Europarecht

Nigeria, Überstellung einer alleinerziehender Mutter mit Kleinkindern und Säugling nach Italien zur Durchführung des Asylverfahrens, systemische Mängel in Italien (verneint), temporäres zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot für Schwangere während der geltenden Mutterschutzfristen

Aktenzeichen  Au 9 K 22.50083

Datum:
7.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 13016
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a
AsylG § 34a Abs. 1 S. 1
EUGrdRCh Art. 4
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Februar 2022 wird in Nr. 2 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, zugunsten der Klägerin ein temporäres Abschiebungsverbot bis zum Ablauf von acht Wochen nach der Entbindung (voraussichtlicher Entbindungstermin 25. Mai 2022) festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.  

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Klägerin aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. April 2022 verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 7. April 2022 form- und fristgerecht geladen worden.
Die zulässige Klage hat teilweise Erfolg. Für die Klägerin besteht im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 1 AsylG) ein temporäres Abschiebungsverbot aufgrund der Schwangerschaft der Klägerin und dem voraussichtlichen Entbindungstermin 25. Mai 2022.
1. Zunächst weist das Gericht darauf hin, dass sich das Klageverfahren ausschließlich auf die Klägerin und nicht jedoch weitergehend auf ihre beiden minderjährigen Kinder … (geb. …2018) und … (geb. …2020) erstreckt. Fristgerecht hat der Bevollmächtigte der Klägerin im Schriftsatz vom 2. März 2022 nur für die Klägerin selbst Klage erhoben. Die beiden minderjährigen Kinder der Klägerin wurden erstmals im Klageantrag im Schriftsatz vom 17. März 2022 (Gerichtsakte Bl. 17) erwähnt. Zu diesem Zeitpunkt konnten die minderjährigen Kinder der Klägerin aber nicht mehr ins Klageverfahren einbezogen werden, da ihnen gegenüber der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts vom 14. Februar 2022 bereits bestandskräftig geworden ist. Für die minderjährigen Kinder der Kläger konnte zu diesem Zeitpunkt die Klagefrist aus § 74 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht mehr gewahrt werden.
2. Für die Klägerin liegt im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein von der Beklagten zu beachtendes temporäres nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
Angesichts der – fachärztlich attestierten – bevorstehenden Niederkunft der Klägerin (voraussichtlicher Entbindungstermin 25. Mai 2022) ist ihre Abschiebung nach Italien derzeit nicht möglich. Die derzeit weit fortgeschrittene Schwangerschaft der Klägerin kann bei einer Reise zum jetzigen Zeitpunkt zu einer konkreten und ernsthaften Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der Mutter oder des (ungeborenen) Kindes führen.
Das Gericht geht davon aus, dass die Bestimmungen über Mutterschutzfristen im Mutterschutzgesetz bei der Frage der Durchführbarkeit einer Abschiebung entsprechend herangezogen werden können. Nach § 3 Abs. 2 Mutterschutzgesetz (MuSchG) dürfen werdende Mütter 6 Wochen vor der Entbindung grundsätzlich nicht mehr beschäftigt werden; das Beschäftigungsverbot dauert in der Regel bis acht Wochen nach der Entbindung (vgl. § 6 Abs. 1 MuSchG). Die Vorschriften beruhen auf der allgemeinen Erkenntnis, dass im Falle einer erheblichen physischen oder psychischen Belastung der Schwangeren in dieser Zeit Gefahren für Mutter und Kind nicht von der Hand zu weisen sind. Diese gesetzgeberische Wertung zieht in aller Regel auch für Abschiebungen eine zeitliche Grenze (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 60a Rn. 146; Bruns, a.a.O., § 60a Rn. 10; in diese Richtung auch Dienelt, in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 60a Rn. 29 m.w.N.).
Die psychische und physische Belastung durch eine zwangsweise Aufenthaltsbeendigung dürfte derjenigen, die beispielsweise eine Arbeit an einem Büroarbeitsplatz mit sich bringt, mindestens gleichkommen. Insofern besteht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass eine Schwangere während der Mutterschutzfristen nicht gefahrlos abgeschoben werden kann.
Damit besteht für die Klägerin ein temporäres Abschiebungsverbot bis zur Dauer von acht Wochen nach der Entbindung. Aufgrund dessen war die von der Beklagten in ihrem Bescheid vom 14. Februar 2022 in Nr. 2 getroffene Feststellung, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, für den genannten Zeitraum aufzuheben.
