Baurecht

Verwirkung des Klagerechts eines Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten

Aktenzeichen  15 ZB 19.1909

Datum:
5.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 14600
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 1 Nr. 1, § 124a Abs. 5 S. 2
BayBO Art. 6 Abs. 4, Abs. 5

 

Leitsatz

1. Grundsätzlich ist eine prozessuale Verwirkung des nachbarlichen Klagerechts auch im Rahmen einer Klage auf bauaufsichtliches Einschreiten möglich, wenn die speziellen Verwirkungsvoraussetzungen (Zeitmoment und Umstandsmoment) vorliegen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es entspricht der Billigkeit, dass ein Beigeladener im Berufungszulassungsverfahren seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO), denn er setzt sich unabhängig von einer Antragstellung grundsätzlich keinem eigenen Kostenrisiko aus. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 6 K 17.119 2019-08-20 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Berufungszulassungsverfahren wird auf 7.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin begehrt, dass der Beklagte wegen der Errichtung einer Grenzgarage und einer grenzständigen Dachterrasse auf FlNr. … Gemarkung E* … (Baugrundstück) gegen den Beigeladenen bauaufsichtlich einschreitet. Sie ist nach dem Tod ihres Ehegatten im November 2015 Eigentümerin des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks FlNr. … Gemarkung E* … geworden (Nachbargrundstück), das südlich an das Baugrundstück angrenzt. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans „A* … …“ der Stadt E* …
Mit am 24. Juni 2015 unterschriebenem Formblattantrag beantragte der Beigeladene den Umbau des bestehenden Wohnhauses und eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans auf dem Baugrundstück. Dazu legte er einen fotokopierten Eingabeplan vom 6. Juni 2015 vor, auf dem eine fotokopierte Unterschrift des Ehegatten der Klägerin und die Originalunterschrift der Klägerin angebracht sind. Aus dem Eingabeplan ergibt sich, dass über eine Länge von ca. vierzehn Metern an der Grundstücksgrenze gebaut werden soll und die Abstandsflächen der Grenzgarage sowie eines grenzständigen Nebenraums mit Dachterrasse in unterschiedlicher Tiefe auf dem Nachbargrundstück zu liegen kommen. In den Bauunterlagen befindet sich zudem eine am 24. Juni 2015 vom Ehegatten der Klägerin unterschriebene Erklärung über die Abstandsflächenübernahme mit Anlagen, aus denen ersichtlich ist, dass Abstandsflächen von ca. zwei bis ca. vier Metern auf dem Nachbargrundstück zu liegen kommen und das Gelände an der Grundstücksgrenze von Ost nach West kontinuierlich ansteigt. Diese Abstandsflächenübernahmeerklärung ist ungültig gestempelt. Die Baugenehmigungsbehörde forderte am 9. Juli 2015 noch einen Antrag auf Abweichung von Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO, da sich die Abstandsflächen überdecken würden, eine Darstellung der Abstandsflächen und eine Angabe der Wandhöhe bezogen auf das bestehende Gelände. Am 14. Juli 2015 reichte der Beigeladene den Antrag auf Abweichung ein und Planausschnitte mit Eintragung der Abstandsflächen, nach denen die Abstandsflächenüberschreitung zwischen 3,0 und 4,3 m beträgt. Zugleich reichte er den Eingabeplan vom 6. Juni 2015 zurück.
Mit Bescheid vom 21. Juli 2015 erteilte das Landratsamt R.-I. (im Folgenden: Landratsamt) dem Beigeladenen die begehrte Baugenehmigung, die beantragte Befreiung für die Überschreitung der Baugrenzen und eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften. Der Bescheid wurde weder dem Ehemann der Klägerin noch der Klägerin zugestellt. Der Beigeladene zeigte dem Landratsamt den Baubeginn für 24. August 2015 an und errichtete nach seinen Angaben bis Ende November 2015 den Rohbau. Mit Kurznachricht (SMS) vom 14. Juni 2016 bestätigte die Klägerin gegenüber dem Beigeladenen, ihr Ehegatte habe den Bauplan zur Grenzbebauung unterschrieben. Zugleich beschwerte sie sich über Bauschutt, Schmutz und Staub auf ihrem Grundstück. Am 14. Juli 2016 beantragte ihr Bevollmächtigter Akteneinsicht beim Landratsamt und begehrte am 4. August 2016 vom Landratsamt bauaufsichtlich einzuschreiten, da die Gebäude höher als genehmigt errichtet worden seien. Das Landratsamt führte eine Baukontrolle durch und stellte fest, dass vom Geländeniveau des klägerischen Grundstücks eine maximale Gebäudehöhe von ca. 5,35 m erreicht werde, das Geländeniveau auf dem Baugrundstück aber wesentlich höher sei.
