Europarecht

Berufung, Kaufpreis, Sittenwidrigkeit, untersagung, Annahmeverzug, Fahrzeug, Feststellung, Umwelt, Laufleistung, Software, Zustimmung, Erstattung, Zahlung, Revision, vorgerichtlicher Anwaltskosten, nicht ausreichend, Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten

Aktenzeichen  12 U 4034/20

Datum:
22.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 52232
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

15 O 165/20 2020-12-11 LGWEIDEN LG Weiden

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Weiden i.d. OPf. vom 11.12.2020, Az. 15 O 165/20, abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klagepartei hat die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klagepartei kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision gegen dieses Urteil beim Bundesgerichtshof wird zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 19.661,56 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klagepartei fordert von der beklagten Partei Schadenersatz wegen der Motorsteuerung des Dieselmotors ihres Kraftfahrzeugs.
Sie kaufte am 20.05.2016 den von der Beklagten hergestellten Personenkraftwagen VW Passat, FIN: …61, bei der Autohaus B. GmbH in M. zu einem Kaufpreis von 26.950,00 € (damalige Laufleistung: 100 km). In dem Fahrzeug ist ein Dieselmotor Typ EA 288 Euro 6 verbaut, der ebenfalls von der Beklagten hergestellt wurde.
Die Klagepartei ist der Auffassung, dass auch in dem EA 189-Nachfolgemotor EA 288 eine unzulässige Abschalteinrichtung vorhanden sei. Nur auf dem Prüfstand erfolge der Schadstoffausstoß in der gesetzlich vorgeschriebenen Form. Denn der auf dem Prüfstand generierte Emissionswert erfolge infolge einer Veränderung der Betriebsweise losgelöst vom Stickoxidausstoß.
Erstinstanzlich hat die Klagepartei deshalb die Rückerstattung des Kaufpreises unter Abzug einer mit einer Gesamtlaufleistung von 350.000 km kalkulierten Nutzungsentschädigung geltend gemacht (20.713,20 €). Weiter begehrte sie die Feststellung von Annahmeverzug, die Zahlung von Deliktszinsen und die Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten (1.171,67 €).
Das Landgericht hat der Klage weitgehend stattgegeben und die Beklagte zur Zahlung von 19.661,56 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 4 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.05.2020 zu zahlen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs. Darüber hinaus wurden das Vorliegen von Annahmeverzug festgestellt und die Beklagte zur Zahlung von vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 1.171,67 € verurteilt. Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen.
Die Beklagte hat hiergegen Berufung eingelegt und beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klagepartei beantragt die Zurückweisung der Berufung.
Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze und das erstinstanzliche Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
Am 07.06.2021 hat der Senat die Klagepartei auf die fehlenden Erfolgsaussichten der Klage förmlich hingewiesen.
Mit Beschluss vom 27.07.2021 hat der Senat mit Zustimmung der Parteien eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 128 Abs. 2 ZPO) angeordnet.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist in vollem Umfang begründet. Die Klagepartei hat die Voraussetzungen eines Schadenersatzanspruchs nicht ausreichend dargelegt.
1. Ein Anspruch gemäß § 826 BGB steht der Klagepartei nicht zu. Nach dieser Vorschrift ist jeder, der in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, diesem zum Ersatz des Schadens verpflichtet.
Sittenwidrig ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (vgl. BGH, Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, ZIP 2021, 297, juris Rn. 14 m.w.N.; Beschluss vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19 Rn. 15 juris).
Ausgangspunkt aller Überlegungen und ein in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzender Gesichtspunkt ist, dass eine Prüfzykluserkennung – das Fahrzeug erkennt, ob es sich auf einem Prüfstand befindet – nicht per se unzulässig ist. So kann es beispielsweise erforderlich sein, dass bestimmte Sicherheitssysteme des Fahrzeugs auf dem Prüfstand automatisch abgeschaltet werden (OLG Frankfurt, Urteil vom 07.10.2020 – 4 U 171/18 Rn. 49, 55 juris).
