Europarecht

Dublin-III-VO, Familienzusammenführung, Ermessensreduzierung auf Null, Glaubhaftmachung, Nationales Abschiebungsverbot, Verwaltungsgerichte, Einstweilige Anordnung, Zustimmungserklärung, Antragstellers, Antragsgegner, Minderjähriges Kind, Ermessensentscheidung, Mitgliedstaaten, Überstellungsentscheidung, Asylverfahren, Humanitäre Gründe, Behörden, Ärztliches Attest, Subsidiärer Schutz, VG Ansbach

Aktenzeichen  AN 17 E 20.50374

Datum:
7.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38177
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
Dublin III-VO, Art. 9, Art. 16, Art. 17 Abs. 2
Art. 5, Art. 11 VO (EG) 1560/2003 (EU-Asylantragzuständigkeits-DVO)
EMRK Art. 8
GRCh Art. 7, Art. 24 Abs. 3, Art. 33, Art. 52 Abs. 3

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt von Griechenland aus die Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland bzw. den Nachzug zu seiner in Deutschland lebenden Ehefrau und den drei gemeinsamen Kindern aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO).
Der Antragsteller ist eigenen Angaben nach … 1976 geboren und befindet sich derzeit im „Reception and Identification Center“ auf der Insel Lesbos in Griechenland. Seine Ehefrau, … (alias … geb. …1986) und drei gemeinsame Kinder, … … (alias …, geb. …2000), … … (geb. …2004) und … … (geb. …2013), leben in Deutschland. Hinsichtlich aller wurde durch Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 18. April 2018 bzw. 4. Juni 2018 (… …) ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan zuerkannt und liegen Ablichtungen von Aufenthaltstiteln nach § 25 Abs. 3 AufenthG der Stadt …, gültig bis zum 10. Juli bzw. 13. Juli bzw. 31. Juli 2021, vor. Der Antragsteller stellte am 31. Januar 2020 einen Asylantrag in Griechenland.
Am 20. März 2020 ersuchte Griechenland die Bundesrepublik Deutschland unter Berufung auf Art. 9 Dublin III-VO, die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrages der Antragstellerinnen zu übernehmen. Das Gesuch enthielt eine schriftliche Zustimmungserklärung der Frau … … vom 4. Februar 2020, dass sie mit einem Zuzug ihres Ehemannes, dem Antragsteller, zur ihr nach Deutschland einverstanden sei. Weiterhin Ablichtungen der afghanischen Reisepässe des … …, des … …, der … … und der … … sowie der bereits erwähnten Aufenthaltstitel. Zudem ein Datenblatt in griechischer Sprache mit einem Porträtfoto wohl des Antragstellers sowie ein wohl älteres Personaldokument in einer Fremdsprache mit einem Schwarzweißfoto wohl des Antragstellers und eine Ablichtung des afghanischen Reisepasses des Antragstellers. Und schließlich eine schriftliche Zustimmungserklärung des Antragstellers vom 18. Februar 2020, dass er eine Wiedervereinigung mit seiner Ehefrau … … wünsche.
Die Bundesrepublik Deutschland lehnte dieses Aufnahmegesuch der griechischen Behörden mit Schreiben vom 8. April 2020 mit der Begründung ab, dass sich eine Zuständigkeit Deutschlands nicht aus Art. 9 Dublin III-VO ergebe, weil die in Deutschland lebenden Referenzpersonen keinen internationalen Schutzstatus genössen, sondern ihnen nur ein nationales Abschiebungsverbot zuerkannt worden sei.
Mit Schreiben vom 28. April 2020 remonstrierten die griechischen Behörden gegen diese Entscheidung und baten angesichts des aus dem nationalen Abschiebungsverbot folgenden dauerhaften Aufenthaltes der Ehefrau des Antragstellers und der drei gemeinsamen Kinder in Deutschland, um eine erneute Prüfung der Zuständigkeitsübernahme nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO.
Am 29. April 2020 antwortete das Bundesamt den griechischen Behörden, dass der vorliegende Fall keine so signifikante Abweichung vom Durchschnittsfall aufweise, die eine Anwendung des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO rechtfertigen würde.
Mit Schreiben vom 12. Oktober 2020 übersandten die griechischen Behörden Farbkopien der Tazkiras des … …, des … … und der … … sowie einen Bericht des Vereins „… e.V.“ vom 9. Oktober 2020, unterzeichnet durch den Diplom-Sozialpädagogen … … Darin war ausgeführt, dass Frau … … als alleinerziehende Frau und aufgrund des liberalen Lebensstils der Familie Anfeindungen anderer afghanischer Flüchtlinge ausgesetzt gewesen sei, die auch in einen tätlichen Angriff mündeten, der nur durch einen Polizeieinsatz geklärt habe werden können, woraufhin die Familie die Unterkunft habe wechseln dürfen. … … sei als alleinerziehende Mutter überfordert, was auch ihre Gesundheit beeinträchtige. So sei sie untergewichtig und ihr schwacher Kreislauf habe erst letzte Woche zu einem Zusammenbruch geführt. Ihr fehle die Kraft, sich um die drei Kinder zu kümmern und wegen ihrer Rolle als Alleinerziehende habe sie in den vergangenen Jahren kaum Deutschkurse besuchen können. Aufgrund der Überforderung der Mutter sei die volljährige Tochter … … in die Rolle des Familienoberhauptes gedrängt worden, womit diese völlig überfordert und deshalb in psychiatrischer Behandlung sei und trotz medikamentöser Behandlung Suizidabsichten äußere. Den Besuch einer weiterführenden Schule habe sie abbrechen müssen. Auch der 16-jährige Sohn … … sei in psychotherapeutischer Behandlung und leide an der Situation der Familie ohne den Vater. Der jüngste, siebenjährige Sohn … … zeige in der Schule Verhaltensauffälligkeiten und verbringe einen Großteil des Tages vor dem Fernseher. Das Familienkonstrukt sei ohne den Vater extrem instabil. Ein endgültiger Zusammenbruch von Mutter oder volljähriger Tochter habe daher zwangsläufig eine Intervention des Jugendamtes und eine Inobhutnahme der minderjährigen Kinder zur Folge.
Daraufhin antwortete die Bundesrepublik Deutschland am 21. Oktober 2020 und führte aus, dass die Remonstrationsfrist nach Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) bereits am 29. April 2020 abgelaufen und somit der Fall endgültig abgeschlossen sei.
