Aktenzeichen 1 ZB 21.2440
Leitsatz
Verfahrensgang
M 9 K 18.5150 2021-06-23 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Bevollmächtigten wird abgelehnt.
IV. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Kläger wenden sich gegen die Untersagung der Nutzung eines Nebengebäudes als Kfz-Werkstatt und die Anordnung des Rückbaus einer überlangen Grenzbebauung auf ihrem Grundstück. Neben dem im Südosten des Grundstücks errichteten Nebengebäude befinden sich an der Südostgrenze des Grundstücks noch ein Schuppen sowie an der Südwestgrenze eine Garage, die ebenfalls grenzständig errichtet wurden. Die Grenzbebauung auf dem Grundstück beträgt insgesamt rd. 20 m.
Bei einer Baukontrolle wurde festgestellt, dass sich in dem Nebengebäude Werkstattzubehör und eine Hebebühne befinden. Auf dem Grundstück waren insgesamt sechs Pkw abgestellt, die teilweise zerlegt und abgemeldet waren. Mit Bescheid vom 24. September 2018 untersagte der Beklagte die Nutzung des Nebengebäudes als Kfz-Werkstatt. Gleichzeitig wurden die Kläger zum Rückbau der auf dem Grundstück vorhandenen Grenzbebauung gemäß Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 BayBO in der Fassung vom 10.7.2018 verpflichtet. Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 23. Juni 2021 abgewiesen. Die verfügte Nutzungsuntersagung sei rechtmäßig. Eine Baugenehmigung für das Nebengebäude liege nicht vor. Die Nutzungsänderung einer Garage oder eines Nebengebäudes in eine hobbymäßig betriebene Kfz-Werkstatt stelle eine genehmigungsbedürftige Nutzungsänderung dar. Das Vorhaben sei mangels Vorliegens einer Beschreibung der Art der Werkstattnutzung nicht offensichtlich genehmigungsfähig, zudem halte es die Abstandsflächen nicht ein. Die Nutzungsuntersagung sei auch nicht unverhältnismäßig, die Kläger erzielten aus der Nutzung der Werkstatt keine Einnahmen. Auch die Rückbauverpflichtung sei rechtmäßig. Eine Baugenehmigung für die Anlagen sei nicht vorgelegt worden. Die erforderlichen Abstandsflächen würden nicht eingehalten. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO sei nicht anwendbar, da planungsrechtlich in der näheren Umgebung eine halboffene Bebauung vorliege, die nur bezüglich der nordwestlichen Grundstücksgrenze die Erforderlichkeit von Abstandsflächen ausschließe. Die Länge der vorhandenen Grenzbebauung betrage an der südwestlichen und der südöstlichen Grundstücksgrenze jeweils mehr als 9 m und überschreite auch die gemäß Art. 6 Abs. 9 Satz 2 BayBO in der Fassung vom 10.7.2018 insgesamt zulässigen 15 m. Eine Abweichung von den Abstandsflächen gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO sei nicht möglich, insbesondere fehle es an der erforderlichen „Atypik“. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich.
Hiergegen wenden sich die Kläger mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und besonderer rechtlicher und tatsächlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) liegen nicht vor bzw. werden nicht dargelegt (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Bescheid des Beklagten vom 24. September 2021 rechtmäßig ist.
