Europarecht

Nachzug von Eltern und Geschwister von Griechenland aus zum minderjährigen Sohn in Deutschland

Aktenzeichen  AN 17 E 20.50211

Datum:
1.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 16144
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 53 Abs. 1 Nr. 3, § 123, § 154 Abs. 1
Dublin III-VO Art. 9, Art. 10 , Art. 17 Abs. 2
ZPO § 920 Abs. 2
EMRK Art. 6
AsylG § 80, § 83 b
RL 2011/95/EU Art. 2 Buchst. a)

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Anträge werden abgelehnt.
2. Die Antragssteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren von Griechenland aus den Nachzug zu ihrem minderjährigen in Deutschland lebenden Sohn bzw. Bruder bzw. die Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/13 (Dublin III-VO).
Die Antragsteller zu 1) und zu 2), ein Ehepaar, und ihre 2007, 2009 und 2016 geborenen Kinder, die Antragsteller zu 3) bis 5), sind afghanische Staatsangehörige. Die Antragsteller zu 1) und zu 2) sind außerdem die Eltern des … 2005 geborenen afghanischen Staatsangehörigen … Dieser reiste 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 13. November 2015 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 31. Januar 2017 gab … in Anwesenheit seiner damaligen Vormundin an, dass er Afghanistan mit seiner Familie 2013 verlassen und zwei Jahre im Iran gelebt habe. Im Sommer 2015 habe die Familie den Iran Richtung Türkei verlassen, an der Grenze zur Türkei sei es zu einem Beschuss gekommen, so dass er seine Familie verloren habe. Er habe sich einer afghanischen Familie mit zwei Kindern angeschlossen und habe den restlichen Reiseweg mit diesen zurückgelegt. Er habe die Reise von der Türkei aus gemeinsam mit seiner Tante (Schwester der Mutter), die ebenfalls in Berlin wohne, und seinem Cousin, der unter der gleichen Adresse wie er wohne, gemacht. Die damalige Vormundin gab bei der Anhörung an, dass sich die Eltern nach den Angaben der Tante von … noch im Iran befänden und nur ganz sporadisch Kontakt möglich sei. Die Familie sei immer wieder inhaftiert gewesen. Die Vormundin habe sich immer wieder bemüht, Kontakt herzustellen. … habe erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, im Februar 2017 beginne eine Traumatherapie. Medizinische Unterlagen bzw. Unterlagen zum Sozialverhalten von … von Februar und April 2017 wurden in der Folge vorgelegt.
Mit Bescheid des Bundesamts vom 10. April 2017 wurde der Asylantrag von … abgelehnt, aber ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt. Der Bescheid ist nach Rücknahme einer zunächst erhobenen Klage seit 23. Juni 2017 bestandskräftig.
Am 6. März 2020 richtete die griechische Dublin-Einheit ein Übernahmeersuchen nach Art. 9 Dublin III-VO für die Antragsteller, die sich seit 13. Dezember 2020 in Griechenland aufhalten, an die Antragsgegnerin, legte Fotos und Dokumente der Antragsteller und von …, insbesondere afghanische Tazkiras, und Einwilligungserklärungen der Antragsteller zu 1) und zu 2) und von …, unterzeichnet von der zwischenzeitlich zum Vormund bestellten Tante vor. Die Tante von …, bei der er inzwischen lebt, ist als Flüchtling anerkannt.
Die Antragsgegnerin lehnte mit Schreiben vom 27. März 2020 das Übernahmeersuchen mit der Begründung ab, dass … kein anerkannter Schutzberechtigter sei, sondern für ihn lediglich ein nationales Abschiebungshindernis festgestellt sei.
Daraufhin wendeten sich die griechischen Behörden mit Schreiben vom 16. April 2020 unter Berufung auf Art. 10 und Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO mit umfangreichen rechtlichen Ausführungen erneut an die Antragsgegnerin. Dies beschied die Antragsgegnerin am 20. April 2020 abschlägig, weil die Asyl-Entscheidung hinsichtlich … bereits getroffen sei und deshalb Art. 10 Dublin III-VO nicht mehr eingreife und ein Fall, der von der durchschnittlichen Fallkonstellation abweiche, vorliegend nicht gesehen werde und damit auch Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nicht gerechtfertigt sei.