Das Bayerische Verwaltungsgericht Regensburg hat die Klage auf bauaufsichtliches Einschreiten mit Urteil vom 20. August 2019 abgewiesen. Die Klägerin habe ihr Klagerecht verwirkt bzw. sei die Geltendmachung von Rechten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben unzulässig. Es sei sowohl das notwendige Zeitmoment als auch das Umstandsmoment gegeben. Der Beigeladene habe im Vertrauen auf den Bestand der ihm erteilten Baugenehmigung umfangreiche Bautätigkeiten unternommen und das Vorhaben bis Juni 2016 nahezu abgeschlossen. Darüber hinaus habe der Ehegatte der Klägerin dem Bauvorhaben durch Erteilung seiner Unterschrift auch zugestimmt und auf die Geltendmachung nachbarlicher Rechte verzichtet. Aus den Plänen sei ersichtlich, dass an der Grenze bauliche Anlagen mit bis zu 4,30 m Höhe errichtet werden. Maßgeblicher Bezugspunkt für die Berechnung der Abstandsflächen sei dabei das Ursprungsgelände auf dem Baugrundstück. Ob die Grundstücke in den 1970er Jahren ebenerdig gewesen seien, sei nicht entscheidend, da selbst ein aufgeschüttetes Gelände nach ständiger Rechtsprechung nach längerer Zeit zu einem „neuen Ursprungsgelände“ werden könne.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung, dem der Beklagte entgegentritt. Für eine Verwirkung sei kein Raum, wenn bei der Bauausführung gegen die Genehmigung verstoßen werde. Jedenfalls sei auf den Zeitpunkt abzustellen, an dem der Verstoß erkannt werden konnte. Dies sei erst nach Fertigstellung im Juni 2016 der Fall gewesen. Mit Schreiben vom 4. August 2016 sei dann der Antrag auf Einschreiten gestellt worden. Aus den Plänen seien keinerlei Maße ersichtlich gewesen. Jedenfalls sei nur eine Wandhöhe von 4,30 m genehmigt, aber 5,50 m hoch gebaut worden. Die genehmigte Wandhöhe sei vom heute an der Grenze noch bestehenden Grundstückniveau auf dem Grundstück der Klägerin zu ermitteln. Mit den vorgelegten Fotos sei bewiesen, dass das Grundstücksniveau auf beiden Grundstücken früher gleich gewesen sei. Dies habe das Gericht in seiner Besetzung beim Augenschein auch so gesehen und mitgeteilt, dass es den Eindruck habe, vor Baubeginn sei das Gelände auf beiden Grundstücken in etwa gleich verlaufen.
Der Beigeladene hat sich nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus der Antragsbegründung, auf die sich gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO die Prüfung im Zulassungsverfahren beschränkt (BayVerfGH, E.v. 14.2.2006 – Vf. 133-VI-04 – VerfGHE 59, 47/52; E.v. 23.9.2015 – Vf. 38-VI-14 – BayVBl 2016, 49 Rn. 52; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 124a Rn. 54), ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Solche liegen (nur) vor, wenn der Rechtsmittelführer einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453.12 – NVwZ 2016, 1243 Rn. 16; B.v. 18.6.2019 – 1 BvR 587.17 – DVBl 2019, 1400 Rn. 32 m.w.N.). Dies ist hier nicht der Fall.
Die Klägerin konnte die Auffassung des Verwaltungsgerichts, ihr Klagerecht sei verwirkt bzw. die Geltendmachung von Rechten sei nach dem Grundsatz von Treu und Glauben unzulässig, nicht erfolgreich in Zweifel ziehen. Grundsätzlich ist eine prozessuale Verwirkung des nachbarlichen Klagerechts auch im Rahmen einer Klage auf bauaufsichtliches Einschreiten möglich, wenn die speziellen Verwirkungsvoraussetzungen (Zeitmoment und Umstandsmoment) vorliegen (vgl. BayVGH, B.v. 14.5.2020 – 15 ZB 19.2263 – juris Rn. 12; B.v. 8.1.2014 – 15 ZB 12.1236 – juris Rn. 5). Die Verwirkung eines Rechts setzt außer der Untätigkeit des Berechtigten während eines längeren Zeitraums voraus, dass besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete ferner darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde (BVerwG, B.v. 11.9.2018 – 4 B 34.18 – NJW 2019, 245 = juris Rn. 15; U.v. 16.5.1991 – 4 C 4.89 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 102 S. 66 f.). Darüber hinaus können nach ständiger Rechtsprechung auch etwaige materielle Abwehrrechte gegen ungenehmigte Bauvorhaben verwirkt werden (vgl. BVerwG, B.v. 18.3.1988 – 4 B 50.88 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 77; U.v. 16.5.1991 – 4 C 4.89 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 102 = juris Rn. 18; B.v. 11.2.1997 – 4 B 10.97 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 144 = juris Rn. 2).
Unter Anwendung dieser Grundsätze ist das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall davon ausgegangen, dass schon das Klagerecht auf bauaufsichtliches Einschreiten prozessual verwirkt ist, da sich die Klägerin auch nach Fertigstellung des Rohbaus Ende November oder Anfang Dezember 2015 nicht gegen das Bauvorhaben gewandt, sondern bis Juli 2016 zugewartet hat, bevor sie Maßnahmen eingeleitet hat. Dagegen hat die Klägerin keine durchgreifenden Argumente vorgebracht. Insbesondere ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen es ihr nicht möglich gewesen wäre, nach Fertigstellung des Rohbaus einen Rechtsanwalt mit der Vertretung ihrer Interessen zu beauftragen, so wie dies im Juli 2016 dann geschehen ist.
Dass möglicherweise die exakte Höhe der Bauten auf dem Grundstück des Beigeladenen erst nach kompletter Fertigstellung im Juni 2016 ersichtlich war, führt zu keiner anderen Einschätzung. Es war schon im Rohbau erkennbar, dass es sich um einen massiven Grenzanbau handelt und der Beigeladene für die Baumaßnahme erhebliche Investitionen getätigt hat. Es wäre daher erforderlich gewesen, schon vor der vollständigen Fertigstellung Maßnahmen einzuleiten und z.B. eine Baukontrolle zu beantragen, damit vom Landratsamt geprüft wird, ob das Vorhaben entsprechend der Genehmigung errichtet wird. Im Übrigen hat die Klägerin noch im Juni 2016 eine Kurznachricht an den Beigeladenen geschickt, sich damit aber nicht gegen die Grenzanbauten gewandt, sondern nur ihren Unmut über die Belästigungen durch die Bauarbeiten zum Ausdruck gebracht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt durfte der Beigeladene daher davon ausgehen, dass die Klägerin keine grundsätzlichen Einwände gegen sein Bauvorhaben hat.
Soweit die Klägerin vorträgt, das Verwaltungsgericht habe nicht geprüft, ob das Bauvorhaben sich innerhalb des genehmigten Rahmens befinde, sondern es habe nur das Urteil hinsichtlich der Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung kopiert, kann dies nicht zur Zulassung der Berufung führen. Für das Verwaltungsgericht war die Frage der materiellen Rechtmäßigkeit der Baumaßnahme des Beigeladenen nicht entscheidungserheblich, da es davon ausgegangen ist, die Klage auf bauaufsichtliches Einschreiten sei wegen Verwirkung des prozessualen Klagerechts schon mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Ob das Bauvorhaben des Beigeladenen die Vorgaben der Baugenehmigung einhält, unzulässige Aufschüttungen durchgeführt worden sind oder ob die Baugenehmigung zu unbestimmt ist, da das Geländeniveau nicht festgesetzt worden ist, bedurfte daher keiner Erörterung.
Als unterlegene Rechtsmittelführerin hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dass der Beigeladene seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt, § 162 Abs. 3 VwGO, denn ein Beigeladener setzt sich im Berufungszulassungsverfahren unabhängig von einer Antragstellung grundsätzlich keinem eigenen Kostenrisiko aus (vgl. BayVGH, B.v. 6.3.2017 – 15 ZB 16.562 – juris Rn. 18 m.w.N.). Ein Grund, der es gebieten würde, die außergerichtlichen Kosten aus Billigkeitsgründen ausnahmsweise als erstattungsfähig anzusehen, ist nicht ersichtlich. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 9.7.1. des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, Anhang) und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag, gegen den die Beteiligten keine Einwände erhoben haben.
Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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