Europarecht

Keine Subsidiarität der Feststellungsklage bei Überprüfung des Ablaufs der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  AN 17 K 18.50463

Datum:
9.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 18510
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VO (EU) Nr. Art. 12 Abs. 4, Art. 23 Abs. 3, Art. 25 Abs. 2, Art. 29 Abs. 2
AsylG § 10 Abs. 4, § 34a Abs. 1, § 75 Abs. 1
VwGO § 43 Abs. 2

 

Leitsatz

1 Die Subsidiarität einer Feststellungsklage steht einer Überprüfung des Ablaufs der Überstellungsfrist nicht entgegen, wenn die Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsanordnung nicht fristgerecht erhoben wurde. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2 Für das Merkmal der Flucht kommt es auf drei Punkte an: Zum einen kann Flucht nur angekommen werden, wenn das Entziehen auf einer Ortsveränderung der Person beruht (in Abgrenzung etwa zum Entziehen aufgrund Versteckens, Täuschens oder Gewaltanwendung). Die Ortsveränderung muss zudem in Entziehungsabsicht erfolgen. Zum dritten kann es nach der Überzeugung des Gerichts zu einer Verlängerung der Frist nur kommen, wenn das Scheitern der Überstellung maßgeblich auf der Ortsveränderung mit Entziehungsabsicht beruht, die Flucht also kausal ist für die fehlende Durchsetzung der Abschiebung. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
3 Beim Institut des Kirchenasyls handelt es sich auch nicht um ein rechtlich vorgesehenes oder sonst anerkennenswert zulässiges Verfahren (VG Ansbach BeckRS 2016, 45664), das eine Abschiebung rechtlich verhindern würde. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
4 Verzichtet der Staat auf die zwangsweise Durchsetzung zwangsweise Durchsetzung von Entscheidungen, obwohl ihm der Vollzug möglich wäre, ist ein vernünftiger und anerkennenswerter Grund für die Verlängerung der Vollzugsfrist nicht erkennbar. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1.    Es wird festgestellt, dass die Frist zur Rücküberstellung des Klägers nach Frankreich abgelaufen ist. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2.    Die Parteien tragen die Kosten des Rechtsstreits je zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
3.    Der Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage kann, nachdem beide Parteien sich hiermit einverstanden erklärt haben, ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Anfechtungsklage, gerichtet auf die Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes vom 2. Mai 2018, ist wegen Versäumung der Klagefrist unzulässig und deshalb abzuweisen. Die mit Schriftsatz vom 22. März 2019 zusätzlich erhobene Feststellungsklage hinsichtlich des Ablaufs der Überstellungsfrist ist hingegen zulässig und begründet. Der Klage ist insoweit stattzugeben.
1. Die gegen die ablehnende Zuständigkeitsentscheidung und die Abschiebungsandrohung statthafte Anfechtungsklage ist nicht innerhalb der Klagefrist von einer Woche nach Zustellung des Bescheides gemäß § 75 Abs. 1 Halbsatz 2 i.V.m. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG erhoben worden und deshalb unzulässig. Ausweislich der Postzustellungsurkunde ist der Bescheid vom 2. Mai 2018 am 7. Mai 2018 der Verwaltung der Aufnahmeeinrichtung, der der Kläger zu diesem Zeitpunkt zugewiesen war, übergeben worden. Nach § 10 Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 AsylG gilt der Bescheid am dritten Tag nach der Übergabe an die Aufnahmeeinrichtung, somit vorliegend grundsätzlich am Donnerstag, 10. Mai 2018, als zugestellt, wobei jedoch in Rechtsprechung und Literatur Uneinigkeit herrscht, ob eine Verschiebung auf den darauf folgenden Tag erfolgt, falls der dritte Tag auf ein Wochenende oder wie hier auf einen Feiertag (Christi Himmelfahrt) fällt (keine Verschiebung nehmen an Preisner in BeckOK AuslR AsylG § 10 Rn. 36 m.w.N., OVG Magdeburg, B.v. 13.9.2001, 1 L 313/01; a.A. Bruns in NK-AuslR, § 10 Rn. 35 m.w.N.). Selbst wenn man eine Verschiebung des Fristanlaufs auf Freitag, den 11. Mai 2018 annähme, wäre die einwöchige Frist bei Klageeingang am 22. Mai 2018 bereits abgelaufen gewesen, da die Klagefrist dann am Samstag, den 12. Mai 2019 zu laufen begonnen hätte – der Anlauf einer Frist verschiebt sich nicht nach § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 2 ZPO, wenn der Tag des Anlaufs ein Samstag, Sonntag oder Feiertag ist) – und damit mit Ablauf des Freitags, 18. Mai 2019 (und somit vor dem Pfingstwochenende und nicht erst am Dienstag, den 22. Mai 2018) abgelaufen wäre. Die Frist war bei Klageerhebung somit nach beiden Rechtsauffassung abgelaufen und die Anfechtungsklage ist damit unzulässig.