Mit Schreiben vom 11. Mai 2020 sandten die griechischen Behörden Stellungnahmen von …, seiner Tante und der Antragstellerin zu 2) sowie medizinische Unterlagen aus Griechenland an die Antragsgegnerin. Die Tante trug um Nachzugverlangen vor, dass … durch die Trennung psychisch erkrankt sei. Er habe vor der Flucht ein enges Verhältnis zu seinen Eltern gehabt. Er sei depressiv und traurig, könne bis heute nicht gut schlafen, habe keine Freunde in Deutschland, sei aggressiv und nervös, weshalb die Wiedervereinigung der Familie das Beste für … sei. … selbst trug schriftlich vor, dass er nach der Trennung von seinen Eltern nicht habe schlafen können und geweint habe. Er sei jetzt oft allein, habe in Deutschland keine Freunde und mache sich um seine Eltern in Griechenland wegen des Corona-Virus Sorgen. Nach den Ausführungen der Antragstellerin zu 2) sei der Rest der Familie nach der Trennung wieder nach Afghanistan verbracht worden. Als sie abermals in den Iran zurückgekehrt seien, hätten sie erfahren, dass … in Deutschland in Begleitung seines Cousins sei. … Vormund habe angerufen, aber nicht erlaubt, dass die Familie ihn anrufe, da … danach angefangen habe zu schreiben und es ihm schlecht gegangen sei, sobald er sich an die eigene Familie erinnert habe. Letzten Sommer sei … dann mit seiner Tante in den Iran zu Besuch gekommen. Die Familie habe dann eine erneute Flucht nach Europa gestartet und sei in Griechenland festgehalten worden.
Die Antragsgegnerin lehnte die Übernahme am 14. Mai 2020 erneut ab. Auf ein weiteres Nachhaken der griechischen Behörden vom 19. Mai 2020, dem eine Stellungnahme der Klassenlehrerin von … vom 11. Mai 2020 beigefügt war, reagierte die Antragsgegnerin nicht mehr. Die Klassenlehrerin führte aus, dass … in den letzten Jahren erkennbare Fortschritte gemacht habe, aber manchmal große Trauer und Hoffnungslosigkeit bei ihm spürbar sei, die sicher in der Sorge um seine Familie begründet liege. Er leide unter der Ungewissheit, ob und wann er seine Familie wiedersehe und sorge sich um das Wohlergehen seiner Familie im griechischen Flüchtlingslager. Die Tante, die zwischenzeitlich ein eigenes Kind erwarte, könne Vater und Mutter nicht ersetzen.
Mit am 2. Juni 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom selben Tag stellten die Antragsteller einen Antrag nach § 123 VwGO und beantragten,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Übernahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Migrationsministerium – Nationales Dublin-Referat – für die Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären und auf ihre Überstellung hinzuwirken.
Zur Begründung wurde auf die gewaltsame Trennung des damals erst neun Jahre alten … von seinen Eltern auf der Flucht im Jahr 2015 und auf dessen bis 3. Dezember 2020 gültige Aufenthaltserlaubnis verwiesen. Die Trennung des 14jährigen von seinen Eltern, zu denen eine enge Verbundenheit bestehe, stelle eine enorme Belastung für ihn dar. … sei durch die Trennung von seiner Familie stark traumatisiert. Durch die finale Ablehnung durch die Antragsgegnerin bestehe ein Anordnungsgrund.
Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 4. Juni 2020, den Antrag nach § 123 VwGO abzulehnen.
und bezog sich zur Begründung auf den Akteninhalt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Behördenakte zu den Antragstellern und die Asylakte von … sowie die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zwar zulässig (2), aber unbegründet (3) und deshalb abzulehnen. Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung hierüber zuständig (1).