Mit am 23. November 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten hat der Antragsteller einen Antrag nach § 123 VwGO gestellt und beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Migrationsministerium – Nationales Dublin-Referat für den Asylantrag des Antragstellers für zuständig zu erklären.
Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass ein Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf Zuständigkeitsübernahme aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO folge. Das Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Antragsteller und der in Deutschland lebenden Ehefrau sowie der drei gemeinsamen Kinder sei hinreichend belegt und glaubhaft gemacht durch die Vorlage der Tazkiras und der Pässe. Die vorgelegten Unterlagen stellten einen Beweis im Sinne des Anhangs II der Dublin-DurchführungsVO dar, den die Antragsgegnerin nicht durch Gegenbeweis widerlegt habe. Im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO spiele auch das Fristenregime der Art. 21 ff. Dublin III-VO und des Art. 5 Abs. 2 Dublin-DurchführungsVO keine Rolle, da Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO eigene Verfahrens- und Fristenregelungen enthalte. Schließlich lägen auch humanitäre Gründe, insbesondere mit Blick auf den Grundgedanken der Einheit der Familie, vor. Bei dem Antragsteller und den in Deutschland lebenden Referenzpersonen handele es sich um Eheleute bzw. um Vater und (minderjährige) Kinder. Es seien über das bloße Interesse an der Familienzusammenführung hinausgehende Umstände gegeben, die zu einer Verdichtung des Ermessens zu einer Pflicht zur Familienzusammenführung führten und jede andere Entscheidung unvertretbar erscheinen ließen. Das beträfe zum einen das Kindeswohl der minderjährigen Kinder … und … …, die zwar selbst nicht Antragsteller seien, deren Belange jedoch im Rahmen einer Gesamtbewertung zu berücksichtigen seien. Die Kinder seien seit über vier Jahren vom Vater und Antragsteller getrennt. Die Trennung sei nur aufgrund der Fluchtumstände und der Sicherstellung des Schutzes der Kinder der Familie erfolgt, eine dauerhafte Trennung sei nicht gewollt gewesen. Jedenfalls könne die Trennung des Antragstellers von der Restfamilie nicht zum Nachteil der minderjährigen Kinder gereichen, die auf die Geschehnisse aufgrund ihres Alters keinen Einfluss gehabt hätten. … … sei gerade sieben Jahre alt und … … bei der Trennung vom Vater elf Jahre alt gewesen. In diesem Alter sei eine Trennung von den Eltern allenfalls ausnahmsweise hinnehmbar. Beide Kinder litten nach den vorgelegten Berichten zudem an psychischen Problemen aufgrund der Familientrennung. Für … … wurde mit der Antragsbegründung ergänzend eine Stellungnahme des Diplom-Pädagogen … … vom 9. November 2020 vorgelegt, in der ausgeführt wurde, dass … … sich seit Oktober 2019 in verhaltenstherapeutischer Behandlung befinde wegen Zwangsgedanken und -handlungen. Der Patient berichte von Schlafstörungen und Zwangsgedanken sowie Ängsten, welche die Bewältigung der Tagesstruktur und den Schulbesuch nur unter großen Anstrengungen erlaubten. Er mache sich Sorgen um seinen auf Lesbos befindlichen Vater. Aus therapeutischer Sich sei prognostisch von einem positiveren Therapieverlauf auszugehen, sollte eine Familienzusammenführung gelingen. Zum anderen seien auch die Ehefrau des Antragstellers, … …, und die volljährige Tochter … … psychisch und physisch stark durch die Situation belastet. … … kämpfe mit Depressionen und habe bereits mehrere Zusammenbrüche erlitten und auch … … leide an Angstzuständen, Depressionen und suizidalen Gedanken. Was die geschilderten psychischen Probleme anbelange, sei eine Glaubhaftmachung durch ärztliche Atteste nicht erforderlich, da etwa Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO von einem geringeren Nachweismaßstab ausgehe. Nach Art. 11 Abs. 2 Dublin-DurchführungsVO könne auch bei völliger Abwesenheit medizinischer Nachweis die Hilfsbedürftigkeit von Familienangehörigen durch Glaubhaftmachung nachgewiesen werden. Insgesamt ergebe sich auch deshalb eine Ermessensreduzierung auf Null, da das Recht des Antragstellers und seiner Familie auf Familieneinheit aus Art. 8 EMRK verletzt worden sei. Im Übrigen sei die Sachlage der durch Art. 9 Dublin III-VO geregelten ähnlich. Dieser finde nur deshalb keine Anwendung, da die Referenzpersonen keinen internationalen Schutz genössen, sondern nur ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden sei. Die Belange des Kindeswohls und der Familieneinheit müssten aber trotzdem durchgreifen, wofür Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO gerade geschaffen sei.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den Akteninhalt und teilt mit, dass auch nach nochmaliger Überprüfung durch das zuständige Fachreferat nicht von einem humanitären Ausnahmefall ausgegangen wird.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogene elektronische Akte des Antragstellers sowie der in Deutschland lebenden Referenzpersonen beim Bundesamt sowie die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig (1.), insbesondere ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach für die Entscheidung zuständig, aber unbegründet (2.).
1. a)
Die örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Ansbach ergibt sich aus § 52 Nr. 2 Satz 3, Nr. 3 Satz 3 Halbsatz 2, Nr. 5 VwGO, da sich der Antragsteller in Griechenland auf der Insel Lesbos aufhält. Die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 -1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO und auch § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 2, Nr. 3 Satz 2 VwGO greift daher nicht, denn der Antragsteller hat weder i.S.d. § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO seinen Aufenthalt nach den Vorschriften des Asylgesetzes zu nehmen noch verfügt er über einen Wohnsitz im Bundesgebiet (§ 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO), weshalb für die örtliche Zuständigkeit nur die Auffangregelung des § 52 Nr. 3 Satz 3, Nr. 5 VwGO in Betracht kommt. Danach ist dasjenige Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Antragsgegnerin ihren Sitz hat. Wird der Antrag gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtet, ist auf den Sitz der handelnden Behörde abzustellen. Im vorliegenden Fall ist dies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), das seinen Sitz in Nürnberg und mithin nach Art. 1 Abs. 2 Nr. 4 AGVwGO im Bezirk des Verwaltungsgerichts Ansbach hat (zum Ganzen BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Personen, zu denen zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftreten und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
b) Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig.