3. Im Übrigen bleibt die Klage jedoch ohne Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 14. Februar 2022 ist in den Nrn. 1, 3 und 4 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
3.1. Das Bundesamt hat zutreffend den Asylantrag der Klägerin gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG als unzulässig abgelehnt, da Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gem. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO mit Schreiben vom 5. November 2021 erklärt hat.
Die Beklagte hat den Asylantrag der Klägerin zurecht gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates als unzulässig abgelehnt.
Ein Asylantrag ist gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO sieht vor, dass Anträge auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft werden, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Lässt sich anhand dieser Kriterien der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
Im vorliegenden Falle ist die Italienische Republik gemäß Art. 13, 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags zuständig, weil die Klägerin dort nach eigenen Angaben erstmals internationalen Schutz beantragt hat.
Die Zuständigkeit ist auch nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO wegen Fristablaufs auf die Beklagte übergegangen.
Der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig stehen auch weder systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien (1), noch eine Pflicht der Beklagten zum Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO (2) entgegen. Da das Gericht, wie nachfolgend noch auszuführen sein wird (siehe (1)), im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AsylG keine Überzeugungsgewissheit vom Vorliegen systemischer Mängel bezüglich Italiens zu gewinnen vermag, kommt eine Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung nicht in Betracht.
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) beruht auf dem „Prinzip gegenseitigen Vertrauens“, dass alle daran beteiligten Mitgliedstaaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), dem Protokoll von 1967 und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) finden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417 Rn. 79; U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 80). Dies begründet die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta (EU-GR-Charta) sowie mit der GFK und der EMRK steht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 80). Das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens begründet jedoch nur eine widerlegliche Vermutung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das GEAS in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 83 f.). Insbesondere ist das in Art. 4 EU-GR-Charta enthaltene Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von fundamentaler Bedeutung und muss aufgrund der engen Verbindung zur Achtung der Würde des Menschen (Art. 1 EU-GR-Charta) und seines daraus resultierenden absoluten Charakters auch bei Überstellungen von Asylbewerbern nach den Dublin-Verordnungen vollumfänglich beachtet werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – N.S., C-411/10 – NVwZ 2012, 417; U.v. 14.11.2013 – Puid, C-4/11 – NVwZ 2014, 129; U.v. 16.2.2017 – C-578/16 – NVwZ 2017, 691 Rn. 59; U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 78). Die Vermutung, wonach der Aufnahmestaat seinen Pflichten aus Art. 3 EMRK nachkommt, kann deshalb widerlegt werden, wenn schwerwiegende Gründe für die Annahme vorgebracht werden, dass die Person, deren Rückführung angeordnet wird, einer tatsächlichen Gefahr („real risk“) entgegensehen würde, im Zielstaat einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, Nr. 29217/12 – NVwZ 2014, 127, Rn. 104; U.v. 21.1.2011 – M.S.S., Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413 Rn. 342). Die Ursache der Gefahr hat keine Auswirkungen auf das Schutzniveau der EMRK und befreit den überstellenden Staat nicht davon, eine gründliche und individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person vorzunehmen und im Falle der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung die Durchsetzung der Abschiebung auszusetzen (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, a.a.O.). Diesen Vorgaben des höherrangigen Unionsrechts sowie des internationalen Rechts trägt Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO Rechnung. Danach besteht ein Überstellungshindernis, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in dem an sich zuständigen Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-GR-Charta mit sich bringen. Unter diesen Umständen hat die Beklagte zunächst gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO die Prüfung der Zuständigkeitskriterien in Kapitel III (Art. 7 – 15 Dublin III-VO) fortzusetzen, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Kann danach keine Überstellung an einen anderen zuständigen Mitgliedstaat erfolgen, so geht nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO die Zuständigkeit auf die Beklagte über.