1. Da sich der Antragsteller in Griechenland aufhält, greift nicht die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO ein, sondern richtet sich die gerichtliche Zuständigkeit nach dem Sitz der Antragsgegnerin, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Sitz in Nürnberg hat, ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach zur Entscheidung zu ständig. Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Person, zu der zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftritt und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
2. Der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig. Die Antragssteller sind entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Erforderlich ist hierfür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts. In Frage kommt jedenfalls der von den Antragstellern geltend gemachte Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Ein Berufen vom Ausland aus auf die Regelungen der Dublin III-VO ist dabei anzuerkennen. Die Regelungen der Dublin III-VO schließen dies nicht aus, die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO sprechen vielmehr dafür. Auch Art. 47 GR-Charta sowie Art. 6 GG streiten für dieses Ergebnis (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 19.7.2019 – AN 18 E 19.50355; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21).
Dem Antrag fehlt auch nicht das allgemeine Rechtschutzbedürfnis aufgrund einer teilweisen allgemeinen Aussetzung von Abschiebungen und Überführungen von Personen durch die Nationalstaaten wegen der aktuellen Gefahrenlage bzw. zur Eindämmung der pandemischen Ausbreitung des Corona-Virus. Ebenso wenig stehen die aktuellen tatsächlichen Einschränkungen im Flug- und im sonstigen Reiseverkehr und nationale Einreisebestimmungen, die eine Zusammenführung der Personen in der Bundesrepublik derzeit möglicherweise noch verhindern, dem Antrag entgegen. Der Antrag ist nicht auf die tatsächliche Überführung der Antragsteller in die Bundesrepublik Deutschland gerichtet, so dass es auf die derzeitige eventuelle Unmöglichkeit der Durchführung nicht ankommt, sondern auf die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für eine Überführung, nämlich auf die Zustimmung der Antragsgegnerin zur einer – auch später noch möglichen, und nicht auf Dauer unmöglichen – Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland.
3. Der Antrag ist jedoch unbegründet, da zwar wohl von einem Anordnungsgrund auszugehen ist, weil nach jederzeit zu erwartenden Entscheidungen über die Asylanträge in Griechenland ein Nachzug zu … nach den Regularien der Dublin III-VO ausgeschlossen ist; dies kann aber letztlich offenbleiben. Jedenfalls ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden ist.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) ist dabei – wie der Anordnungsgrund – glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und den Antragstellern nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was sie nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnten. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache aber dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile der Antragsteller unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris).
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Antragsteller haben weder einen Anspruch nach Art. 8 noch nach Art. 9, 10 oder 17 Abs. 2 Dublin III-VO glaubhaft gemacht.
a) Auf Art. 8 Dublin III-VO berufen sich die Antragsteller schon nicht. Art. 8 kommt ihnen auch keinesfalls zu Gute. Diese Vorschrift dient angesichts ihrer klaren Formulierung im Gegensatz zu Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO allein dem Schutz des unbegleiteten Minderjährigen selbst. Nur dieser kann sich somit hierauf berufen. Der Minderjährige … tritt vorliegend aber nicht als Antragstellerin auf, so dass die Prüfung im vorliegenden Verfahren außen vor zu bleiben hat und auch nicht geklärt werden muss, ob Fahim im Sinne von Art. 8, Art. 2 Buchst. j) Dublin III-VO „unbegleitet“ ist.
b) Art. 9 Dublin III-VO greift nicht ein, weil … in Deutschland nicht Begünstigter internationalen Schutzes ist. Für ihn wurde mit bestandskräftigem Bescheid vom 10. April 2017 lediglich ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt, nicht aber die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. f) Dublin III-VO i.V.m Art. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2011/95/EU verliehen.
c) Ein Anspruch ergibt sich auch keinesfalls nach Art. 10 Dublin III-VO, da im Zeitpunkt der Asylantragstellungen der Antragsteller in Griechenland über den Asylantrag von Fahim in Deutschland längst entschieden war.
d) Ein Anspruch auf Zuständigerklären ergibt sich vorliegend auch nicht aus dem allein ernsthaft in Betracht kommenden Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Hierzu wäre neben dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen auch eine Ermessensreduzierung auf null glaubhaft zu machen, woran es hier scheitert.