Der Antragsteller ist entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt, wofür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts ausreicht. Eine solche ergibt sich für den Antragsteller jedenfalls aus der humanitären Ermessensklausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, auch soweit er sich aus dem Ausland auf sie beruft (VG Freiburg, B.v. 18.6.2020 – A 3 K 1718/20 – juris Rn. 27; VG Ansbach, B.v. 26.11.2019 – AN 18 E 19.50958 – juris Rn. 23; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; s.a. BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 12).
Der Antrag nach § 123 VwGO ist auch nicht aus anderen Gründen unstatthaft. Zwar sieht die Dublin III-VO in deren Art. 27 nur Rechtsmittel gegen Überstellungsentscheidungen vor, allerdings ist im Lichte des Art. 47 GRCh als Primärrecht (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV) auch ein Rechtsbehelf für die vorliegende Konstellation bereitzustellen. Ein Verweis auf die griechischen Gerichte trägt insofern nicht, als diese nicht das Bundesamt als Behörde der Bundesrepublik zur Zuständigkeitsübernahme verpflichten könnten (so VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 21; a.A. etwa VG Bayreuth, B.v. 17.02.2020 – B 8 E 19.50589, BeckRS 2020, 15734 Rn. 50 ff.; offenlassend VG Düsseldorf, B.v. 28.1.2020 – 15 L 3299/19.A – BeckRS 2020, 1383 Rn. 35). Dies überzeugt auch angesichts der Erwägungsgründe der Dublin III-VO, insbesondere der Erwägungsgründe 13, der die Mitgliedstaaten insbesondere auf die Berücksichtigung der Belange von Minderjährigen verpflichtet, 14, der die Achtung des Familienlebens als vorrangige Erwägung bei der Anwendung der Dublin III-VO definiert, 15, der eine gemein-same Bearbeitung der Anträge von Familienmitgliedern zur Vermeidung einer Trennung an-mahnt, sowie 16 und 17, die das Fundament für die Art. 8 ff. und 17 Abs. 2 Dublin III-VO legen. Zudem ist, auch wenn sich der Europäische Gerichtshof soweit ersichtlich noch nicht explizit zur Frage der Rechtsschutzmöglichkeit gegen eine ablehnende Übernahmeentscheidung des Zielstaates auf Basis der Art. 8 ff. Dublin III-VO geäußert hat, angesichts seiner Entscheidungen zum drittschützenden Charakter sowohl der in Kapitel III der Dublin-III VO festgelegten Zuständigkeitskriterien (Art. 7 ff. Dublin III-VO) sowie des Ablaufs von Antrags-, Antwort- und Überstellungsfristen nach der Dublin III-VO, etwa nach Art. 21 Abs. 1 oder Art. 29 Dublin III-VO, und der Möglichkeit sich im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung hierauf zu berufen (EuGH, U.v. 7.6.2016 – Ghezelbash, C-63/15 – NVwZ 2016, 1157; EuGH, U.v. 7.6.2016 – Karim, C-155/15 – NVwZ 2016, 1155; EuGH, U.v. 25.10.2017 – Shiri, C-201/16 – NVwZ 2018, 43 Ls. 2 u. Rn. 35 ff.; EuGH, U.v. 26.7.2017 – Mengesteab, C-670/16 – NVwZ 2017, 1601; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 29 AsylG Rn. 42 m.w.N.), davon auszugehen, dass der Europäische Gerichtshof die rechtswidrige Ablehnung eines auf die Art. 8 ff. Dublin III-VO gestützten Übernahmegesuchs ohne die Möglichkeit des Rechtsschutzes hiergegen nicht akzeptieren würde.
Dem Antrag fehlt auch nicht das allgemeine Rechtschutzbedürfnis aufgrund einer teilweisen allgemeinen Aussetzung von Abschiebungen und Überführungen von Personen durch die Nationalstaaten wegen der aktuellen Gefahrenlage bzw. zur Eindämmung der pandemischen Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2. Ebenso wenig stehen die aktuellen tatsächlichen Einschränkungen im Flug- und im sonstigen Reiseverkehr und nationale Einreisebestimmungen, die eine Zusammenführung der Personen in der Bundesrepublik derzeit möglicherweise verhindern, dem Antrag entgegen. Der Antrag ist nicht auf die tatsächliche Überführung des Antragstellers in die Bundesrepublik Deutschland gerichtet, so dass es auf die derzeitige eventuelle Unmöglichkeit der Durchführung nicht ankommt, sondern auf die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für eine Überführung, nämlich auf die Zustimmung der Antragsgegnerin zur einer – auch später noch möglichen, und nicht auf Dauer unmöglichen – Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland.
2. a)
Der Antrag ist jedoch unbegründet, da zwar wohl von einem Anordnungsgrund auszugehen ist, weil nach einer etwaigen Entscheidung über den Asylantrag des Antragstellers in Griechenland ein Nachzug zur Ehefrau und den drei Kindern nach den Regularien der Dublin III-VO ausgeschlossen ist; dies kann aber letztlich offenbleiben. Jedenfalls ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache aber dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris Rn. 5, 7).
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Der Antragsteller hat insbesondere weder einen Anspruch aus Art. 9 Dublin III-VO, noch aus Art. 16 oder 17 Abs. 2 Dublin III-VO glaubhaft gemacht.
b) Ein Anspruch aus Art. 9 Dublin III-VO scheidet schon deshalb aus, weil die Referenzpersonen, zu denen der Antragsteller den Zuzug begehrt – seine mutmaßliche Ehefrau und drei gemeinsame Kinder – sich nicht als Begünstigte internationalen Schutzes in Deutschland aufhalten. Sie genießen ausweislich ihrer Bundesamts-Akten jeweils und lediglich ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Afghanistan. Die Asylanträge auf Anerkennung als Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG und auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG wurden bestandskräftig abgelehnt.
c) Ebenso wenig folgt ein Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf Zuständigkeitsübernahme aus Art. 16 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO.
Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO setzt voraus, dass das Kind, ein Geschwister oder ein Elternteil des Antragstellers, welches sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, auf die Unterstützung des Antragstellers in einer der in Art. 16 Abs. 1 Alt. 1 Dublin III-VO genannten besonderen Lebenslagen – also Schwangerschaft, neugeborenes Kind, schwere Krankheit, ernsthafte Behinderung oder hohes Alter – angewiesen ist (Vollrath in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 6. Edition 1.10.2020, Art. 16 Dublin III-VO Rn. 1 f.). Dann entscheiden die Mitgliedstaaten gemäß Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO „in der Regel“, den Antragsteller und die oben genannten Familienangehörigen zusammenzuführen, sofern die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat, der Antragsteller in der Lage ist, die abhängige Person zu unterstützen und die betroffenen Personen ihren Wunsch schriftlich kundgetan haben.