1.1 Das Zulassungsvorbringen vermag keine ernstlichen Zweifel an der Annahme des Verwaltungsgerichts zu begründen, dass die Nutzung des Nebengebäudes als Kfz-Werkstatt formell rechtswidrig ist. Soweit die Kläger beanstanden, dass das Verwaltungsgericht ihren Vortrag nicht berücksichtigt habe, trifft das nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat dazu im Tatbestand der Entscheidung (UA S. 5) ausgeführt. Eine fehlerhafte Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts und damit der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nur dann vor, wenn die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts augenscheinlich nicht zutreffen oder z.B. wegen gedanklicher Lücken oder Ungereimtheiten ernstlich zweifelhaft sind. Allein die Möglichkeit einer anderen Bewertung der Beweisaufnahme rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht (vgl. BayVGH, B.v. 7.2.2017 – 14 ZB 16.1867 – juris Rn. 7 m.w.N.). Die Kläger führen hierzu unter Wiederholung ihres bisherigen Vortrags im Klageverfahren aus, dass eine gewerbliche Nutzung des Nebengebäudes als Werkstatt nicht vorliege, da der Kläger zu 1 aufgrund seiner Erkrankung nicht in der Lage sei, entsprechende Arbeiten durchzuführen. Die geltend gemachte Erwerbsunfähigkeit schließt jedoch stundenweise Arbeiten des Klägers zu 1, der (Auto-)Mechaniker ist und sich eine Hebebühne zugelegt hat, nicht aus. Das Verwaltungsgericht ist auch nicht von einer gewerblichen Nutzung der Werkstatt ausgegangen, sondern vielmehr von einer Nutzung als Hobbywerkstatt. Im Übrigen belegen die vorgelegten Unterlagen eine abstandflächenrechtlich relevante Nutzungsänderung (vgl. BayVGH, B.v. 4.8.2016 – 1 ZB 15.2619 – juris Rn. 4; B.v. 27.2.2015 – 15 ZB 13.2384 – juris Rn. 11; OVG NW, B.v. 3.9.2008 – 7 B 917/08 – juris Rn. 2). Danach wird das Nebengebäude, in dem sich ausweislich der vorgelegten Bilder und dem Eindruck, den das Verwaltungsgericht sich bei der Ortseinsicht gemacht hat, ein ausgebauter Motor, diverse werkstatttypische Gegenstände sowie eine Hebebühne befanden und – neben dem Gebäude – einige Autoreifen sowie diverse abgestellte, teilweise zerlegte und nicht fahrtüchtige Pkw, jedenfalls für hobbymäßige Reparaturarbeiten an Kraftfahrzeugen genutzt.
Eine Baugenehmigung haben die Kläger nicht vorgelegt. Insofern weist der Beklagte zu Recht darauf hin, dass den Klägern als Grundstückseigentümer und – nutzer die materielle Beweislast obliegt (vgl. BVerwG, B.v. 17.7.2003 – 4 B 55.03 – BauR 2004, 657; B.v. 24.5.1993 – 4 B 77.93 – juris Rn. 8; B.v. 5.8.1991 – 4 B 130.91 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 28.12.2016 – 15 CS 16.1774 – juris Rn. 29).
Ohne Erfolg wenden sich die Kläger gegen die Überprüfung der Ermessensausübung des Landratsamts durch das Verwaltungsgericht im Rahmen des § 114 Satz 1 VwGO. Das dem Antragsgegner eingeräumte Eingriffsermessen wird in erster Linie entsprechend dem mit der Befugnisnorm verfolgten Ziel, rechtmäßige Zustände herzustellen, durch Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte bestimmt. Die Bauaufsichtsbehörde muss in einer Weise vorgehen, mit der die ihr obliegende Aufgabe, für die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu sorgen, möglichst effektiv erfüllt wird. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Nutzungsuntersagung vor, muss im Regelfall daher nicht näher begründet werden, weshalb von der Eingriffsbefugnis Gebrauch gemacht wird (sog. intendiertes Ermessen). Allerdings dürfen insbesondere mit Blick auf das Übermaßverbot keine Besonderheiten vorliegen, die ausnahmsweise ein Absehen von der Untersagung erfordern. Eine formell rechtswidrige Nutzung darf daher grundsätzlich nicht untersagt werden, wenn sie offensichtlich genehmigungsfähig ist bzw. unter Bestandsschutz steht. Auch wäre es unverhältnismäßig, eine offensichtlich materiell rechtmäßige Nutzung zu untersagen, ohne den Bauherrn vorher vergeblich aufgefordert zu haben, einen Bauantrag zu stellen.