Der Kläger ist auf die Zustellungsvorschriften auch gemäß § 10 Abs. 7 AsylG bei seiner Antragstellung am 17. April 2018 hingewiesen worden; er hat dies durch Empfangsbestätigung (S. 26 der Akte) bestätigt.
2. Zulässig ist aber die zusätzlich und nachträglich mit Schriftsatz vom 22. März 2019 erhobene und nicht fristgebundene Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO. Danach kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der alsbaldigen Feststellung hat.
a) Bei der Frage des Ablaufs der Überstellungsfrist und der daraus folgenden Konsequenz, dass das Asylverfahren für den Kläger in Deutschland durchzuführen ist und eine Überstellung nach Frankreich nicht mehr möglich ist, handelt es sich um ein zwischen den Parteien streitiges Rechtsverhältnis im Sinne einer zu subjektiven Rechten verdichteten Beziehung (Kopp, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 43 Rn. 11). Der Kläger kann sich auf den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO berufen (EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17 – juris), es handelt sich dabei nicht nur um eine Frist, auf die sich der ersuchte Mitgliedsstaat berufen kann.
b) Nach § 43 Abs. 2 VwGO ist die Feststellungsklage jedoch subsidiär, wenn der Kläger seine Rechte mit einer anderen Klage, insbesondere einer Gestaltungsklage wie der Anfechtungsklage verfolgen kann. Die Feststellungsklage ist dabei grundsätzlich auch dann ausgeschlossen, wenn der Kläger sein Recht mit der Anfechtungsklage hätte geltend machen können, er hierfür aber die Frist versäumt hat. Die Feststellungsklage darf nämlich kein Instrument sein, eine bereits eingetretene Bestandskraft eines Bescheides bzw. die Rechtskraft eines Urteils zu umgehen. Sie soll vielmehr nur eintretende Rechtschutzlücken in den Fällen, in denen Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nicht statthaft sind, schließen. Für die vorliegende Konstellation bzw. zu entscheidende Fragestellung steht die erhobene statthafte, aber verfristete Anfechtungsklage der Zulässigkeit der Feststellungsklage indes nicht entgegen.
Ist eine Anfechtungsklage im Zeitpunkt des Ablaufs der Überstellungsfrist noch anhängig und zulässig, ist der Bescheid des Bundesamtes wegen des Fristablaufs durch das Gericht aufzuheben (vgl. z.B. VG Ansbach, U.v. 6.12.2018, AN 17 K 18.50438 -juris), da es für die Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung ankommt und zu diesem Zeitpunkt eine Überstellung nicht mehr zulässig ist. Der Bescheid des Bundesamtes hat sich durch den Ablauf der Überstellungsfrist grundsätzlich zwar erledigt (vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2015, 21 ZB 15.15.50025 – juris, ebenso VG Potsdam, U.v. 25.2.2015, 6 K 1554/14.A – juris, a.A. aber VG Dresden, B.v. 16.5.2019, 1 K 2225/18.A – juris). Von ihm geht jedoch dann noch eine Rechtswirkung aus, wenn das Bundesamt den Ablauf der Überstellungsfrist negiert, eine Abschiebung des Klägers daraus weiter für möglich hält und – in Zusammenarbeit mit der zuständigen Ausländerbehörde – auch betreibt. Die Anfechtungsklage ist in dieser Situation weiter als zulässig zu erachten ist und führt im Falle der Begründetheit zur Aufhebung des Bescheids und damit zum erstrebten Rechtschutzziel.