Die Anforderungen an die Feststellung systemischer Mängel und eine daraus resultierende Widerlegung der Sicherheitsvermutung sind allerdings hoch. Im Hinblick auf das Ziel der Dublin III-VO, zügig und effektiv den für das Asylverfahren zuständigen Staat zu bestimmen, können geringfügige Verstöße hierfür nicht ausreichen. Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss vielmehr ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-GR-Charta droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 80; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41). Erforderlich ist insoweit die real bestehende Gefahr, dass in dem Mitgliedstaat, in den überstellt werden soll, die grundlegende Ausstattung mit den notwendigen, zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse elementaren Mitteln so defizitär ist, dass der materielle Mindeststandard nicht erreicht wird und der betreffende Mitgliedstaat dieser Situation nicht mit geeigneten Maßnahmen, sondern mit Gleichgültigkeit begegnet (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 29.1.2018 – 10 LB 82/17 – juris Rn. 34 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des EGMR kann allerdings die bloße schlechtere wirtschaftliche oder soziale Stellung der Person in dem Mitgliedstaat, in den überstellt werden soll, nicht für die Annahme einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausreichen (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – 27725/10 – ZAR 2013, 336, 70 f.). Der EGMR führt in seiner Entscheidung aus, dass Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung der Vertragsparteien enthalte, jede Person innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs mit Obdach zu versorgen oder finanzielle Leistungen zu gewähren, um ihnen dadurch einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Einer Dublin-Überstellung stünden nur außergewöhnliche zwingende humanitäre Gründe entgegen.
Diese Grundsätze konkretisierend hat der EuGH in seinem Urteil vom 19. März 2019, Az.: C-163/17 (juris Rn. 91) ausgeführt, dass systemische Schwachstellen nur dann als Verstoß gegen Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK zu werten seien, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht werde, die von sämtlichen Umständen des Falles abhänge. Diese Schwelle sei aber selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden seien, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befinde, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden könne. Die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats müsse zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinde, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92 f.).
Entsprechend den vorstehenden Ausführungen geht das Gericht auf der Basis einer Gesamtwürdigung nach dem im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) aktuellen Erkenntnisstand nicht davon aus, dass das Asylverfahren in Italien unionsrechtlichen Maßstäben widerspricht bzw. dort unzureichende Aufnahmebedingungen herrschen, die zu einer Verletzung der durch Art. 4 EU-GR-Charta gewährleisteten Rechte führen.
Die Republik Italien ist als Mitgliedstaat der Europäischen Union an die europäischen Grundrechte (Art. 51 Abs. 1 EU-GR-Charta) sowie an die EMRK gebunden. Deshalb spricht zunächst die durch das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens begründete Vermutung für die Zulässigkeit der Abschiebung in einen solchen Staat. Diese Vermutung ist nicht durch die Annahme systemischer Mängel des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen entkräftet, weil eine Zusammenschau der einschlägigen Erkenntnismittel ergibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien zumindest den internationalen und europäischen Mindeststandards entsprechen und jedenfalls elementare Bedürfnisse der Asylbewerber gedeckt werden können.
Asylbewerber haben in Italien entsprechend dem Grundrecht auf Asyl Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten. Über den Ablauf des Asylverfahrens wird über Informationsbroschüren in unterschiedlichen sprachlichen Fassungen sowie über Betreuungsdienste Auskunft gegeben. Bei Dublin-Rückkehrern ist im Regelfall gewährleistet, dass sie nach ihrer Rückkehr nach Italien ihren ursprünglichen Antrag auf internationalen Schutz weiterverfolgen oder erstmals einen Asylantrag stellen können. Im Falle einer Ablehnung kann ein Wiederaufnahmeantrag gestellt werden oder Beschwerde gegen den Ablehnungsbescheid erhoben werden. Das Asylverfahren soll zwar grundsätzlich nicht länger als sechs Monate dauern (vgl. Amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG NW vom 23.2.2016). Der Umstand, dass diese Verfahrensdauer aufgrund der aktuellen Belastungssituation nicht immer eingehalten werden kann, rechtfertigt jedoch nicht die Annahme eines unzureichenden Asylverfahrens, zumal diesbezügliche Schwierigkeiten wegen des enormen Zustroms an Schutzsuchenden nicht nur in Italien, sondern in vielen europäischen Ländern bestehen.
Des Weiteren erhalten Asylsuchende während des Asylverfahrens in Italien nach wie vor Leistungen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen, insbesondere Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Kleidung (vgl. BFA, a.a.O., S. 13 m.w.N.). Auch wenn Italien diesbezüglich möglicherweise hinter den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland zurückbleibt und insbesondere kein umfassendes Sozialsystem bereitstellt, so begründet dies entsprechend den obigen Ausführungen keine generellen systemischen Mängel.
