlei Anhaltspunkte für eine auch nur beantragte Neufestlegung des Geländes.
Entgegen der Auffassung des Landratsamts ist das Vorhaben schließlich auch nicht deshalb abstandsflächenrechtlich als eigener Baukörper zu behandeln, weil es an einer inneren Verbindung (z.B. Treppenaufstieg) zwischen dem Garagentrakt im Erdgeschoss und dem geplanten Lager-/ Abstellraum fehlt. Denn das Vorhaben wird gerade nicht auf der natürlichen Geländeoberfläche, sondern auf dem bereits vorhandenen Gebäudebestand errichtet, sodass letzterer schon aus statischen Gründen nicht einfach hinweg gedacht werden kann, sondern zwingende Grundvoraussetzung für die Realisierung des Vorhabens in der beantragten Form ist (vgl. auch die Vorhabensbezeichnung: „Aufstockung der bestehenden Garage …“). Lediglich ergänzend wird angemerkt, dass durch die geplante versetzte Errichtung des Aufbaus im südlichen Bereich des Garagengebäudes zusätzlich ein durch Säulen abgestützter, überdachter Bereich von – mit dem Lineal gemessen – bis zu 2,8 m Breite entsteht, welcher von den Garagennutzern zusätzlich funktionell genutzt werden kann (vgl. dazu die Süd-Ansicht des Eingabeplans).
Insgesamt erscheint die abstandsflächenrechtliche Gesamtsituation durch das Vorhaben damit in einem neuen Licht, sodass die Gewährung einer Abweichung erforderlich gewesen wäre. Eine solche wurde jedoch vorliegend weder beantragt noch erteilt. Durch den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO (a.F. = n.F.) werden die subjektiv-öffentlichen Nachbarrechte der Klägerin verletzt.
1.2 Die Klägerin kann sich auf diese Rechtsverletzung auch berufen. Ein Nachbar kann sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) gegenüber einer Baugenehmigung grundsätzlich nur dann nicht mit Erfolg auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück den Anforderungen dieser Vorschrift nicht entspricht und wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. etwa BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris Rn. 37; BayVGH, B.v. 23.12.2013 – 15 CS 13.2479 – juris Rn. 13; VGH BW, B.v. 4.1.2007 – 8 S 1802/06 – juris Rn. 4; OVG NRW, U.v. 26.6.2014 – 7 A 2057/12 – juris Rn. 39). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt, weil die grenzständig errichtete Scheune auf dem Grundstück der Klägerin nach den behördlichen Messungen (vgl. Kontrollbericht, Bl. 40 d.BA) lediglich 5,20 m lang ist. Die Wandhöhe der Scheune lässt sich den Akten zwar nicht entnehmen, dürfte nach dem Eindruck des von der Klägerseite vorgelegten Lichtbilds (Bl. 81 d.GA) aber eine mittlere Wandhöhe von 3 m wohl nicht überschreiten, sodass die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO a.F. bzw. des Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO n.F. insoweit erfüllt sein dürften. Selbst wenn die Scheune eine mittlere Wandhöhe von 3 m geringfügig überschreiten sein sollte, lässt sich jedenfalls keine „Gleichwertigkeit“ in den beiderseitigen Abweichungen von den Anforderungen des Abstandsflächenrechts feststellen.
2. Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 162 Abs. 3 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.


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