Die Antragsgegnerin das ihr zustehende Ermessen erkannt und mit der sehr knappen, aber im Ergebnis nicht zu beanstandenden Begründung, dass der Fall nicht von der durchschnittlichen Fallkonstellation abweiche, abgelehnt. Ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO führt zudem nicht schon dann zum Erfolg, wenn ein Ermessensfehler der Behörde vorliegt, sondern nach herrschender Meinung und der Rechtsprechung der Kammer in derartigen Nachzugsfällen erst und nur dann, wenn eine Ermessensreduzierung auf null glaubhaft gemacht ist. Dies ist hier nicht der Fall.
Das wäre nur anzunehmen, wenn das Interesse der Familienangehörigen die Familienzusammenführung in Deutschland zwingend erfordern würde und jede andere Entscheidung rechtswidrig wäre. Das regelmäßig bestehende Interesse von Minderjährigen am Zusammenleben mit den eigenen Eltern und umgekehrt reicht hierfür noch nicht. Dies ergibt sich gerade aus den Regelungen der Art. 8 bis 11 Dublin III-VO, die nicht in jedem Fall von getrennten (Kern-)
Familienangehörigen ein Nachzugsrecht einräumen. Auch fordern Art. 6 GG oder 8 EMRK nicht ohne weiteres und stets die Zusammenführung von Eltern und minderjährigen Kindern. Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ermöglicht in Anerkennung des übergeordneten Familienschutzes eine Familienzusammenführung bei Vorliegen humanitärer Gründe, die sich aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben. Nur wenn im Einzelfall Umstände vorliegen, die die Annahme einer besonderen Härte begründen und jede andere Entscheidung als eine Zusammenführung der genannten Personen als unvertretbar erscheinen ließen, folgt für die Antragsteller aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ein Anspruch auf Nachzug. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte spielen dabei insbesondere das Alter des Kindes, der Umfang der Bindung zwischen Nachzugswilligen und dem Familienangehörigen, zu dem nachgezogen werden soll, sowie der Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, eine Rolle (vgl. EGMR, U.v. 30.7.2013 – Nr. 948/12 – BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes aufgrund seines Lebensalter sowie die Frage, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat (EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – BeckRS 2006, 80974 Rn. 73-75), zu werten, wobei der EuGH in anderem Zusammenhang eine Altersgrenze von zwölf Jahren gebilligt hat.
Als Jugendlicher mit 14, fast 15 Jahren kann davon ausgegangen werden, dass … noch auf die Fürsorge von Erwachsenen angewiesen ist. Er ist in Deutschland allerdings nicht auf sich allein gestellt, sondern seit einiger Zeit in die Familie seiner Tante und seines Cousins aufgenommen und hat nach seinem Vortrag und dem Vortrag der Tante nach der Trennung von den Eltern im Alter von neun Jahren auch die Flucht mit der Familie der Tante bewältigt. Zu seinen Eltern hat … seit rund fünf Jahren keinen persönlichen Kontakt mehr, er hat diese lediglich einmal im Sommer 2019 besuchsweise im Iran gesehen. Es ergibt sich aus der Aktenlage auch nicht und ist auch sonst nicht glaubhaft gemacht, dass ein intensiver Kontakt etwa über Telefon besteht und bestanden hat. Die ehemalige Vormundin von … hat bei der Anhörung am 31. Januar 2017 vielmehr angeben, dass sie zwar versucht habe, Kontakt zu den Eltern herzustellen, dass dies aber nur sporadisch geklappt habe. Die Mutter von …, die Antragstellerin zu 2), gibt in ihrer Stellungnahme ebenfalls an, dass kaum Kontakt bestanden habe und nennt hierfür aber als Grund, dass die damalige Vormundin den Kontakt versucht habe zu unterbinden, weil es … nach derartigen Kontakten schlecht gegangen sei. Dieser Vortrag der Mutter erscheint nicht nur deshalb wenig glaubhaft, weil er in deutlichem Widerspruch zur Aussage der Vormundin steht, sondern auch, weil … selbst keinerlei Angaben macht, die dies stützt. Er selbst gibt vielmehr eine eher vage und oberflächliche Stellungnahme ab, aus der der Wiedervereinigungswunsch von seiner Seite kaum zum Ausdruck kommt. Für ihn steht offensichtlich im Vordergrund, seiner Familie die humanitär schwierige Situation im griechischen Flüchtlingslager zu ersparen, nicht zum Ausdruck kommt aber, dass er (jetzt noch) dringend auf die Anwesenheit seiner Eltern angewiesen ist und den täglichen persönlichen Kontakt (jetzt noch) dringend wünscht. Was seine Schlafstörungen anbetrifft, schreibt … – im Gegensatz zum Rest seines Textes – in der Vergangenheit. Ebenfalls in die Richtung, dass sich … vorwiegend wegen der Umstände, in denen die Eltern leben, sorgt, äußert sich auch seine Lehrerin. Soweit diese die Trennung von den Eltern als schwierig für … beurteilt, gibt sie eine eigene Beurteilung ab, gibt aber nicht Äußerungen und die Meinung von … wieder. Dass … nach fünf Jahren Trennung von Eltern und Geschwistern und ohne intensiven Kontakt bzw. nur Kontakt auf die Ferne und im Alter von nunmehr fast 15 Jahren noch so auf seine (ehemalige) Familie angewiesen ist, dass ihm eine fortbestehende Trennung unzumutbar ist, ist auch realistischerweise nicht zu erwarten. Nach fünf Jahren Trennung und – soweit erkennbar – Integration in eine neue Familie (wohl sei ca. drei Jahren) sowie Erreichen einer gewissen Selbstständigkeit mit 15 Jahren kann davon ausgegangen werden, dass eine Entfremdung zwischen Eltern und Kind eingetreten ist und damit eine Wiedervereinigung aus Kindeswohlgründen nicht (mehr) dringend erforderlich ist, vielmehr das Aufrechterhalten der jetzigen familiären Situation … zumutbar, eventuell für seine Entwicklung sogar besser ist. Dass … nach wie vor in einer extrem schwierigen psychischen Situation ist und diese durch eine Familienzusammenführung Besserung erfahren würde, ist der Aktenlage ebenfalls nicht zu entnehmen. Es ist aus der Aktenlage unklar, ob die Traumatherapie 2017 begonnen und inzwischen (erfolgreich oder erfolglos?) beendet worden ist. Unklar ist auch der Hintergrund des (nur ehemals oder weiterbestehenden?) auffälligen Verhaltens von … Wurde dieses durch die Trennung von den Eltern ausgelöst oder durch sonstige traumatische Ereignisse? Aktuelle ärztliche, insbesondere psychotherapeutische Unterlagen für … wurden im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nicht vorgelegt, wären zur Glaubhaftmachung aufgrund der insoweit sehr dürftigen Aktenlage und des Fragen aufwerfenden unklaren Sachverhalts und der wenig aussagekräftigen, teils widersprüchlichen Aussagen von …, seiner Mutter, seiner Tante, seiner ursprünglichen Vormundin und seiner Lehrerin aber notwendig gewesen. Dass das Wohl von … den Nachzug der Eltern der Geschwister dringend erfordert, wurde damit nicht glaubhaft gemacht.
Ebenso wenig kann erkannt werden, dass die Situation der sich in Griechenland befindenden Familienangehörigen einen Nachzug zum Sohn bzw. Bruder erfordert. Dabei kann zugrunde gelegt werden, dass die Trennung der Familie unfreiwillig erfolgte. Dass innerhalb der fünfjährigen Trennungszeit seitens der Eltern nennenswerte Anstrengungen unternommen worden sind, eine Wiedervereinigung mit dem Sohn zu erreichen, wurde aber weder von den Antragstellern, noch von … oder einer seiner Bezugspersonen vorgetragen und ergibt sich auch aus den Akten nicht. Dies ist damit nicht glaubhaft gemacht. Die jahreslange Akzeptanz der Familientrennung stellt vielmehr ein starkes Indiz dafür dar, dass das Wohl der Familienangehörigen die Wiedervereinbarung nicht erfordert. Die angegebenen Krankheiten der Antragsteller führen zu keiner anderen Bewertung, da nicht erkennbar ist, dass die Familienzusammenführung hieran etwas ändern würde. Eine Behandlung in Griechenland ist, wie die griechischen medizinischen Unterlagen belegen, in Griechenland gewährleistet.
Die Kostenentscheidung des damit erfolglosen Antrags beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.


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