Die Möglichkeit, im Wege der Anfechtungsklage die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO überprüfen zu lassen, besteht jedoch in anderen Fallkonstellationen nicht bzw. ist Asylantragstellern nicht zumutbar. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Antragsteller allein die Überstellungsfrist gerichtlich überprüft haben will, ohne sich aber im Übrigen gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheids zu wenden. Innerhalb der Frist für eine Anfechtungsklage (nach § 74 Abs. 1 VwGO regelmäßig ein Monat) läuft die Überstellungfrist (nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO regelmäßig sechs Monate nach Zustimmung des zur Aufnahme verpflichteten Staates) in der Regel noch nicht ab und steht auch der Zeitpunkt des Ablaufs des Überstellungsfrist noch nicht endgültig fest. Die Möglichkeit und das Bedürfnis nach einer Klärung der Überstellungsfrist ergibt sich vielmehr erst zu einem Zeitpunkt, zu dem die Anfechtungsklage regelmäßig bereits verfristet ist. Die Überstellungsfrist wird vom Bundesamt in den Fällen des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, nämlich bei Inhaftierung oder bei Flucht des Asylbewerbers, zum einen erst zu einem späteren Zeitpunkt verlängert, zum anderen kann sich eine Fristunterbrechung durch die Einlegung eines Antrags des einstweiligen Rechtschutzes nach Art. 29 Abs. 1, 27 Abs. 3 Dublin III-VO ergeben.
Die Notwendigkeit einer Feststellungsklage neben der Anfechtungsklage besteht auch dann, wenn die zunächst erhobene Anfechtungsklage im Zeitpunkt des Fristablaufs bereits entschieden ist oder auf anderem Wege, z.B. durch Klagerücknahme bereits beendet ist. Um den Asylantragsteller in diesen Situationen nicht rechtschutzlos zu stellen, was mit Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 27 Dublin III-VO nicht vereinbar wäre, muss er sich für die nachträglich entstandene Frage des Fristablaufs der Feststellungsklage bedienen können. Nicht anders behandelt werden kann ein Asylantragsteller, der die Anfechtungsfrist versäumt hat. Die Subsidiarität der Feststellungsklage steht in diesen Fällen nicht entgegen, weil die zu klärende Fragestellung erst nachträglich entstanden ist.
Der Dublin-Bescheid des Bundesamtes gibt darüber hinaus regelmäßig auch gar keine Auskunft über den (voraussichtlichen) An- und Ablauf der Überstellungsfrist und entscheidet hierüber nicht, so dass die Anfechtungsklage diesen Klagegegenstand unmittelbar nicht erfasst. Der Fristanlauf hängt vielmehr maßgeblich davon ab, wann der zuständige Mitgliedstaat seine Zuständigkeit anerkannt hat bzw. aufgrund des Ablaufs der Fristen nach Art. 23 Abs. 3 und Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO von seiner Zuständigkeit auszugehen ist. Dies ergibt sich aber nicht unmittelbar aus dem Bescheidstenor, allenfalls aus seinen Gründen, in der Regel aber nur aus den Unterlagen in der Behördenakte. Dem Bescheid kommt insoweit also keine Regelungs- oder Feststellungswirkung in Bezug auf die Frist zu, die durch die Feststellungsklage umgangen werden könnte.
Wenn eine zulässige Anfechtungsklage im Zeitpunkt des Ablaufs der Überstellungsfrist noch anhängig ist, kann mit ihr zwar auch der Fristablauf überprüft werden, so dass eine zusätzliche Feststellungsklage in dieser Konstellation wohl nicht in Betracht kommt. In dieser Situation scheitert die Feststellungsklage aber nicht an deren Subsidiarität, sondern am fehlenden Rechtschutzbedürfnis bzw. dem fehlenden Feststellungsinteresse, da ein Bedürfnis für diese zusätzliche Feststellung nicht zu erkennen ist, wenn der Asylantragsteller aufgrund des Erfolgs seiner Anfechtungsklage sicher ist vor der angeordneten Abschiebung.
c) Auch andere Verfahren und Klagen zur Fristüberprüfung kommen nicht in Betracht bzw. sind nicht vorrangig.
Dies gilt insbesondere für die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO. Mit dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ist zwar grundsätzlich davon auszugehen, dass sich sowohl die Unzulässigkeitsentscheidung als auch die Abschiebungsandrohung in einem Dublin-Bescheid erledigen, sobald die Überstellungsfrist abgelaufen ist (B.v. 30.3.2015, 21 ZB 15.50025 – juris, ebenso VG Potsdam, U.v. 25.2.2015, 6 K 1554/14.A – juris, a.A. aber VG Dresden, B.v. 16.5.2019, 1 K 2225/18.A – juris). Dies gilt – wie vorausgehend dargestellt – aber nicht, wenn die Behörde die erledigende Wirkung negiert und deshalb faktisch vom Bescheid noch Wirkungen ausgehen.