Italien verfügt über ein umfassendes Gesundheitssystem, das medizinische Behandlungsmöglichkeiten auf hohem Niveau bereitstellt. Asylbewerber haben in gleicher Weise wie italienische Bürger einen Anspruch auf medizinische Versorgung, der mit der Registrierung eines Asylantrags entsteht. Bis zum Zeitpunkt der Registrierung werden gleichwohl medizinische Basisleistungen, wie beispielsweise kostenfreie Notfallversorgung, gewährleistet (vgl. BFA, a.a.O., S. 19 ff.). Auch diesbezüglich kommt es durch das Salvini-Dekret zu keinen Abstrichen. Insbesondere ist nach wie vor die Einschreibung beim Nationalen Gesundheitsdienst für Asylbewerber auf der Basis des „domicilio“ garantiert, welcher üblicherweise im Aufnahmezentrum liegt. Zusätzlich sind in den Erstaufnahmeeinrichtungen Ärzte beschäftigt, die medizinische Erstuntersuchungen und Notfallmaßnahmen vornehmen und die nationalen Gesundheitsdienste entlasten sollen. Der Zugang zu medizinischer Notversorgung in öffentlichen Spitälern bleibt weiterhin bestehen, auch für illegale Migranten (vgl. BFA, a.a.O., S. 19 ff.).
Während des Asylverfahrens haben Asylbewerber einen Anspruch auf Unterbringung. Grundsätzlich werden zahlreiche Plätze für Asylsuchende und Dublin-Rückkehrer in verschiedenen staatlichen Unterkünften zur Verfügung gestellt, die über ganz Italien verteilt sind. Neben den staatlichen Einrichtungen existieren bisher verschiedene karitative und kommunale Einrichtungen, die zusätzliche Unterkunftsmöglichkeiten bieten, um Asylbewerber vor Obdachlosigkeit zu schützen.
In Einzelfällen festzustellende defizitäre Umstände sind noch nicht als generelle systemische Mängel in Italien zu qualifizieren, zumal die Annahme von Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO entsprechend den oben genannten Maßgaben an hohe Anforderungen geknüpft ist. Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der italienische Staat mit Unterstützung von European Asylum Support Office der Europäischen Union (EASO) geeignete Maßnahmen ergriffen hat, um die Aufnahmekapazitäten stetig zu erhöhen und aktiv darum bemüht ist, diese auch weiterhin zu verbessern (vgl. EASO Special Support Plan to Italy, 11.3.2015).
Auf der Basis der vorstehenden Ausführungen schließt sich das Gericht unter Auswertung neuerer Erkenntnismittel und unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrags in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung der Einschätzung zahlreicher anderer Verwaltungsgerichte an, dass Italien grundsätzlich über ausreichende Unterbringungskapazitäten sowie ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes und richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, das trotz bestehender Mängel noch als funktionsfähig betrachtet werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 9.1.2019 – 1 C 26.18 – juris Rn. 22; BayVGH, B.v.9.1.2019 – 10 CE 19.67 – juris Rn. 9; NdsOVG, U.v.4.4.2018 – 10 LB 96/17 – juris Rn. 32; VG Augsburg, G.v.16.8.2021 – Au 3 K 21.50069 – juris Rn. 9; VG Würzburg, U.v.3.4.2020 – W 10 K 19.30677 – juris Rn. 36 ff.)).
Systemische Mängel können schließlich auch nicht mit der nach § 108 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit aufgrund der derzeitigen tatsächlichen Entwicklungen in Italien im Zeichen der durch das COVID-19-Virus ausgelösten Corona-Pandemie angenommen werden.
Des Weiteren sind vorliegend auch keine außergewöhnlichen Umstände gegeben, welche zu einer Pflicht der Beklagten zum Selbsteintritt zugunsten der Klägerin bzw. zu Ermessensfehlern bei der Entscheidung über die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO führten. Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts steht grundsätzlich im (freien) Ermessen der Mitgliedstaaten (sog. Ermessensklausel, vgl. EuGH, U.v. 23.1.2019 – M.A. u.a., C-661/17 – juris; U.v. 5.7.2018 – X., C-213/17 – juris; U.v. 16.2.2017 – C.K., C-578/16 PPU – juris Rn. 88; U.v. 30.5.2013 – Halaf, C-528/11 – juris Rn. 35 ff.). Allerdings kann sich nach der Rechtsprechung des EGMR ein Mitgliedstaat seiner Verantwortlichkeit für eine Grundrechtsverletzung infolge der Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nicht unter Verweis auf dessen Zuständigkeit entziehen, wenn er die Befugnis zum Selbsteintritt besitzt, von dieser Möglichkeit aber trotz der ernsthaften Gefahr einer Grundrechtsverletzung keinen Gebrauch macht (EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S., 30696/09, NVwZ 2011, 413 Rn. 340 m.V.a. U.v. 30.6.2005 – Bosphorus, Nr. 45036/98 – NJW 2006, 197). Des Weiteren ist die Beklagte bei der Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gemäß Art. 1 Abs. 3 GG – in dem durch den Anwendungsvorrang der unionsrechtlichen Grundrechte nach Art. 51 Abs. 1 EU-GR-Charta gezogenen Rahmen – an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden (vgl. BVerfG, U.v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 – juris und 1 BvR 276/17 – juris). Eine Pflicht zum Selbsteintritt kann deshalb aus verfassungs- bzw. konventionsrechtlichen Gründen angenommen werden, wenn sich das der Beklagten eingeräumte Ermessen derart verdichtet hat, dass jede andere Entscheidung unvertretbar wäre (sog. Ermessensreduktion auf Null), weil außergewöhnliche humanitäre, familiäre oder krankheitsbedingte Gründe vorliegen, die nach Maßgabe der Werteordnung der Grundrechte einen Selbsteintritt erfordern (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 ff.; VG München, G. v. 29.2.2016 – M 12 K 15.50784 – juris Rn. 43 f.).