Zunächst fällt die in Deutschland lebende Ehefrau des Antragstellers, … …, nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO und kann damit nicht Anknüpfungspunkt eines Anspruchs aus dieser Norm sein. Diese umfasst, anders als etwa Art. 9 Dublin III-VO i.V.m. Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO, nicht den Ehegatten. Kinder, auch volljährige, sind zwar erfasst, gleichwohl ist bei keinem der drei in Deutschland lebenden Kinder des Antragstellers, … … (alias … …, geb. …2000), … … (geb. …2004) und … … (geb. …2013), eine besondere Lebenslage und ein Angewiesen sein auf die Unterstützung des Antragstellers im obigen Sinne glaubhaft gemacht. Eine analoge Anwendung des Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO auch auf Ehegatten ist deshalb nicht angezeigt, weil mit Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO eine Regelung zur Familienzusammenführung aus humanitären Gründen besteht, die unbestritten auch und gerade Ehegatten umfasst (a.A. Hruschka/Maiani in Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Ed. 2016, Art. 16 Dublin III-VO Rn. 13).
Hinsichtlich des Maßstabes der Glaubhaftmachung ist Art. 11 der VO (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin-DurchführungsVO) heranzuziehen. Nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Dublin-DurchführungsVO werden zur Bewertung der Hilfsbedürftigkeit von Familienangehörigen nach Möglichkeit objektive Schriftstücke, z.B. ärztliche Atteste, herangezogen. Sind diese nicht verfügbar oder können diese nicht beigebracht werden, kann das Vorliegen humanitärer Gründe gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 2 Dublin-DurchführungsVO nur dann als gegeben angesehen werden, wenn die Beteiligten dies durch entsprechende Angaben glaubhaft machen können. Maßgebend ist in jedem Fall die Überzeugung, dass der Antragsteller die benötigte Hilfe tatsächlich erbringen wird, Art. 11 Abs. 4 Dublin-DurchführungsVO.
aa) Was die älteste Tochter des Antragstellers, … … (alias … …, geb. …2000), anbelangt wurde vorgetragen, dass diese in Folge der aktuellen Situation an Angstzuständen, Depressionen und suizidalen Gedanken leide und eine Zusammenführung mit dem Antragsteller als Vater erheblich zu einer Stabilisierung der Lebenssituation und Gesundheit beitragen würde. Ein ärztliches oder Attest eines Psychologen bzw. Psychotherapeuten liegt nicht vor, lediglich wurde durch die griechischen Behörden mit Schreiben vom 12. Oktober 2020 an das Bundesamt die Stellungnahme des Vereins … e.V. vom 9. Oktober 2020, verfasst durch den Mitarbeiter … … (Diplom-Sozialpädagoge, Systemischer Berater), übersandt. In diesem ist zu … … ausgeführt, dass sie in psychiatrischer Behandlung sei und trotz medikamentöser Therapie suizidale Gedanken äußere. Dies genügt nicht den Anforderungen an eine Glaubhaftmachung der Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO. Zwar ist dafür die Vorlage eines ärztlichen Attestes gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 2 Dublin-DurchführungsVO nicht zwingend erforderlich, wenn ein solches nicht verfügbar ist oder nicht beigebracht werden kann. Allerdings ist hier zum einen schon nicht ersichtlich, welche tatsächlichen Hindernisse der Beschaffung eines Attestes des behandelnden Psychiaters entgegengestanden haben. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 Dublin-DurchführungsVO dient seinem Sinn und Zweck nach letztlich dazu, eine Beweis- oder Darlegungsnot abzumildern für den Fall, dass objektive Schriftstücke im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Dublin-DurchführungsVO nicht zeitnah beigebracht werden können. Zum anderen genügen die gemachten Angaben für sich genommen nicht zur Glaubhaftmachung des Vorliegens einer schweren Krankheit im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO, weil sie zu pauschal gehalten sind. Eine psychiatrische Erkrankung kann durchaus eine schwere Krankheit nach Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO sein, allerdings ist die Schwere näher darzulegen, etwa durch die Angaben seit wann und in welchem Intervall die Behandlung erfolgt, ob sie stationär oder ambulant erfolgt und welche verschreibungspflichtigen Medikamente eingenommen werden müssen. Darüber hinaus ist nicht glaubhaft gemacht, inwieweit die volljährige Tochter des Antragstellers, … …, auf die Unterstützung ihres Vaters gemäß Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO „angewiesen“ ist, es wird lediglich pauschal vermutet, die Zusammenführung mit dem Vater würde die Lebenssituation stabilisieren und zur psychischen und physischen Gesundheit beitragen. Darauf aufbauend wäre nach Art. 11 Abs. 4 Dublin-DurchführungsVO noch darzulegen gewesen, dass die von … … benötigte Hilfe auch tatsächlich durch den Antragsteller erbracht werden wird. Davon abgesehen erfolgte die Übermittlung der Stellungnahme des Vereins … e.V. vom 9. Oktober 2020 durch die griechischen Behörden an das Bundesamt zu spät, nämlich erst am 12. Oktober 2020. Nach Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Dublin-DurchführungsVO konnte Griechenland nach Ablehnung seines Übernahmegesuchs hinsichtlich des Antragstellers an die Bundesrepublik Deutschland am 8. April 2020 binnen drei Wochen eine neuerliche Prüfung verlangen, was auch mit Schreiben vom 28. April 2020 geschah. Am 12. Oktober 2020 war das Überprüfungsverfahren jedenfalls abgeschlossen, nachdem Deutschland bereits am 29. April 2020 erklärt hatte, bei seiner ablehnenden Entscheidung zu bleiben. Im Rahmen des Art. 16 Dublin III-VO gilt, anders als bei Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 bis 4 Dublin III-VO (VG Ansbach, B.v. 28.4.2020 – AN 17 E 20.50157 – juris Rn. 41), das Fristenregime der Art. 21 ff. Dublin III-VO und des Art. 5 Dublin-DurchführungsVO (vgl. die Begründung zu Art. 8 Dublin III-VO bei VG Ansbach, U.v. 6.8.2020 – AN 17 K 19.50572/50574 – juris Rn. 23 ff.; a.A. etwa VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 55 ff.).
Schließlich mangelt es überdies an der gemäß Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO erforderlichen allseitigen schriftlichen Kundgabe des Wunsches zusammengeführt zu werden. Eine solche schriftliche Zustimmungserklärung hat zwar der Antragsteller am 18. Februar 2020 abgegeben – allerdings nur bezogen auf seine Ehefrau … … – und diese bezogen auf ihn am 4. Februar 2020. Für die minderjährigen Kinder der beiden ließe sich noch annehmen, dass sie von der Zustimmungserklärung der Mutter mitumfasst sind. Dies kann jedoch nicht für die im Jahr 2000 geborene … … gelten.
bb) Hinsichtlich des Kindes … … (geb. …2004) wurde zwar eine Stellungnahme des Diplom-Pädagogen und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten … … vom 9. November 2020 vorgelegt, dass sich … … seit Oktober 2019 wegen der Diagnose Zwangsgedanken und -handlungen in Psychotherapie befinde. Allerdings ist die Vorlage dieser Stellungnahme zusammen mit dem Antragsschriftsatz vom 23. November 2020 im Rahmen des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO als verspätet anzusehen, da das Aufnahmeverfahren mit der ablehnenden Antwort Deutschlands auf das Überprüfungsersuchen der griechischen Behörden nach Art. 5 Abs. 2 Dublin-DurchführungsVO am 29. April 2020 abgeschlossen war. Im Übrigen wäre nicht glaubhaft gemacht, inwiefern … … im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO auf die Unterstützung des Antragstellers angewiesen ist. Zwar wird in der Stellungnahme des … … vom 9. November 2020 prognostisch von einem deutlich positiveren Therapieverlauf bei einer Familienzusammenführung ausgegangen, was aber nicht die Schwelle des Angewiesen Seins auf die Unterstützung durch den Antragsteller erreicht. Die Überschrift des Art. 16 Dublin III-VO – Abhängige Personen – sowie die Formulierung „auf die Unterstützung angewiesen sein“ setzen nach deren Wortlaut sowie Sinn und Zweck eine Unabdingbarkeit der Unterstützung für die Lebensführung voraus, die hier nicht in der nötigen Dringlichkeit geltend gemacht ist.
cc) Was schließlich das dritte Kind des Antragstellers, … … (geb. …2013), anbelangt, ist neben der bereits ausgeführten und auch hier relevanten Fristproblematik schon nicht geltend gemacht, dass dieser an einer schweren Krankheit gemäß Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO leidet oder in einer sonstigen dort genannten Lebenslage betroffen ist.
d) Schließlich ergibt sich auch kein Anspruch des Antragstellers gegen die Antragsgegnerin aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO.
Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und 16 nicht zuständig ist. Die betreffenden Personen müssen dem schriftlich zustimmen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Der so ersuchte Mitgliedstaat hat alle erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen, dass die angeführten humanitären Gründe vorliegen und antwortet dem ersuchenden Mitgliedstaat innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Gesuchs. Eine Ablehnung des Gesuchs ist zu begründen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO. Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 4 Dublin III-VO wird dem ersuchten Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Antragsprüfung übertragen, wenn dieser dem Gesuch stattgibt.
aa) Hinsichtlich des Antragstellers ist nach dessen Asylantragstellung in Griechenland noch keine Erstentscheidung ergangen. Ein entsprechendes, explizit auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO gestütztes Ersuchen an die Bundesrepublik Deutschland lag zwar zunächst nicht vor, da das Aufnahmegesuch Griechenlands vom 20. März 2020 nur Art. 9 Dublin III-VO erwähnt. Allerdings lässt sich dem Aufnahmegesuch in erweiternder Auslegung im Rahmen des vorgetragenen Sachverhaltes der allgemeine Wille entnehmen, dass Deutschland die Zuständigkeit für das Asylverfahren des Antragstellers übernehmen soll, insbesondere, weil sich Art. 9 Dublin III-VO und Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO im Aspekt und der Zielsetzung der Familienzusammenführung tatbestandlich überschneiden. Da Griechenland im Übernahmegesuch unter „Sonstige zweckdienliche Angaben“ erwähnt hat, dass die Frau des Antragstellers und die gemeinsamen drei Kinder in Deutschland lebten sowie dass der Antragsteller sein Verlangen nach einer Zusammenführung zum Ausdruck gebracht habe, hat es auch humanitäre Aspekte, nämlich familiäre, im Sinne des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO angesprochen und diesen mit zur Prüfung gestellt. Schließlich bat Griechenland in seinem Remonstrationsschreiben vom 28. April 2020 auf die ablehnende Entscheidung der Antragsgegnerin hin explizit um eine Übernahme des Antragstellers nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, was ausreicht, da ein Antrag nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nach dessen Unterabsatz 1 Satz 1 „jederzeit“ gestellt werden kann.
bb) Die schriftliche Zustimmungserklärung des Antragstellers vom 18. Februar 2020 – allerdings nur bezogen auf seine Ehefrau … … – und ihre Zustimmungserklärung bezogen nur auf den Antragsteller vom 4. Februar 2020 liegen vor. Für die minderjährigen Kinder der beiden, … … (geb. …2004) und … … (geb. …2013), lässt sich noch annehmen, dass ihre Zustimmung von der Zustimmungserklärung der Mutter umfasst ist. Hinsichtlich der auch schon zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des Antragstellers in Griechenland am 31. Januar 2020 volljährigen … … (alias … …, geb. …2000) kann dies nicht gelten; ihre Zustimmungserklärung fehlt, weshalb ihre humanitären Belange nicht in die Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO, insbesondere was die Ermessensreduzierung auf Null anbelangt, einzubeziehen sind.
cc) In der begehrten Familienzusammenführung des Antragstellers mit seiner Ehefrau und jedenfalls der beiden gemeinsamen minderjährigen Kinder in Deutschland liegt ein grundsätzlich geeigneter humanitärer Grund im Sinne des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Dieser führt für die humanitären Gründe exemplarisch und insbesondere solche an, die sich aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen (Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO). Der darin zum Ausdruck kommende Grundgedanke der Wahrung der Familieneinheit und des Kindeswohls ist neben Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO auch in deren Erwägungsgründen 13 bis 17 und schließlich im Primärrecht in Art. 24 Abs. 3 und Art. 7 GRCh angelegt.
Allerdings räumt Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, wie sich bereits aus der Überschrift „Ermessensklauseln“ des Art. 17 Dublin III-VO ergibt, dem ersuchten Mitgliedstaat einen Ermessensspielraum ein, ob er die Zuständigkeit für den Antragsteller übernimmt (etwa VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris Rn. 23, 29 ff.). Daher führt ein Antrag nach § 123 VwGO, hier in Form einer Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO, nicht schon dann zum Erfolg, wenn ein Ermessensfehler der Behörde vorliegt, sondern nach herrschender Meinung erst und nur dann, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null glaubhaft gemacht wird (BayVGH, B.v. 3.6.2002 – 7 CE 02.637 – NVwZ-RR 2002, 839; nur berichtend, aber a.A. Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 38. EL Januar 2020, § 123 Rn. 158 ff. m.w.N.).
Die Voraussetzungen einer Ermessenreduzierung auf Null liegen jedoch nicht vor. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist nur anzunehmen, wenn über das regelmäßig bestehende Interesse von Eltern(teilen) und Kindern an einer Familienzusammenführung konkret und im Einzelfall Umstände vorliegen, die die Annahme einer besonderen Härte begründen und jede andere Entscheidung als eine Zusammenführung der genannten Personen als unvertretbar erscheinen ließen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte spielen dabei insbesondere das Alter des Kindes, der Umfang der Bindung des Kindes zu Familienmitgliedern, mit denen es zusammengeführt werden soll, sowie der Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, eine Rolle (vgl. EGMR, U.v. 30.7.2013 – Nr. 948/12 – BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes aufgrund seines Lebensalters sowie die Frage, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat, zu werten, wobei der EuGH in diesem Zusammenhang eine Altersgrenze von zwölf Jahren gebilligt hat (EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – NVwZ 2006, 1033 Rn. 73-75, allerdings zur Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG). Wenn wie hier als Antragsteller ausschließlich der Vater und Ehemann der in Deutschland lebenden Ehefrau und Kinder auftritt und den Zuzug zu ihnen begehrt, so sind dennoch, obgleich sie nicht selbst Antragsteller sind, deren Belange in der Ermessensentscheidung nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO zu berücksichtigen. Eine geteilte Ermessensentscheidung, d.h. eine Ermessenentscheidung in Bezug auf nur einzelne Personen, ist insoweit nicht möglich. Die Ermessensentscheidung nach Art.17 Abs. 2 Dublin III-VO erfordert die Abwägung aller Belange aller Betroffenen (so VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris Rn. 41).
Diesen Maßstab zugrunde gelegt, kann für den Antragsteller nicht von einer Ermessensreduzierung auf Null im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ausgegangen werden. Da bei der Prüfung des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO die Fristen und Verfahrensabläufe der Art. 21 fff. Dublin III-VO und Art. 5 Dublin-DVO keine Anwendung finden, der Antrag vielmehr „jederzeit“ gestellt werden kann, waren die Stellungnahmen des Vereins … e.V. vom 9. Oktober 2020 und die Stellungnahme des Diplom-Pädagogen und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten … … vom 9. November 2020 sowie das Vorbringen im Antragsschriftsatz vom 23. November 2020 in die Prüfung mit einzubeziehen. Dies ergibt sich gesetzestechnisch daraus, dass Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO in den Unterabsätzen 2 und 3 eigene Verfahrensregeln und Fristen (und größtenteils eben keine Fristen) aufstellt (VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris Rn. 32).
Hinsichtlich der in Deutschland lebenden Ehefrau des Antragstellers, … …, wird unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Vereins … e.V. vom 9. Oktober 2020 (Unterzeichner: Diplom-Sozialpädagoge … …*) geltend gemacht, diese sei mit ihrer Rolle als Alleinerziehende überfordert, verzweifelt und in Folge dessen untergewichtig, zudem habe sie Kreislaufprobleme und sei in medizinischer Behandlung. Daraus lässt sich nicht die nötige Dringlichkeit einer Zusammenführung mit dem Antragsteller in dem Sinne ableiten, dass nur diese ermessengerecht wäre. Zum einen genügt der Vortrag zu den gesundheitlichen Problemen der … … und der Ursächlichkeit der Trennung vom Antragsteller hierfür nicht den Anforderungen an eine Glaubhaftmachung gemäß der § 123 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO, selbst unter Berücksichtigung des durch Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO und Art. 11 Dublin-DurchführungsVO abgesenkten Maßstabes; letzterer ist unmittelbar zwar nur auf Art. 16 Dublin III-VO (früher Art. 15 Abs. 2 Dublin II-VO) anwendbar, jedoch liegt in Verbindung mit der Regelung des Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO eine entsprechende Anwendung auf Art. 17 Dublin III-VO nahe. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 Dublin-DurchführungsVO verlangt nicht zwingend ein ärztliches Attest zur Glaubhaftmachung von Erkrankungen, sondern lässt glaubhaft gemachte Angaben der Beteiligten genügen, allerdings nur, wenn dieses nicht verfügbar ist oder nicht beigebracht werden kann. Schon daran bestehen erhebliche Zweifel. Soweit hinsichtlich … … erhebliches Untergewicht und eine medizinische Behandlung aufgrund von Kreislaufzusammenbrüchen in Deutschland geltend gemacht wird, stand und steht einer Beschaffung einer diesbezüglichen ärztlichen Bescheinigung gerade innerhalb des nicht fristgebundenen Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nichts entgegen, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass es der Antragstellerseite möglich war, die sozialpädagogische Stellungnahme des Vereins … e.V. vom 9. Oktober 2020 zu beschaffen und vorzulegen. Davon abgesehen kann die bloße Behauptung der Antragstellerseite, dass das erhebliche Untergewicht und die Kreislaufprobleme ursächlich auf der Trennung vom Antragsteller und der Rolle als Alleinerziehender basieren nicht ausreichen. Ausweislich der beigezogenen Bundesamtsakte der … … befindet diese sich seit Anfang 2016 in Deutschland. Angesichts dessen ist ohne nähere Angaben, insbesondere zum zeitlichen Verlauf der Beschwerden und der konkreten Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung nicht einschätzbar, wie schwer die Erkrankung der Zahra Niazi ist und ob und inwieweit sie auf die Trennung vom Antragsteller zurückzuführen ist und damit, ob eine für die Glaubhaftmachung erforderliche überwiegende Wahrscheinlichkeit gegeben ist (Huber in Musielak/Voit, ZPO, 17. Aufl. 2020, § 920 Rn. 9). Selbst wenn man aber den Gesundheitszustand der … … wie vorgetragen unterstellen würde, spricht zusätzlich gegen eine Ermessenreduzierung auf Null, dass eines ihrer Kinder, … … (alias … …, geb. …2000), bereits 20 Jahre alt ist und ein weiteres, … … (geb. …2004), 16 Jahre alt ist, also diesbezüglich die Belastung durch Erziehungsaufgaben mittlerweile deutlich abgemildert ist und nur der siebenjährige … … (geb. …2013) einer engeren Betreuung und Aufsicht bedarf. Zudem unterstützt die Tochter … … ihre Mutter im Alltag, etwa bei Behörden- oder Arztgängen Der Einzelrichter stellt dabei nicht in Abrede, dass eine Zusammenführung mit dem Antragsteller in Deutschland eine deutliche Erleichterung, auch in psychischer Hinsicht, für … … bedeuten würde, gleichwohl reicht dies angesichts des oben Ausgeführten nicht für eine Ermessensreduzierung auf Null.
Was das gemeinsame Kind … … (geb. …2000) des Antragstellers und seiner Ehefrau anbelangt, so fehlt es bezüglich ihrer bereits an der schriftlichen Zustimmungserklärung nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO (s.o.). Selbst wenn man aber ihre Belange in die Ermessensprüfung nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO einstellen würde, führten sie nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null. Diesbezüglich wird zur Vermeidung von Wiederholungen zum einen auf die obigen Ausführungen zu Art. 16 Dublin III-VO verwiesen (2. c) aa)). Zum anderen spricht gegen eine Ermessensreduzierung auf Null, dass aus dem Vortrag des Antragstellers nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hervorgeht, dass die psychiatrische Behandlung der … … hauptsächlich durch die Trennung vom Antragsteller verursacht ist bzw. die Familienzusammenführung in Deutschland für eine Genesung unabdingbar ist. Insbesondere das Vorbringen, … … und die übrige Familie seien in Deutschland aufgrund des Fehlens des Antragstellers massiven Anfeindungen und tätlichen Angriffen anderer Flüchtlinge ausgesetzt gewesen trägt nicht. Zum einen besteht die akute Bedrohungssituation nach dem Umzug in eine andere Unterkunft nicht mehr, zum anderen kann sich eine Ermessensreduzierung auf Null im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nicht daraus ergeben, dass ohne eine Zusammenführung Angriffe von Landsleuten aufgrund deren radikal-konservativer Rollenbilder zu befürchten sind. Auch hier gilt wie oben, dass eine Familienzusammenführung in Deutschland die allgemeine Belastungssituation auch für … … wohl mindern würde, dies aber nicht das Gewicht hat, eine Ermessensreduzierung auf Null zu rechtfertigen. Zudem ist angesichts der unterstellten fehlenden Sprachkenntnisse des Deutschen bei dem Antragsteller davon auszugehen, dass … … weiterhin ihre Eltern im Alltag bei Behörden-, Arztgängen und sonstigen Erledigungen unterstützen müsste und damit zu einem Gutteil weiterhin der Belastung ausgesetzt wäre, die als eine Ursache ihrer Überforderung geschildert wird.
Hinsichtlich des zweiten gemeinsamen Kindes des Antragstellers und seiner Ehefrau, … … (geb. …2004), wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen zu Art. 16 Dublin III-VO verwiesen (2. c) bb)). Es ist nicht mit der für eine Ermessenreduzierung auf Null nötigen Dringlichkeit dargelegt, dass nur eine Zusammenführung mit dem Antragsteller in Betracht kommt. Zwar wird in der Stellungnahme des Diplom-Pädagogen und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten … … vom 9. November 2020 prognostisch von einem deutlich positiveren Therapieverlauf bei einer Familienzusammenführung ausgegangen, allerdings nicht die Unabdingbarkeit einer solchen dargelegt. Dagegen spricht auch, dass … … ebenfalls bereits seit Anfang 2016 ohne den Antragsteller in Deutschland ist, aber erst seit Oktober 2019 in Behandlung bei dem Psychotherapeuten … … Und schließlich lässt sich alleine aus seinem Alter von 16 Jahren kein Anspruch aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ableiten, da in diesem Alter, anders als bei einem bis Zwölfjährigen (s.o.), keine grundsätzliche Unzumutbarkeit einer Trennung von einem Elternteil angenommen werden kann, soweit wie hier jedenfalls der andere Elternteil für die Betreuung und Erziehung zur Verfügung steht und sich die Familienkonstellation seit der Trennung vom Antragsteller vor fünf Jahren verfestigt hat.
Was schließlich das dritte gemeinsame und jüngste Kind des Antragstellers und seiner Ehefrau, … … (geb. …2013), angeht, wird hinsichtlich seiner geltend gemacht, er leide an Verhaltensauffälligkeiten und verbringe einen Großteil seiner Freizeit vor dem Fernseher oder Tablett, da die Mutter keine Kraft habe, ihm ein adäquates Spielangebot zu unterbreiten. Daraus lässt sich keine Ermessensreduzierung auf Null im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ableiten, weil der Konnex zur Trennung vom Antragsteller nicht glaubhaft gemacht ist. Grundsätzlich eine Ermessensreduzierung auf Null rechtfertigen kann nach der Rechtsprechung des Gerichts (etwa VG Ansbach, B.v. 28.4.2020 – AN 17 E 20.51057 – juris Rn. 44) allerdings die Trennung eines minderjährigen, unter 12-jährigen Kindes von seinen Eltern auf Dauer. Diesem ist die Trennung von seinen Eltern allenfalls ausnahmsweise zumutbar und zwar auch dann, wenn die Trennung des Kindes von den Eltern oder einem Elternteil bewusst herbeigeführt worden ist, aber das Kind aufgrund seines Alters auf die elterlichen Entscheidungen keinen Einfluss haben konnte (VG Ansbach, B.v. 26.11.2019 – AN 18 E 19.50958 – juris Rn. 42). Jedoch führt das Anlegen des genannten Maßstabes im konkreten Fall noch nicht zu einer Ermessenreduzierung auf Null. Zunächst ist … … in Deutschland in den Familienverband aus seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern eingebunden, hat also zumindest einen Elternteil und zwei Geschwister als Erziehungs- bzw. Bezugspersonen. Weiterhin erfolgte die Flucht und Trennung des … … von seinem Vater bereits im Dezember 2015 zusammen mit seiner Mutter und der Schwester … …; die Einreise nach Deutschland erfolgte dann im Januar 2016. Damit hat sich die derzeitige Familienkonstellation nach einem Zeitlauf von gut fünf Jahren schon soweit verfestigt, dass dies umgekehrt einer Ermessenreduzierung auf Null entgegensteht. Dafür spricht auch, dass die Schilderung des (telefonischen) Kontakts zwischen dem Antragsteller und den in Deutschland befindlichen Familienmitgliedern seit der Trennung detailarm und oberflächlich ausfällt und eine enge Verbundenheit und emotionale Nähebeziehung lediglich in einem Satz behauptet wird, was für eine Glaubhaftmachung hier nicht ausreicht.
Damit ist für die in Deutschland lebenden Familienmitglieder des Antragstellers (Ehefrau und drei gemeinsame Kinder) und damit in Konsequenz für ihn selbst nicht mit der für eine Ermessenreduzierung auf Null erforderlichen Dringlichkeit dargelegt, dass im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nur eine Zuständigkeitsübernahme und Familienzusammenführung durch die Antragsgegnerin ermessensgerecht ist.
dd) Ein anderes Ergebnis folgt entgegen des Vortrags des Antragstellers auch nicht aus Art. 8 EMRK, der das Privat- und Familienleben schützt. Die Europäische Union ist zwar selbst nicht Mitglied der EMRK, allerdings sieht der Europäische Gerichtshof diese als für die Union und ihre Organe verbindlichen Mindeststandard an, was mit Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) übereinstimmt (Streinz in Streinz EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 6 EUV Rn. 25). Art. 8 Abs. 1 EMRK begründet ein Recht auf Zusammenleben unter den Familienangehörigen, wobei die staatlichen Behörden grundsätzlich Maßnahmen treffen müssen, die das Zusammenleben ermöglichen. Staatliche Maßnahmen, die in das Recht auf Zusammenleben eingreifen, sind gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK rechtfertigungsbedürftig (EGMR, U.v. 13.7.2000 – 25735/94 – NJW 2001, 2315 Ls. 2). Jedoch garantiert Art. 8 EMRK kein grundsätzliches Recht auf Einreise und Aufenthalt, sondern führt bei der Frage des Familiennachzugs dazu, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Rechtmäßigkeit der (unterlassenen) Maßnahme und die entsprechende Rechtsgrundlage anhand einer Abwägungsentscheidung unter Einstellung der Individualinteressen des Betroffenen und dem öffentlichen Interesse im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK prüft (näher Meyer-Ladewig/Nettesheim in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 8 Rn. 76 ff.). Insofern ist aber keine Diskrepanz zur obigen Prüfung des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO zu erkennen. Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO dient wie auch die Art. 8, 9, 10, 11 Dublin III-VO dem Grundsatz der (Wieder) Herstellung der Familieneinheit. Und genauso wenig wie Art. 8 Abs. 1 EMRK eine schrankenlose Gewährleistung ist, ist es Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. In der nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO vorzunehmenden Ermessensprüfung sind selbstredend die Individualinteressen des Antragstellers einzustellen sowie die gegen eine Zuständigkeitsübernahme sprechende Aspekte im Einzelfall. Insofern gestaltet Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO für das Dublin-Verfahren im Konkreten die Garantie des Art. 8 EMRK in zulässiger Weise aus. Daher kann Art. 8 EMRK vorliegend nicht für eine Ermessensreduzierung auf Null im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO herangezogen werden, weil die von diesem geschützten Belange ausreichend gewürdigt worden sind (s.o.).
Gleiches gilt für die in der GRCh niedergelegten Garantien zum Schutz des Familienlebens, insbesondere des Zusammenlebens von Kindern mit ihren Eltern in Art. 7, Art. 24 Abs. 3, Art. 33 GRCh, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Halbs. 2 EUV Primärrecht sind. Sie sind gemäß Art. 52 Abs. 1 GRCh nur aufgrund einer gesetzlichen Vorschrift einschränkbar, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Die Art. 8, 9, 10, 11 und 17 Dublin III-VO dienen deren Umsetzung im Konkreten. Hinsichtlich der humanitären Ermessensklausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ist nicht erkennbar, inwieweit dieser und die obige Prüfung deren Voraussetzungen hinter den primärrechtlichen Vorgaben zurückbleibt.
Soweit der Antragsteller darauf rekurriert, dass Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO schon deshalb durchgreifen müsse, weil die Voraussetzungen des Art. 9 Dublin III-VO nur mangels internationalen Schutzstatus der in Deutschland lebenden Familie des Antragstellers nicht vorlägen und eine buchstabengetreue Anwendung des Art. 9 Dublin III-VO zu einer Trennung der Familie führe, greift dies nicht durch. Sicher ist Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO als humanitäre Auffangklausel einzuordnen, die Fälle mit Familienbezug, die aus dem Raster der Art. 8 bis 11 Dublin III-VO herausfallen, erfassen soll. Allerdings kann sie nicht stets, wenn ein Tatbestandsmerkmal der Art. 8 bis 11 Dublin III-VO nicht erfüllt ist, zum Tragen kommen, da ansonsten jede Differenzierung innerhalb dieser hinfällig würde. Und gerade die Differenzierung des Art. 9 Dublin III-VO, der eine Zuständigkeitsübernahme vom Bestehen internationalen Schutzes der Referenzperson abhängig macht, ein rein nationales Abschiebungsverbot aber nicht genügen lässt, ist aus europarechtlicher Sicht sachgerecht, da die RL 2011/95/EU (Anerkennungs-RL) nur die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes regelt, nicht aber nationale Abschiebungsverbote. Um derlei Differenzierungen aufrecht zu erhalten, gleichzeitig aber humanitäre Härtefälle zu erfassen, ist Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO als Kann-Vorschrift ausgestaltet, stellt eine Zuständigkeitsübernahme durch den ersuchten Staat also in dessen Ermessen. Dieses wiederum verdichtet sich nur dann zu einer Pflicht zum Tätigwerden, wenn außergewöhnliche humanitäre Umstände gegeben sind.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 161 Abs. 1, § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
4. Diese Entscheidung ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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