Zum nicht streitgegenständlichen Motortyp EA 189 hat der Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasrückführung allerdings ein objektiv sittenwidriges Verhalten des Motorherstellers bejaht: „Die Beklagte hat auf der Grundlage einer für ihren Konzern getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung im eigenen Kosten- und damit auch Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des KBA systematisch, langjährig und in Bezug auf den Dieselmotor der Baureihe EA189 in siebenstelligen Stückzahlen in Deutschland Fahrzeuge in Verkehr gebracht, deren Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden. Damit ging einerseits eine erhöhte Belastung der Umwelt mit Stickoxiden und andererseits […] die Gefahr einher, dass bei einer Aufdeckung dieses Sachverhalts eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung hinsichtlich der betroffenen Fahrzeuge erfolgen könnte. Ein solches Verhalten ist im Verhältnis zu einer Person, die eines der bemakelten Fahrzeuge in Unkenntnis der illegalen Abschalteinrichtung erwirbt, besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren. Das gilt auch, wenn es sich um den Erwerb eines Gebrauchtfahrzeugs handelt. Die Sittenwidrigkeit ergibt sich aus einer Gesamtschau des festgestellten Verhaltens der Beklagten unter Berücksichtigung des verfolgten Ziels, der eingesetzten Mittel, der zutage getretenen Gesinnung und der eingetretenen Folgen“ (Beschluss vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19 Rn. 15 juris). Das an sich erlaubte Ziel der Erhöhung des Gewinns werde, so der Bundesgerichtshof weiter, auch im Verhältnis zu dem Käufer eines der betroffenen Fahrzeuge aber dann verwerflich, wenn es auf der Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung durch arglistige Täuschung der zuständigen Typgenehmigungs- und Marktüberwachungsbehörde – des KBA (§ 2 Abs. 1 EG-FGV) – erreicht werden soll, und dies mit einer Gesinnung verbunden ist, die sich sowohl im Hinblick auf die für den einzelnen Käufer möglicherweise eintretenden Folgen und Schäden als auch im Hinblick auf die insoweit geltenden Rechtsvorschriften, insbesondere zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt, gleichgültig zeigt (BGH, Beschluss vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19 Rn. 23 juris).
Gemessen an diesen Grundsätzen steht kein vorsätzlich sittenwidriges Verhalten der Beklagten (§ 826 BGB) im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Motortyp EA 288 fest:
a) Die Klagepartei beruft sich auf das Vorhandensein einer Umschaltlogik beim Motortyp EA 288, wonach die Motorsoftware erkennt, dass das Fahrzeug den Prüflauf nach dem Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) durchfährt und einen speziellen Betriebsmodus aktiviert, in dem die Abgasrückführung über das AGR-Ventil substantiell erhöht wird. Dieses Vorbringen ist allerdings prozessrechtlich nicht beachtlich, weil es sich um eine Behauptung „ins Blaue hinein“ handelt.
aa) Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das gilt insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den Vorgängen hat. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten. Weiter ist es einer Partei grundsätzlich nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Umstände zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich der Kläger nur auf vermutete Tatsachen stützen kann, weil sie mangels Sachkunde und Einblick in die Produktion des von der Gegenseite hergestellten und verwendeten Fahrzeugmotors einschließlich des Systems der Abgasrückführung oder -verminderung keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann. Eine Behauptung ist erst dann unbeachtlich, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt worden ist. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie nur beim Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte gerechtfertigt werden können (BGH, Beschluss vom 28.01.2020 – VIII ZR 57/19 Rn. 7 f. juris). Von einem Kläger kann nicht verlangt werden, dass er im Einzelnen darlegt, weshalb er von dem Vorhandensein einer oder mehrerer Abschalteinrichtungen ausgeht und wie diese konkret funktionieren. Vielmehr ist von ihm nur zu fordern, dass er greifbare Umstände anführt, auf die er den Verdacht gründet, sein Fahrzeug weise eine oder mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen auf (vgl. BGH, Beschluss vom 28.01.2020 – VIII ZR 57/19 Rn. 10 juris). Greifbare Anhaltspunkte sind nicht erst dann gegeben, wenn das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) auch bezüglich Fahrzeugen des beklagten Herstellers oder gar des konkreten Fahrzeugtyps des Klägers eine Rückrufaktion angeordnet hat (BGH, Beschluss vom 28.01.2020 – VIII ZR 57/19 Rn. 13 juris). Der Bundesgerichtshof hält insoweit das Vorbringen für ausreichend, dass aufgrund von Durchsuchungen der Staatsanwaltschaft im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens bekannt geworden ist, dass die V. AG auf Anordnung des KBA einen verpflichtenden Rückruf für diesen Motortyp durchzuführen habe und bereits in der Vergangenheit mehrere Fahrzeugtypen mit diesem Motortyp von einer Rückrufaktion betroffen gewesen seien.
bb) Davon ausgehend trägt die Klagepartei keine greifbaren Anhaltspunkte für ihre Behauptung vor, dass in dem Motorentyp EA 288 unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut sind.
(1) Einen Rückruf von Fahrzeugen mit dem streitgegenständlichen Motorentyp EA 288, dessen Ursache zudem in der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung liegen müsste, hat das KBA unstreitig nicht angeordnet. Ganz im Gegenteil: Nach dem Vorbringen der Beklagten habe das KBA den Motorentyp EA 288 untersuchen lassen und keine Unregelmäßigkeiten bei der Emissionskontrolle feststellen können. Die Untersuchungen hätten insgesamt 56 Messungen an 53 Fahrzeugmodellen umfasst, von denen mehrere mit dem Motortyp EA 288 ausgestattet gewesen seien (Klageerwiderung, Seite 7).
(2) Aus dem Umstand, dass es sich bei dem Motorentyp EA 189 um den Vorgängermotor zum streitgegenständlichen Typ EA 288 gehandelt hat, kann nicht geschlossen werden, dass auch in dem Nachfolgemodell eine unzulässige Abschalteinrichtung enthalten ist. Zwar baut jede Entwicklung auf Erkenntnissen des Vorgängermodells auf, doch lässt dies – zumindest nicht für sich – den Schluss darauf zu, dass bestimmte (software-)technische Einrichtungen im Nachfolgemodell beibehalten werden (OLG Stuttgart, Beschluss vom 19.01.2021 – 16a U 196/19 Rn. 54 juris; OLG Dresden, Urteil vom 04.12.2020 – 9a U 2074/19 Rn. 30 juris).
(3) Sich womöglich zum Teil sogar nicht unerheblich unterscheidende Testergebnisse im Prüfstand- und im tatsächlichen Straßenbetrieb sind ohne hinreichende Aussagekraft für die hier bedeutsame Frage, ob das Emissionskontrollsystem des Motortyps EA 288 mittels eines Umschaltsystems zwischen Prüfstand und realem Fahrbetrieb unterscheidet und darauf mit unterschiedlichen Verfahrensabläufen bei der Abgasemission reagiert (OLG Frankfurt, Urteil vom 07.10.2020 – 4 U 171/18 Rn. 44 juris; OLG Bamberg, Urteil vom 26.11.2020 – 1 U 368/19 Rn. 41 juris; OLG Stuttgart, Urteil vom 19.01.2021 – 16a U 196/19 Rn. 60 ff. juris; a.A. OLG Köln, Urteil vom 12.03.2020 – 3 U 55/19 Rn. 40 juris). Es ist gerichtsbekannt, dass Emissionswerte regelmäßig im normalen Fahrbetrieb höher sind als unter Prüfbedingungen. In diesem Sinne stellte auch der Bundesgerichtshof (Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19 Rn. 18 juris) klar, dass die Rate der Abgasrückführung im normalen Fahrbetrieb derjenigen auf dem Prüfstand nur „unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen (Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Widerstand etc.)“ entsprechen kann. Da der europäische Gesetzgeber für die Schadstoffnormen EU 5 und EU 6 im Jahr 2013 die Messung allein im Prüfstandbetrieb festgelegt hatte und erst zwischenzeitlich für Neufahrzeuge Messungen im Normalbetrieb nach WLTP-Standard vorschreibt, kommt es nicht darauf an, dass das Fahrzeug im Normalbetrieb die der Zulassung zugrunde liegenden Werte im NEFZ nicht einhält (OLG Frankfurt, Urteil vom 07.10.2020 – 4 U 171/18 Rn. 44 juris). Dem Senat ist auch kein bestimmter Faktor bekannt, ab dem eine GrenzwertÜberschreitung im Realbetrieb sich nicht mehr allein mit oben genannten Umständen erklären lässt (ebenso OLG Stuttgart, Urteil vom 19.01.2021 – 16a U 196/19 Rn. 63 juris).
(4) Ein greifbarer Anhaltspunkt für das Vorhandensein einer Umschaltlogik ergibt sich auch nicht aus der von der Klagepartei zitierten „Entscheidungsvorlage: Applikationsrichtlinien & Freigabevorgaben EA 288“. Dort heißt es: „NSK: Bedatung, Aktivierung und Nutzung der Fahrkurven zur Erkennung des Precon und des NEFZ, um die Abgasnachbehandlungsevents (DeNOx- / DESOx-Events) nur streckengesteuert zu platzieren. Im normalen Fahrbetrieb strecken- und beladungsgesteuerte Platzierung der Events; Beladungssteuerung als führende Größe“. Die Beklagte hat hierzu bereits erstinstanzlich (Schriftsatz vom 05.11.2020, Seiten 19 ff.) nachvollziehbar die Hintergründe – die Vermeidung von verzerrten NEFZ-Testergebnissen – erläutert: Bis zur Kalenderwoche 22 des Jahres 2016 sei die NSK-Regeneration im realen Straßenbetrieb je nach Fahrprofil bei den EA 288 EU6-Motoren strecken- und beladungsgesteuert ca. alle 5 gefahrene km bzw. nach voller Beladung vollzogen worden, je nachdem, welches Ereignis vorher eingetreten sei (gefahrene Strecke oder volle Beladung). Aufgrund dieser ca. alle 5 km erfolgenden Regenerationsintervalle würde die Anzahl der Regenerationen, die während des gesetzlichen Prüfzyklus NEFZ (11 km) gefahren werden, davon abhängen, in welchem Beladungszustand der NSK sich zu Beginn des Prüfzyklus befinde: Sei der NSK leer oder fast leer, könne es während des NEFZ-Prüfzyklus nach Erreichen der jeweiligen ca. 5 km Strecke zu zwei Regenerationen kommen. Sei der NSK voll oder fast voll, könne dies während des NEFZ-Zyklus zu drei Regenerationen führen. Die Messergebnisse zwischen diesen beiden Fällen eines anfänglich nahezu leeren und vollen NSK seien nicht vergleichbar. Vorstehender Passus zur Anwendungsbeschreibung ist danach als tatsächlicher Anhaltspunkt für das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung ungeeignet (ebenso OLG Stuttgart, Urteil vom 19.01.2021, 16a U 196/19 Rn. 36 ff. juris; a.A. OLG Naumburg, Urteil vom 09.04.2021, 8 U 68/20).
Darüber hinaus erweist sich die vorgenannte Passage aus einem weiteren Grund als ungeeigneter Anknüpfungspunkt für eine Haftung der Beklagten. Denn die Beklagte selbst stellte alle dort gemachten Vorgaben im nächsten Absatz ausdrücklich unter den Vorbehalt gesetzmäßigen Handelns: „SOP vor 22/16 (für SOP, Modellpflege und KD-Master): Die o.g. Umschaltungen anhand der Fahrkurven bleiben bestehen unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben für Roh- und Endrohremissionen. SOP ab 22/16 (für SOP, Modellpflege): Bei neuen Freigaben sind die Fahrkurven aus der Software entfernt. Umschaltungen oder die Platzierung von Abgasnachbehandlungsevents muss auf Basis physikalischer Randbedingungen unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben für Roh- und Endrohremissionen erfolgen.“
(5) Folgender weiterer Vortrag der Klagepartei zu der Applikationsrichtlinie ist schon nicht einlassungsfähig (Schriftsatz vom 11.09.2020, Seite 2): „Als Diskussionspunkt ergibt sich ferner aus den internen Unterlagen der Beklagten eine ‘Strategie zur NSpK-Strategie EU 6 im Zyklus und außerhalb des Zyklus’. Eine eigene Folie der Power-Point-Präsentation widmet sich einer ‘Umschaltstrategie Bedatungsebenen EA 288 Eu6 NSK’ mit einer Strategie 1 ‘aktiv ab Motorstart’ und einer Strategie 2 ‘nach Verlassen des Strecken-Zeit-Korridors’, was zum einen mit ‘Emissionseinfluss Nein’ betitelt wird, aber in Ausgestaltung und Folgen ebenfalls dunkel bleibt.“
b) Soweit die Klagepartei weiter streitig vorträgt, dass die Abgasrückführung lediglich in Lagen bis zu 1000 Höhenmetern erfolgt, handelt es sich nach den bereits dargelegten Grundsätzen um eine prozessual unbeachtliche Behauptung „aufs Geratewohl“. Die Ausführungen unter a) gelten sinngemäß.
c) Auch der Vortrag der Klagepartei zum Einsatz eines sog. Thermofensters zur (außen) temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung vermag ein sittenwidriges Handeln der Beklagten (§ 826 BGB) nicht schlüssig zu begründen.
Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19 Rn. 16 juris) reicht der Umstand, dass die Abgasrückführung im Fahrzeug des Klägers durch eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems bei einstelligen Positivtemperaturen reduziert und letztlich ganz abgeschaltet wird, für sich genommen nicht aus, um dem Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen ein sittenwidriges Gepräge zu geben. Dabei könne zugunsten des Klägers in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unterstellt werden, dass eine derartige temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung 715/2007/EG zu qualifizieren ist (vgl. zu Art. 5 der Verordnung 715/2007/EG auch EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – C-693/18, Celex-Nr. 62018CJ0693).
Zur Begründung führt der Bundesgerichtshof aus: Der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems sei nicht mit der Fallkonstellation zu vergleichen, dass der Automobilhersteller die grundlegende strategische Frage, mit welchen Maßnahmen er auf die Einführung der – im Verhältnis zu dem zuvor geltenden Recht strengeren – Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm reagieren würde, im eigenen Kosten- und Gewinninteresse dahingehend entscheidet, von der Einhaltung dieser Grenzwerte im realen Fahrbetrieb vollständig abzusehen und dem KBA stattdessen zwecks Erlangung der Typgenehmigung mittels einer eigens zu diesem Zweck entwickelten Motorsteuerungssoftware wahrheitswidrig vorzuspiegeln, dass die von ihm hergestellten Dieselfahrzeuge die neu festgelegten Grenzwerte einhalten. Die Software sei in diesem Fall bewusst und gewollt so programmiert, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten würden (Umschaltlogik), und ziele damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde ab (BGH, Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19 Rn. 17 juris; Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20 Rn. 16 juris). Bei dem Einsatz eines Thermofensters fehle es an einem derartigen arglistigen Vorgehen des Automobilherstellers, das die Qualifikation seines Verhaltens als objektiv sittenwidrig rechtfertigen würde. Die im streitgegenständlichen Fahrzeug eingesetzte temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung unterscheide nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befinde. Sie weise keine Funktion auf, die bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviere und den Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziere, sondern arbeite in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise. Unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen (Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Widerstand, etc.) entspreche die Rate der Abgasrückführung im normalen Fahrbetrieb derjenigen auf dem Prüfstand (BGH, Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19 Rn. 18 juris). Der Bundesgerichtshof erachtete dementsprechend in Bezug auf § 826 BGB allein den Umstand, dass die Abgasrückführung nur bei Außentemperaturen zwischen 15 und 33 Grad Celsius in vollem Umfang stattfindet und außerhalb dieser Bedingungen deutlich reduziert wird, nicht als haftungsbegründend (Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20 Rn. 25 juris).
Für eine Haftung nach § 826 BGB bedarf es vielmehr „weiterer Umstände“, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen. Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Applikation der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine (weitere) unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (BGH, Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20 Rn. 28 juris).
Der 7. Senat des Bundesgerichtshofs hat diese Grundsätze ausweislich einer Pressemitteilung jüngst in vier Verfahren zu dem von der D. AG hergestellten Dieselmotor der Baureihe OM 651 bestätigt (Urteile vom 16.09.2021, VII ZR 190/20, 286/20, 321/20 und 322/20).
Im Streitfall zeigt die Berufung keinen Sachvortrag der insoweit darlegungsbelasteten Klagepartei (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, Rn. 35; Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, Rn. 19) auf, dem Anhaltspunkte für ein solches Vorstellungsbild der für die Beklagte handelnden Personen zu entnehmen wären. Die von der Klagepartei – bestritten – vorgetragene Größe des für die Intensität der Abgasrückführung maßgeblichen Temperaturfensters (15 bis 33 Grad Celsius) begründet für sich genommen die Haftung nicht (siehe bereits oben: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20 Rn. 25 juris).
2. Nach vorstehenden Ausführungen bestehen auch weitere deliktische Ansprüche (aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. der Verletzung von Schutzgesetzen oder aus § 831 BGB) nicht. Die Klagepartei kann auch nicht aus den Grundsätzen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter eigene vertragliche Ansprüche gegen die Beklagte herleiten.
III.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
3. Die Revision wird im Hinblick auf die bislang höchstrichterlich nicht entschiedene Frage zugelassen, ob sich aus dem vorgelegten Auszug aus der Applikationsrichtlinie der Beklagten (siehe II 1 a bb (4)) ein hinreichend substantiierter Sachvortrag für das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung beim Motortyp EA 288 ergibt.
4. Die Streitwertfestsetzung bemisst sich nach § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG, § 3 ZPO.


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