Eine Anfechtungsklage unmittelbar gegen die Fristverlängerungsentscheidung des Bundesamtes scheidet ebenfalls aus, weil die Fristfestlegung bzw. -Berechnung nicht als Verwaltungsakt im Sinne von § 35 VwVfG gegenüber dem Asylantragsteller anzusehen ist und die Anfechtungsklage hiergegen deshalb nicht statthaft wäre. Die Fristverlängerung ergibt sich, wie auch die Berechnung der ursprünglichen Frist, unmittelbar aus dem Gesetz, nämlich aus Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO und Art. 9 Abs. der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen in der Fassung der Durchführungsverordnung zur Dublin III-VO (EU) Nr. 118/2014 vom 30. Januar 2014 und wird dem ersuchten Staat lediglich mitgeteilt. An einer Regelungswirkung der Fristneuberechnung fehlt es somit.
Rechtschutz ist auch nicht vorrangig über eine Verpflichtungsklage – gegebenenfalls in Form der Untätigkeitsklage – auf Verpflichtung der Beklagten zur Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ziel der Aufhebung des Dublin-Bescheides zu suchen. Ein derartiger Antrag müsste vom Asylantragsteller zunächst beim Bundesamt gestellt werden. Gegen die Statthaftigkeit einer derartigen Verpflichtungsklage spricht schon das eigentliche Rechtschutzziel der Aufhebung einer Behördenentscheidung, was grundsätzlich nur Gegenstand einer Anfechtungsklage, nicht aber der Verpflichtungsklage ist. Ein Untätigbleiben des Bundesamts liegt vorliegend auch nicht vor, die Beklagte vertritt vielmehr lediglich eine andere Rechtsmeinung und versagt deshalb die Aufhebung des Bescheides. Die Verpflichtungsklage ist in dieser Situation nicht passend und für keine der beiden Parteien als effektiver anzusehen. Sie wäre für den Kläger außerdem mit erheblichen, insbesondere zeitlichen Nachteilen verbunden, die im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG unangemessen und kaum hinnehmbar wären. Die Untätigkeitsklage erfordert außer der vorherigen Antragstellung bei der Behörde nämlich noch den Ablauf einer Frist von regelmäßig drei Monaten (vgl. § 75 Satz 2 VwGO).
d) Die Feststellungsklage ist vorliegend auch im Übrigen zulässig. Insbesondere hat der Kläger ein Interesse an der Feststellung des Ablaufs der Überstellungsfrist, weil ihm dann eine Abschiebung nicht mehr droht und sein Asylverfahren in Deutschland durchgeführt wird. Für das Feststellungsinteresse nach § 43 Abs. 1 VwGO genügt jedes rechtliche, wirtschaftliche, persönliche oder ideelle Interesse an der Feststellung (Kopp, VwGO, a.a.O. § 43 Rn. 23). Nicht erkannt werden kann im vorliegenden Fall jedoch ein Interesse am genauen Zeitpunkt des Ablaufs der Überstellungsfrist. Ein Interesse des sich noch in Deutschland aufhaltenden Klägers ist lediglich daran zu erkennen, dass zwischenzeitlich die Überstellungsfrist abgelaufen ist. Der Feststellung des genauen Zeitpunkts bedarf es hingegen nicht.
3. Die Feststellungsklage ist auch begründet. Die sechstmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG, abgelaufen. Die Überstellungsfrist ist von der Beklagten nicht wirksam nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO verlängert worden, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt flüchtig in diesem Sinn war.
Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO wird der um Wiederaufnahme ersuchende Mitgliedsstaat der Europäischen Union zuständig nach Ablauf einer Frist von sechs Monaten. Diese Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 Dublin III-VO mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch den ersuchten Staat. Das war hier am 27. April 2018. Die Frist ist damit zwischenzeitlich abgelaufen.
Zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist kam es nicht. Sie ergibt sich nicht aus Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO. Danach kann diese auf bis zu 18 Monate verlängert werden, wenn der Asylantragsteller flüchtig ist und der ersuchende Mitgliedstaat dem zuständigen Mitgliedstaat die Verlängerung unter Angabe der Verlängerungsgründe vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist mitgeteilt hat (Art. 9 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen in der Fassung der Durchführungsverordnungen zur Dublin III-VO Nr. 118/2014 vom 30. Januar 2014).
