Baurecht

Versagung der Baugenehmigung für Einfamilienhaus wegen fehlenden Einfügens hinsichtlich der Geschosszahl

Aktenzeichen  W 5 K 18.1443

Datum:
8.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 29687
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6, Art. 63 Abs. 1, Art. 68 Abs. 1
BauGB § 34 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Stellt sich bei der Prüfung durch die Behörde heraus, dass die Bauvorlagen inhaltlich unrichtige Angaben enthalten bzw. widersprüchlich oder sonst als Entscheidungsgrundlage für die Baugenehmigung ungeeignet sind, darf die Baugenehmigung nicht erteilt werden. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für das Einfügen in die Eigenart der näheren Umgebung nach dem Maß der baulichen Nutzung ist die von außen wahrnehmbare Erscheinung des Gebäudes im Verhältnis zu seiner Umgebungsbebauung maßgebend. Das sind vor allem die (absolute) Grundfläche, die Anzahl der Vollgeschosse und die Höhe des Gebäudes. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Vorrang des Städtebaurechts vor dem Abstandsflächenrecht gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen; auch der tatsächlich vorhandenen Bauweise im unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB) kommt grundsätzlich der Vorrang vor dem Abstandsflächenrecht zu. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
4. Bei der Frage, ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, ist stets zu prüfen, ob die Schmälerung nachbarlicher Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Verpflichtungsklage hat in der Sache keinen Erfolg, da den Klägern kein Anspruch gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO auf die Erteilung der von ihr beantragten Baugenehmigung zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ebenso wenig besteht ein Anspruch auf Neuverbescheidung nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Die Ablehnung des Bauantrags durch die Beklagte war rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO ist eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Da das genehmigungspflichtige Bauvorhaben jedoch nicht genehmigungsfähig ist, besteht ein solcher Anspruch im vorliegenden Fall nicht.
Da es sich beim Bauvorhaben um keinen Sonderbau im Sinne des Art. 2 Abs. 4 BayBO handelt, prüft die Bauaufsichtsbehörde nach Art. 59 BayBO im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 ff. BauGB, den Vorschriften über die Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO und den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinne des Art. 81 Abs. 1 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO), beantragte Abweichungen im Sinne des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO) sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO).
1. Die Erteilung einer Baugenehmigung setzt voraus, dass die Bauunterlagen nach Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG hinreichend bestimmt sind, d.h. das Bauvorhaben anhand von Bauantrag und Bauvorlagen geprüft werden kann. Schon diesbezüglich bestehen im vorliegenden Fall Bedenken.
Art. 64 Abs. 2 Satz 1 BayBO bestimmt, dass mit dem Bauantrag alle für die Beurteilung des Bauvorhabens und die Bearbeitung des Bauantrags erforderlichen Unterlagen (Bauvorlagen) einzureichen sind. Art, Umfang und Inhalt der vorzulegenden Bauvorlagen ergeben sich dabei aus der Bauvorlagenverordnung (BauVorlV), vgl. Art. 80 Abs. 4 BayBO. Die vorgelegten Bauvorlagen und die in ihnen enthaltenen Angaben müssen dabei vollständig, richtig und eindeutig sein (Simon/Busse, BayBO, Stand: 137. EL Juli 2020, Art. 64 Rn. 75). Stellt sich bei der Prüfung durch die Behörde heraus, dass die Bauvorlagen inhaltlich unrichtige Angaben enthalten bzw. widersprüchlich oder sonst als Entscheidungsgrundlage für die Baugenehmigung ungeeignet sind, darf die Baugenehmigung nicht erteilt werden (vgl. Simon/Busse, a.a.O. Rn. 80; VG München, B.v. 28.11.2017 – M 8 SN 17.4766 – juris Rn. 57). Auf eine Klage des Bauherrn hin kann die Behörde zur Erteilung der Baugenehmigung dann nicht verpflichtet werden (Simon/Busse, a.a.O. Rn. 81).
Dies zugrunde gelegt, spricht hier vieles dafür, dass die von den Klägern vorgelegten Bauvorlagen (Stand: 24.1.2018; Bl. 230 d.A.) unklar und nicht eindeutig sind. In den Ansichten des Vorhabens (vgl. Nord-Ost- und Süd-West-Ansicht) sind verschiedene Höhenlinien eingezeichnet. Die natürliche Geländeoberfläche, die unter anderem für die Berechnung der Abstandsflächen nach Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO entscheidend ist, ist als „vermutetes Urgelände an der Grenze“ ausgewiesen. Damit kommt nicht klar zum Ausdruck, ob der Planersteller die Geländeoberfläche abschließend aufgrund einer verlässlichen Vermessung des Grundstücks ermittelt hat, d.h. auf welcher Grundlage die Eintragung des Geländes beruht. Angesichts der Umstände und der Schwierigkeiten, die sich bereits in Umsetzung der Ausgangsgenehmigung vom 23. März 2015 ergeben haben, wäre zu erwarten gewesen, dass dieser Aspekt eine Klärung im Vorfeld und in der Folge in den vorgelegten Planunterlagen erfährt. Dass es (technische) Verfahren gibt, die eine (nachträgliche) Bestimmung der natürlichen Geländeoberfläche auch nach einer Veränderung der Geländeverhältnisse ermöglichen, ist in der Rechtsprechung hinreichend geklärt (vgl. etwa die Ermittlung mittels geradliniger Interpolation; hierzu VG München, B.v. 3.7.2020 – M 1 SN 19.5089 – juris Rn. 37 ff.).
Auch wenn aufgrund der Erkenntnisse der mündlichen Verhandlung nicht auszuschließen ist, dass die Eintragung des „vermuteten Urgeländes“ in den Planunterlagen der natürlichen Geländeoberfläche weitgehend entspricht bzw. zulasten der Bauherren und zugunsten der Nachbarn eine „worst case“-Betrachtung stattgefunden hat, bleibt die Planzeichnung dennoch unklar.
Ob die Beklagte auf Grund dessen die Baugenehmigung nicht erteilen durfte, kann jedoch dahinstehen, da auch aus anderen Gründen ein Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung ausscheidet.
2. Die Errichtung des streitgegenständlichen Bauvorhabens (Tekturplanung in der Fassung der Planvorlagen vom 24.1.2018) ist bauplanungsrechtlich unzulässig, da es sich nach dem Maß der baulichen Nutzung nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, Art. 59 Satz 1 Nr. 1a) BayBO i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB. Das Bauvorhaben soll in einem Bereich verwirklicht werden, für den weder ein qualifizierter noch ein einfacher Bebauungsplan Festsetzungen zu Art und Maß der baulichen Nutzung trifft, so dass sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 BauGB beurteilt.
Nach § 34 Abs. 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einer Gebietskategorie der Baunutzungsverordnung, beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Baunutzungsverordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre, § 34 Abs. 2 Halbs. 1 BauGB.
Als „nähere Umgebung“ ist dabei der umliegende Bereich anzusehen, soweit sich die Ausführung des Vorhabens auf ihn auswirken kann und soweit er seinerseits den bodenrechtlichen Charakter des zur Bebauung vorgesehenen Grundstücks prägt oder beeinflusst (BVerwG, U.v. 26.5.1978 – 4 C 9.77 – juris Rn. 33; BVerwG, B.v. 20.8.1998 – 4 B 79/98 – juris Rn. 7; BVerwG, B.v. 11.2.2000 – 4 B 1/00 – juris Rn. 40). Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich dabei nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist (BVerwG, B.v. 28.8.2003 – 4 B 74/03 – juris Rn. 2). Dies zugrunde gelegt, geht die Kammer aufgrund des vorgelegten Bild- und Planmaterials entsprechend der Beurteilung durch die Beklagte davon aus, dass der entscheidende Bereich sich durch die an die …straße und den …weg angrenzenden Gebäude bis hin zur B* …straße im Osten und zur Einmündung der G* …straße in die …straße im Westen bestimmt (vgl. Bl. 172 d.A.).
Da dieser Bereich durch Wohnbebauung geprägt ist, fügt sich das Bauvorhaben aufgrund der Wohnnutzung nach seiner Art in die Eigenart der näheren Umgebung ein (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 bzw. § 4 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO). Dass von dem Vorhaben unzumutbare Belästigungen oder Störungen im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO ausgingen, tritt zumindest nicht offenkundig zu Tage.
Dies kann im Einzelnen auch dahinstehen, da sich das Vorhaben jedenfalls nach dem Maß der baulichen Nutzung nicht einfügt, soweit die Geschosszahl bzw. der Eindruck von der Geschossigkeit betroffen ist. Vorrangig ist bei der Prüfung des „Einfügens“ im Sinn von § 34 Abs. 1 BauGB auf diejenigen Maßkriterien abzustellen, in denen die prägende Wirkung besonders zum Ausdruck kommt. Für das Einfügen in die Eigenart der näheren Umgebung nach dem Maß der baulichen Nutzung ist die von außen wahrnehmbare Erscheinung des Gebäudes im Verhältnis zu seiner Umgebungsbebauung maßgebend (vgl. BVerwG, B.v. 21.6.2007 – 4 B 8/07 – BauR 2007, 1691). Das sind vor allem die (absolute) Grundfläche, die Anzahl der Vollgeschosse und die Höhe des Gebäudes (vgl. BVerwG, U.v. 23.3.1994 – 4 C 17/92 – juris). Die Geschossflächenzahl hat für das Tatbestandsmerkmal des Einfügens des klägerischen Vorhabens wegen der insoweit ausschließlich maßgebenden konkreten Verhältnisse dagegen keine entscheidende Aussagekraft und muss daher vernachlässigt werden (vgl. BVerwG, U.v. 23.3.1994 – a.a.O.).
Im vorliegenden Fall fehlt es an einem Einfügen hinsichtlich der Geschosszahl. Das Bauvorhaben tritt nunmehr im Unterschied zur Ausgangsplanung aus dem Jahr 2015 aufgrund der Ergänzung durch den Pool und dessen Betriebsräume (Pooltechnik) viergeschossig in Erscheinung (vgl. Bl. 230 d.A.; insbesondere die Süd-Ost-Ansicht). Insofern unterscheidet sich das Bauvorhaben von der vorhandenen Bebauung, die zwei- bzw. allenfalls dreigeschossig in Erscheinung tritt (vgl. Stellungnahme der Fachstelle Städtebau vom 9. November 2017, Bl. 177 d.A. sowie das Bildmaterial von der Umgebungsbebauung Bl. 173 ff. d.A.). Damit wird der vorhandene Rahmen wesentlich überschritten. Hierdurch können auch städtebauliche Spannungen auftreten, da das Vorhaben den vorhandenen Rahmen in unangemessener Weise überschreitet. Da das klägerische Vorhaben in Relation zu der Vorgängerbebauung zu sehen ist, ist durch die bauliche Massierung sowohl in der Höhe als auch in der Tiefe eine erhebliche Nachverdichtung der Bebauung in diesem Bereich zu verzeichnen (vgl. BVerwG, B.v. 21.6.2007 – 4 B 8/07 – BauR 2007, 1691 = juris Rn. 6).
Aus diesem Grund stellt sich das Vorhaben als bauplanungsrechtlich unzulässig dar.
3. Das streitgegenständliche Vorhaben ist des Weiteren nicht genehmigungsfähig, da ein Verstoß gegen bauordnungsrechtliche Vorschriften des Abstandsflächenrechts nach Art. 6 BayBO vorliegt (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 b) BayBO) und kein Anspruch auf die beantragte Abweichung gemäß Art. 63 BayBO besteht (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO).
3.1. Das Vorhaben der Kläger hat nach Art. 6 Abs. 1 und 5 Satz 1 BayBO zu den Nachbargrundstücken eine Abstandsfläche von 1 H einzuhalten.
Dies ist im konkreten Fall auch nicht entbehrlich nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO. Hiernach ist die Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an den Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Der Vorrang des Städtebaurechts gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen; auch der tatsächlich vorhandenen Bauweise im unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB) kommt grundsätzlich der Vorrang vor dem Abstandsflächenrecht zu (vgl. BVerwG, B.v. 11.3.1994 – 4 B 53/94 – NVwZ 1994, 1008; BayVGH, U.v. 25.11.2013 – 9 B 09.952 – juris; U.v. 23.3.2010 – 1 BV 07.2363 – juris; VG Ansbach, U.v. 12.9.2012 – AN 9 K 11.01743 – juris). Eine geschlossene Bauweise, bei der die seitlichen Grundstücksgrenzen bebaut werden, kann sich also in den Fällen, in denen nach § 34 BauGB der planungsrechtliche Beurteilungsmaßstab für die Zulässigkeit eines Bauvorhabens die vorhandene Bebauung ist, auch aus dieser ergeben, mit der Folge, dass sie dann die verbindliche Bauweise ist (vgl. VG Würzburg, B.v. 30.5.2014 – W 4 S 14.472 – juris; VG Ansbach, B.v. 4.8.2014 – AN 9 S 14.00575 – juris). Denn aus § 34 Abs. 1 BauGB folgt, dass sich ein Vorhaben auch im Hinblick auf die Bauweise in die Eigenart der näheren Umgebung einzufügen hat.
Unabhängig davon, dass es sich vorliegend nicht um ein grenzständiges Vorhaben handelt, kann die Kammer in der maßgeblichen Umgebungsbebauung (vgl. hierzu die Ausführungen zu 2.) keinen Zustand „regelloser Bebauung“ feststellen, bei dem aufgrund einer Mischung von Gebäuden mit und ohne Grenzabstand keine Ordnung zu erkennen ist, die als abweichende Bauweise einzustufen wäre (vgl. BayVGH, U.v. 25.11.2013 – 9 B 09.952 – juris; U.v. 23.3.2010 – 1 BV 07.2363 – juris) und in welche sich das Vorhaben insofern einfügen könnte. Vielmehr sind Abstandsflächen vorhanden; lediglich Nebengebäude befinden sich vereinzelt direkt an den jeweiligen Grundstücksgrenzen. Dass damit quasi „planungsrechtlich“ der Maßstab im Hinblick auf die seitlichen Grundstücksgrenzen und das Abstandsflächenrecht modifiziert wäre, lässt sich daher nicht konstatieren.
3.2. Die nach Art. 6 Abs. 1 und 5 Satz 1 BayBO erforderlichen Anforderungen im Hinblick auf die Abstandsflächen sind nicht erfüllt. Das streitgegenständliche Vorhaben hält die Abstandsflächen auf dem eigenen Grundstück nicht ein, da die Abstandsflächen sowohl westlich hin zum Grundstück Fl.Nr. …77 als auch östlich hin zum Grundstück Fl.Nr. …74 in großem Umfang (westlich bis zu ca. 5,50 m und östlich bis zu ca. 6,80 m) auf die nachbarlichen Grundstücke fallen. An der Berechnung der Abstandsflächen, ausgewiesen im Abstandsflächenplan (Bl. 231 d.A.), bestehen insoweit keine Bedenken.
3.3. Die Kläger haben am Maßstab von Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO keinen Anspruch auf Zulassung einer Abweichung von den Abstandsflächenbestimmungen. Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde eine Abweichung von Anforderungen der BayBO – mithin auch von Anforderungen des Art. 6 BayBO – zulassen, wenn diese unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar ist.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Bisher ist für die Zulassung einer Abweichung von Abstandsflächenvorschriften eine atypische Fallgestaltung bzw. atypische Situation gefordert worden. Die Zulassung einer Abweichung erfordert danach Gründe, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen. Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln (vgl. etwa BayVGH, U.v. 9.11.2017 – 2 B 17.1742 – juris Rn. 21 m.w.N.).
Zum 1. September 2018 wurde jedoch Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO in die Bayerische Bauordnung eingefügt, wonach Art. 63 BayBO unberührt bleibe (§ 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10.7.2018, GVBl. S. 523). Nach der Gesetzesbegründung (LT-Drs. 17/21574, S. 13) soll damit ausdrücklich klargestellt werden, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Abweichung von Vorgaben des Abstandsflächenrechts ausschließlich in Art. 63 BayBO geregelt sind. Das Gesetz fordere demnach nicht die von der Rechtsprechung verlangte Atypik. Angesichts der Tatsache, dass dieses Motiv des Gesetzgebers aber weder in den Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO noch in den Wortlaut des Art. 63 BayBO Eingang gefunden hat, ist die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zu der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO und zu dem Fortbestehen des Erfordernisses der Atypik noch uneinheitlich (zum Streitstand vgl. VG Augsburg, B.v. 19.11.2019 – Au 4 S 19.1926 – juris Rn. 29; BeckOK BauordnungsR Bayern, BayBO, Stand: 15. Ed. 1.6.2020, Art. 63 Rn. 42.1).
Ungeachtet der Klärung dieser streitigen Frage fehlt es hier schon an einer atypischen Grundstückssituation (vgl. BayVGH, U.v. 9.11.2017 – 2 B 17.1742 – juris, B.v. 5.11.2015 – 15 B 15.1372 – juris). Eine solche atypische Fallgestaltung ergibt sich weder aus einem besonderen Grundstückszuschnitt noch aus einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- bzw. auf dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation wie etwa der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris). Keine dieser diskutierten Fallgestaltungen liegt hier vor. Das Baugrundstück weist einen im wesentlichen rechteckigen Zuschnitt auf; eine an die Grundstückssituation angepasste Bebauung ist ohne die weitreichende Verletzung der Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO möglich, so dass die Bebaubarkeit des Grundstücks jedenfalls nicht ausgeschlossen ist. Allein der Wunsch der Bauherren, ihr Grundstück stärker auszunutzen, als dies nach den gesetzlichen Abstandsflächenvorschriften zulässig ist, begründet noch keine Atypik.
Vorliegend kann es für die Beurteilung der Abweichung zudem dahinstehen, ob mit der Einführung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO das ungeschriebene Merkmal der „Atypik“ entfallen ist. Selbst wenn auf das Erfordernis einer Atypik verzichtet würde, lägen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO i.V.m. Art. 63 Abs. 1 BayBO nicht vor. Bei der Frage, ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, ist stets zu prüfen, ob die Schmälerung nachbarlicher Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 22). Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist dabei auch der Zweck der jeweiligen Anforderung, in diesem Fall des Abstandsflächenrechts‚ zu berücksichtigen. Der Zweck des Abstandsflächenrechts besteht darin‚ eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie die Sicherung des sozialen Wohnfriedens zu gewährleisten (vgl. BayVGH, U.v. 30.5.2003 – 2 BV 02.689 – juris Rn. 43; BayVGH, U.v. 14.10.1985 – 14 B 85 A.1224 – BayVBl. 1986, 143).
Dies zugrunde gelegt, stehen der Erteilung der Abweichung vorliegend gewichtige nachbarliche Belange entgegen. Bei der Gewichtung der nachbarlichen Belange ist zu bedenken, dass diesen Interessen schon deshalb ein gewisser Vorrang zukommt, weil sie auf einem Interessenausgleich beruhen, den der Gesetzgeber im Regelfall für sachgerecht angesehen hat. Für die Erteilung einer Abweichung genügt auch nicht, dass die Belange des Nachbarn nur geringfügig beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung nachbarlicher Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (Simon/ Busse, BayBO, Stand: 137. EL Juli 2020, Art. 63 Rn. 33, 46).
Auf der einen Seite führt jede Verkürzung der Abstandsflächen zu einer Verschlechterung der Nachbarsituation. Im konkreten Fall wirkt sich diese Verkürzung sowohl auf der West- als auch der Ostseite erheblich auf die Nachbargrundstücke aus, da die Überschreitung der Abstandsflächen – wie bereits dargestellt – massiv ist. Dabei bleibt unbeachtlich, dass die unmittelbar an das Baugrundstück angrenzende Fläche des Grundstücks Fl.Nr. …77 derzeit als Biotop kartiert ist. Eine rechtlich oder tatsächlich gesicherte Unbebaubarkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO folgt daraus nicht, da jedenfalls Ausnahmeregelungen zur Bebauung denkbar sind. Auch unter dem Gesichtspunkt des Wohnfriedens und Sozialabstands insbesondere zum Grundstück Fl.Nr. …74 bestehen aufgrund der Einsehbarkeit auf das Nachbargrundstück erhebliche Bedenken. Insofern kann das klägerische Vorbringen, dass nachbarliche Belange nicht betroffen sind, nicht nachvollzogen werden. Auch die im Vorfeld der Baugenehmigung vom 23. März 2015 erteilte Abstandsflächenübernahme der Beigeladenen zu 1) muss angesichts der in der Tekturplanung geänderten Planungssituation außer Betracht bleiben.
Im Übrigen sind überwiegende nachbarliche oder öffentliche Interessen, welche für die Abweichung sprechen könnten, nicht erkennbar. Etwaige finanzielle Auswirkungen der Versagung der Tekturgenehmigung zulasten der Kläger finden in den Abwägungsvorgang jedenfalls keinen Eingang. Darüber hinaus sind Fallgestaltungen, in denen das Normziel auf andere Weise erreicht werden kann, im Bereich des Abstandsflächenrechts kaum vorstellbar, da der Zweck der Vorschriften in der Regel nicht bspw. durch eine andere als die gesetzlich vorgeschriebene Bauausführung gewahrt werden kann (BeckOK BauordnungsR Bayern, BayBO, Stand: 15. Ed. 1.6.2020, Art. 63 Rn. 40).
Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die nachbarlichen Belange die öffentlichen Belange überwiegen und daher eine Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften nicht in Betracht kommt.
4. Insgesamt steht den Klägern kein Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung und, da die Rechtssache spruchreif ist, auch kein Anspruch auf Neuverbescheidung nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO zu, sodass sie durch den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 2018 nicht in ihren Rechten verletzt sind. Die Klage ist daher abzuweisen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren Unterlegene haben die Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Da die Beigeladenen keinen eigenen Antrag gestellt und sich mithin auch nicht dem Prozessrisiko ausgesetzt haben, tragen sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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