Gemessen an diesen Maßgaben lässt die Nutzungsuntersagungsanordnung Ermessensfehler nicht erkennen. Die von den Klägern im Zulassungsverfahren aufgeworfene Frage zur materiellen Genehmigungsfähigkeit einer Werkstattnutzung in einem Dorfgebiet stellt sich in diesem Zusammenhang nicht. Denn das Verwaltungsgericht hat insoweit zu Recht darauf verwiesen, dass die hierfür erforderliche Prüfung, die auf die Ausgestaltung der Werkstatt abstellt, erst nach Vorlage einer Betriebsbeschreibung erfolgen kann. Ob es sich um eine zulässige atypische Werkstätte handelt, die in einem Dorfgebiet zulässig sein kann, bedarf einer Prüfung in einem Baugenehmigungsverfahren (vgl. BayVGH, B.v. 15.2.2017 – 9 ZB 15.2092 – juris Rn. 8). Eine offensichtliche Genehmigungsfähigkeit der Werkstatt liegt daher nicht vor. Unabhängig davon hält das Nebengebäude die Abstandflächen nicht ein. Insoweit hat der Beklagte zu Recht unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid und den Schriftsatz des Landratsamts im erstinstanzlichen Verfahren darauf hingewiesen, dass es jedenfalls an der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO in der Fassung vom 10.7.2018 fehlt. Danach sind nur Gebäude ohne Aufenthaltsräume grenzständig bzw. ohne Einhaltung einer eigenen Abstandsfläche zulässig. Nach Art. 2 Abs. 5 BayBO sind Aufenthaltsräume Räume, die zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt oder geeignet sind. Auch ein Raum, der zwar nicht dazu bestimmt, aber – wie hier – nach Lage und Größe dazu geeignet ist, ist als Aufenthaltsraum anzusehen (vgl. BayVGH, B.v. 3.2.2022 – 9 ZB 20.2337 – juris Rn. 9; Dirnberger in Busse/Kraus, BayBO, Stand September 2021, Art. 2 Rn. 503, 509). Die Hebebühne und die Werkstattausstattung unterstreichen das objektive Nutzungspotential im Hinblick auf einen längeren Aufenthalt von Personen.
Soweit die Kläger in diesem Zusammenhang rügen, dass der maßgebliche tatsächliche Sachverhalt nicht festgestellt worden sei, genügt ihr Vortrag nicht den Anforderungen an das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. Die pauschale Behauptung, ihr Vortrag im Klageverfahren sei nicht zur Kenntnis genommen worden, reicht dafür ungeachtet der Wiederholung ihrer erstinstanzlichen Ausführungen nicht aus, zumal sich diese auf die Ermessensausübung im Hinblick auf die Rückbauanordnung beziehen. Da die Kläger eine gewerbliche Nutzung der Werkstatt verneint haben, ist der Rückschluss des Verwaltungsgerichts auf fehlende Einkünfte aus der Nutzung der Werkstatt auch nicht zu beanstanden.
1.2 Nicht ernstlich zweifelhaft ist auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Kläger durch die Anordnung, die Grenzbebauung auf das zulässige Maß zurückzubauen, nicht in ihren Rechten verletzt werden (Art. 76 Satz 1 BayBO). Auch bezüglich der weiteren Grenzbebauung (Garage, Schuppen) haben die Kläger eine Baugenehmigung nicht vorgelegt. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, dass Abstandsflächen erforderlich sind, da Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO für die maßgeblichen Grundstücksgrenzen nicht zur Anwendung kommt. Richtet sich die planungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens – wie hier – nach § 34 BauGB, kommt es für die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ausschließlich darauf an, ob ein Grenzanbau zwingend vorgeschrieben oder mindestens zulässig ist. Die Bauweise ist nach dem eindeutigen Wortlaut von § 34 Abs. 1 BauGB Tatbestandsmerkmal des Einfügens (vgl. BayVGH, B.v. 10.12.2001 – 20 CS 01.2775 – juris Rn. 14). Die nähere Umgebung ist für die in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bezeichneten Kriterien jeweils gesondert abzugrenzen (vgl. BVerwG, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – NVwZ 2014, 1246). Städtebaulich maßgebend als nähere Umgebung ist hier vor allem die Bebauung entlang der H … straße, die die Anordnung der Gebäude auf dem Grundstück in Bezug auf die seitlichen Grundstücksgrenzen und das Straßenbild erkennen lässt (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 15.7.2016 – OVG 10 S 12.16 – juris Rn. 5; Söfker in Ernst/Zinkahn/ Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2021, § 34 Rn. 46).
Gemessen an diesen Maßgaben ist die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Abgrenzung anhand der vorgelegten Lagepläne und Luftbilder und nach den im Rahmen eines Augenscheins gewonnenen Eindrücken nicht zu beanstanden. In dem Bereich der H … straße zwischen den Hausnummern 25 bis 41 und 47 überwiegt die halboffene Bauweise zur jeweils nordwestlichen Grundstücksgrenze. Die gesonderte Einnahme eines Augenscheins durch den Senat ist daher nicht erforderlich. Nach den zutreffenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist damit lediglich bezüglich der nordwestlichen Grundstücksgrenze die Erforderlichkeit von Abstandsflächen ausgeschlossen (vgl. BayVGH, U.v. 19.11.1976 – 106 I 73 – BayVBl 1977, 177). Bei der von den Klägern angeführten Hausnummer 43 handelt es sich um ein Eckgrundstück. Das Grundstück grenzt im Gegensatz zu den vorgenannten Straßengrundstücken an zwei Seiten an öffentliche Verkehrsflächen an und ist mit diesen nicht vergleichbar. Die in Betracht kommenden seitlichen Grundstücksgrenzen sind von der öffentlichen Verkehrsfläche her zu ermitteln, an der das Grundstück liegt (vgl. VGH BW, B.v. 4.10.2007 – 8 S 1447/07 – juris Rn. 5; Blechschmidt in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauNVO, Stand August 2021, § 22 Rn. 8). Bei der westlichen Grundstücksgrenze handelt es sich daher um eine weitere vordere Grundstücksgrenze. Das von den Klägern weiter angeführte Grundstück S …weg liegt außerhalb des maßgeblichen Straßenzugs in der Straße „S …weg“. Die auf diesen Grundstücken sowie auf den Grundstücken H … straße Hausnummer … und … an der jeweils südwestlichen und südöstlichen Grundstücksgrenze vorhandene Grenzbebauung, bei der es sich nach den vorgelegten Lageplänen und Luftbildern sowie dem Vortrag der Kläger in der Zulassungsbegründung um Nebengebäude handelt, kann entgegen der Auffassung der Kläger nicht berücksichtigt werden. Denn die Bauweise im Sinn von § 22 BauNVO kann nur durch Hauptgebäude, nicht aber durch Nebengebäude und Garagen, vorgegeben werden (vgl. BayVGH, U.v. 29.6.2005 – 14 B 03.3161 – juris Rn. 20; B.v. 23.4.2004 – 20 B 03.3002 – BayVBl 2005, 369; Blechschmidt in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, a.a.O. Rn. 7).
Entgegen der Auffassung der Kläger ist eine (isolierte) Abweichung von den Abstandsflächen nach Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO i.V.m. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO nicht möglich. Die Frage, ob es für die Erteilung einer Abweichung von der Einhaltung der erforderlichen Abstandstiefe nach Art. 6 Abs. 5 BayBO gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO auch nach der Einfügung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO eines atypischen Sachverhalts bedarf und in welcher Hinsicht und mit welcher Intensität ein derartiger atypischer Sachverhalt gegeben sein muss, um eine Abweichung zuzulassen, kann vorliegend dahinstehen, da bereits die nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erforderliche Interessenabwägung eine Abweichung nicht begründen kann. Wird das angegriffene Urteil auf zwei selbständig tragende Erwägungen gestützt, kann die Berufung nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (vgl. für die Revisionszulassung BVerwG, B.v. 26.8.2019 – 4 BN 1.19 – NVwZ 2020, 326; B.v. 20.12.2016 – 3 B 38.16 u.a. – NVwZ-RR 2017, 266).
Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Abstandsflächen und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen nicht vereinbar ist. Es hat zu Recht ausgeführt, dass der südöstliche Nachbar aufgrund der vorhandenen halboffenen Bebauung sein Wohnhaus zulässigerweise in unmittelbarer Grenznähe ohne Einhaltung der Abstandsflächen errichtet hat und ein überwiegendes Interesse der Kläger an der überlangen Grenzbebauung verneint, zumal die Kläger auch die Möglichkeit haben, an der nordwestlichen Grundstücksgrenze bauliche Anlagen ohne Einhaltung von Abstandsflächen zu errichten. Dazu verhalten sich die Kläger nicht.
Der Senat kann zudem keine Fehler in der Ermessensausübung erkennen. Das Verwaltungsgericht hat seine Rechtsansicht, dass die Beseitigungsanordnung ermessensfehlerfrei sei, zutreffend damit begründet, dass ein willkürliches Aufgreifen der Grenzbebauung der Kläger unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG offensichtlich nicht vorliegt und insbesondere die vorgetragenen Bezugsfälle auf den Grundstücken H … straße … … und … jeweils eine Grenzbebauung zur nordwestlichen Grundstücksgrenze betreffen (vgl. BVerwG, B.v. 23.11.1998 – 4 B 99.98 – BauR 1999, 734; BayVGH, U.v. 9.5.2018 – 1 B 14.2215 – BayVBl 2019, 23). Soweit die Kläger auf die Grenzbebauung auf den Grundstücken H … straße Nr. … und S …weg abstellen kann offen bleiben, ob es sich um vergleichbare Sachverhalte handelt. Denn der Gleichheitssatz gebietet jedenfalls nicht, dass gegen unterschiedlich gelagerte Fälle in gleicher Weise vorgegangen werden muss. Geboten ist lediglich ein systemgerechtes Vorgehen, das auch vorliegt, wenn die Behörde gegen „Schwarzbauten“ gleichsam Schritt für Schritt vorgeht (vgl. BVerwG, B.v. 21.12.1990 – 4 B 184.90 – juris Rn. 4). Die Erstellung eines Sanierungskonzepts war angesichts der in den Blick zu nehmenden Bezugsfälle nicht erforderlich.
Die Rechtmäßigkeit der Zwangsgeldandrohungen steht nicht infrage.
2. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich zugleich, dass die Streitsache keine besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweist, die eine Zulassung der Berufung erforderlich machen würden. Die von den Klägern aufgeworfenen Fragen können ohne Weiteres anhand der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen und der Rechtsprechung bereits im Zulassungsverfahren geklärt werden. Allein die unterschiedliche Bewertung des vorliegenden Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht und die Kläger genügt nicht für die Darlegung besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten (vgl. BayVGH, B.v. 30.7.2018 – 9 ZB 16.1068 – juris Rn. 14). Soweit die Kläger auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 10. Dezember 2001 (Az. 20 CS 01.2775) verweisen und rügen, dass vorliegend keine Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme vorlägen, kommt es darauf im hier zu entscheidenden Fall nicht an. Denn die halboffene Bauweise besteht nur zur jeweils nordwestlichen Grundstücksgrenze.
3. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Bevollmächtigten, da der Zulassungsantrag aus den vorgenannten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
Die Kläger haben die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner zu tragen, weil ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).