Die Dublin III-Verordnung definiert selbst nicht, was unter dem Tatbestandsmerkmal „flüchtig sein“ im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 zu verstehen ist. Art. 2 Buchst. n) der Dublin-III-Verordnung definiert lediglich den Begriff der „Fluchtgefahr“ als das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller (…), gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte.
Die deutsche Rechtsprechung zum Vorliegen von Flüchtigkeit beim Gang eines Asylantragstellers ins offene Kirchenasyl ist uneinheitlich. Einige Verwaltungsgerichte stellen auf die Bedeutung des Wortes nach den verschiedenen amtlichen Sprachversionen ab und kommen zum Teil zu dem Schluss, dass die Wortbedeutung nur ein bewusstes, vorsätzliches Entziehen durch die Ortsveränderung des Asylantragstellers ohne Kenntnis der nationalen Behörden erfasst (z.B. VG Berlin, B.v. 25.1. 2018, 31 L 586.17 A – BeckRS 2018, 789; VGH Baden-Württemberg, B.v. 15.3.2017, A 11 S 2151/16 – NVwZ-RR 2017, 890). Teilweise wird das Merkmal auch dann als erfüllt angesehen, wenn der Asylantragstellende das Überstellungsverfahren auf andere Art und Weise absichtlich behindert oder durch ihm zuzurechnende Pflichtverletzungen erheblich erschwert (siehe VG Schwerin, B.v. 24.8.2016, 3 B 2176/16 – juris; VG Gießen, B.v. 17.9.2018, 4 L 9383/17.GI.A – BeckRS 2018, 26446). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in einem jüngeren Einstellungsbeschluss nach § 92 Abs. 3 VwGO – allerdings ohne tiefergehende Auseinandersetzung mit der Wortbedeutung – ausgeführt, dass der Umstand, dass sich der Asylantragsteller im sog. offenen Kirchenasyl befindet, nicht dafür spreche, das Merkmal „flüchtig“ als erfüllt anzusehen (BayVGH, B.v. 16.9.2018 – 20 ZB 18.50011 – juris).
Zwischenzeitlich hat der Europäische Gerichtshof auf eine Vorlage des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg über eine andere Konstellation entschieden und ein Flüchtigsein angenommen, wenn ein Asylbewerber seine Unterkunft verlässt, ohne seinen Aufenthaltsort den zuständigen Behörden mitzuteilen und dadurch die Rücküberführung in den zuständigen Mitgliedstaat scheitert (EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17 – juris). Hierzu hat der EuGH ausgeführt, dass die meisten Sprachfassungen beim Wort „Flucht“ den Wille der betreffenden Person voraussetzten, jemandem zu entkommen oder sich etwas zu entziehen, also eine gezielte Absicht erforderten und sich diese Auslegung auch unter Heranziehung des Begriffs der Fluchtgefahr in Art. 2 Buchst. n) der Dublin III-VO ergebe. Die Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin III-VO erforderten aber eine klare und praktikable Formel der Feststellung der Zuständigkeit, um eine rasche Klärung zu ermöglichen. Die Verlängerungsmöglichkeit der Überstellungsfrist in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO trage der praktischen Komplexität und den organisatorischen Schwierigkeiten jedoch in den dort genannten Fällen Rechnung. Um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems und die Verwirklichung seiner Ziele zu gewährleisten, sei daher davon auszugehen, dass in dem Fall, in dem die Überstellung der betreffenden Person nicht durchgeführt werden kann, weil sie die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über ihre Abwesenheit zu informieren, die Behörden (…) annehmen dürfen, dass die Person beabsichtigt habe, sich ihnen zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln. Dem Asylantragsteller verbleibe aber die Möglichkeit des Nachweises, dass er mit dem Verlassen seiner Wohnung nicht beabsichtigt habe, sich den Behörden zu entziehen (EuGH, a.a.O Rn. 64).
Unter Zugrundlegung dieser Rechtsprechung und in Fortführung der eigenen Rechtsprechung der Kammer (VG Ansbach, U.v. 6.12.2018, AN 17 K 18.50438 – juris) geht das Gericht davon aus, dass es für das Merkmal der Flucht bzw. für die Verlängerung der Überstellungsfrist wegen Flucht auf drei Punkte ankommt. Zum einen kann Flucht nur angenommen werden, wenn das Entziehen auf einer Ortsveränderung der Person beruht (in Abgrenzung etwa zum Entziehen aufgrund Versteckens, Täuschens oder Gewaltanwendung). Die Ortsveränderung muss zudem in Entziehungsabsicht erfolgen, die nach der Rechtsprechung des EuGH mangels anderweitiger Anhaltspunkte zunächst vermutet wird und vorliegend und generell in den Kirchenasylfällen nicht fraglich ist. Zum dritten kann es nach der Überzeugung des Gerichts zu einer Verlängerung der Frist aber nur kommen, wenn das Scheitern der Überstellung maßgeblich auf der Ortsveränderung mit Entziehungsabsicht beruht, die Flucht also kausal ist für die fehlende Durchsetzung der Abschiebung. Zwar kann das Kausalitätserfordernis der Formulierung des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO unmittelbar nur der ersten Variante („aufgrund der Inhaftierung“) entnommen werden, während die zweite Alternative („oder … flüchtig ist“) mangels verwendeter eindeutiger Kausalformulierung sprachlich nicht eindeutig ist. Dass der Europäische Gesetzgeber insofern aber einen Unterschied zwischen beiden Alternativen machen wollte, kann nicht angenommen werden. Letztlich will der Verordnungsgeber nach den Ausführungen des EuGH im Urteil vom 19. März 2019 (vgl. a.a.O.) den Behörden lediglich in Fällen der tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit bzw. bei erheblichen derartigen Erschwernissen in Bezug auf die Überstellung, die die Behörden selbst nicht beeinflussen können, eine Erleichterung an die Hand geben. Die Annahme des zusätzlichen Erfordernisses der Kausalität entspricht auch der allgemeinen Systematik deutscher Rechtswissenschaft. Diese Auslegung ist am besten in der Lage, den Einzelfall sachgerecht zu lösen und die objektiven und subjektiven Kriterien (die von der bisherigen Rechtsprechung uneinheitlich betrachtet bzw. als maßgeblich erachtet worden sind und die auch vom EuGH und dem Generalanwalt beim EuGH in diesem Fall unterschiedlich gesehen bzw. gewichtet worden sind), in Einklang zu bringen.
Die Anforderung der Kausalität zugrunde gelegt, führt der Gang ins offene Kirchenasyl, d.h. die Aufnahme des Asylantragstellers ins Kirchenasyl unter Benennung seines Aufenthaltsortes mangels Kausalität nicht zur Fristverlängerung wegen Flucht. Da die Adresse des Asylantragstellers im Kirchenasyl – wie auch hier – den Behörden bekannt ist, wäre tatsächlich ein Zugriff auf ihn möglich gewesen.
Beim Institut des Kirchenasyls handelt es sich auch nicht um ein rechtlich vorgesehenes oder sonst anerkennenswert zulässiges Verfahren (VG Ansbach, U.v. 14.4.2016 – AN 6 K 15.31132 – BeckRS 2016, 45664), das eine Abschiebung rechtlich verhindern würde. Asylantragsteller begeben sich in erster Linie deshalb in sog. Kirchenasyl, weil sie darauf vertrauen, dass nach der jahrelangen und gefestigten Praxis der bayerischen Ausländerbehörden diese sich durchgängig in den Kirchenasyl-Fällen scheuen, auch gegen vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer vorzugehen. Der Staat begibt sich dabei freiwillig seiner rechtlichen Handlungsinstrumente, indem er auf die grundsätzlich mögliche zwangsweise Durchsetzung einer Rücküberstellung verzichtet. Diese Praxis geschieht in Respekt vor der gewachsenen Institution Kirche, aber nicht, weil ein Zugriff auf den Asylantragsteller rechtlich nicht möglich wäre.
Verzichtet der Staat bewusst auf die zwangsweise Durchsetzung von Entscheidungen, obwohl ihm der Vollzug möglich wäre, ist ein vernünftiger und anerkennenswerter Grund für die Verlängerung der Vollzugsfrist nicht erkennbar. Es ist letztlich auch bei einer Vollzugsfrist von 18 Monaten die Abschiebung des Asylantragstellers nicht absehbar, da das Kirchenasyl in der Praxis auch über diese längere Zeitspanne respektiert wird.
Die Überstellungsfrist ist damit nach Ablauf der sechs Monate abgelaufen. Die Feststellung des Ablaufs ist im Interesse des Klägers festzustellen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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