Derartige außergewöhnliche Umstände liegen hier aber nicht vor, zumal die Klägerin nach ihrem Vortrag bereits fünf Jahre lang in Italien gelebt hat (vgl. Behördenakte Bl. 84 und Asylerstantragstellung in Italien am 20. April 2016; Behördenakte Bl. 94), bevor sie in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.
3.2. Ein über die entsprechenden anwendbaren Mutterschutzfristen hinausgehendes Abschiebungsverbot ist für die Klägerin nicht zu erkennen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Rückkehr der Klägerin mit zwei minderjährigen Kindern und einem Säugling nach Italien. Das Gericht wendet dabei den der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zugrundeliegenden Maßstab für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK an (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 8 ff., 11 ff.). Danach kann die Überstellung der Klägerin gegen das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh verstoßen, wenn bei ihr ernsthaft zu befürchten ist, dass die Lebensbedingungen, denen sie in Italien als Staat ihrer Schutzgewährung ausgesetzt ist, Art. 3 EMRK widersprechen. Das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung bzw. Zurückschiebung kann insbesondere dann erreicht sein, wenn die Klägerin ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11). Der Einzelrichter verkennt nicht, dass die Klägerin als Schwangere zu dem nach Art. 20 Abs. 3 RL 2011/25/EU Qualifikationsrichtlinie besonders schutzbedürftigen Personenkreisen zu zählen ist und ihr gegenüber demgemäß eine gesteigerte Schutzpflicht der EU-Mitgliedsstaaten besteht.
Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und des Vortrags des Bevollmächtigten der Klägerin reicht das Vorbringen nicht aus, um im Hinblick auf die humanitären Verhältnisse in Italien eine so gravierende Situation annehmen zu können, die ein Abschiebungsverbot nach den genannten Bestimmungen in Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh herleiten zu können. Auch die Republik Italien trifft die besondere Schutzpflicht für die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen nach Art. 20 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie. Aus dem in Italien geltenden Dekret DL 142/2015 ergeben sich konkrete spezielle Vorgehensweisen der italienischen Behörden nicht nur bei der Unterbringung anerkannt vulnerablen Personen, die der Schutzbedürftigkeit der Klägerin hinreichend Rechnung tragen. Die Klägerin hat im Klageverfahren nichts Konkretes dargelegt, dass ihr trotz der geltenden verfahrensmäßigen Sicherungsmaßnahmen in Italien eine Situation droht, in der sie ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten könne und sie damit unweigerlich einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh ausgesetzt wird (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 9.1.2019 – 10 CE 19.67 – juris Rn. 16 ff.).
Ergänzend wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Begründung des angefochtenen Bescheids Bezug genommen, mit der die Lage von Asylbewerbern in Italien ausführlich dargestellt wird (§ 77 Abs. 2 AsylG).
4. Die Anordnung der Abschiebung nach Italien beruht auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll. Nach Wegfall des temporären Abschiebungshindernisses ist die Abschiebung der Klägerin nach Italien zulässig und möglich.
5. Der Klägerin steht auch kein Anspruch auf Festsetzung einer kürzeren Frist für das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot zu. Das Bundesamt hat hier gemäß § 75 Nr. 12 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG nach Ermessen eine Frist von 15 Monaten festgesetzt. Fehler insoweit sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
6. Die Kostenentscheidung für das gerichtliche Verfahren folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und trägt dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten Rechnung. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben