Europarecht

Reaktion Italiens auf Aufnahmegesucht eines Flüchtlings – Rücküberstellung

Aktenzeichen  W 8 S 20.50028

Datum:
20.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 321
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a, § 77 Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 17 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 25 Abs. 2
GRC Art. 4
EMRK Art. 3
RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Die im Bereich der Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber im Einzelfall weiterhin feststellbaren Mängel und Defizite in Italien sind weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes systemisches Versagen vorläge. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der jeweilige Mitgliedstaat ist kraft seiner Gebietshoheit befugt, den Aufenthalt von unanfechtbar abgelehnten Asylbewerbern in seinem Hoheitsgebiet zu beenden, zu dulden oder durch Gewährung eines zumindest befristeten Aufenthaltsrechts (vorübergehend) zu legalisieren. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist algerischer Staatsangehöriger. Er reiste am 31. Oktober 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein, äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 31. Oktober 2019 Kenntnis erlangte und stellte am 7. November 2019 einen förmlichen Asylantrag.
Nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 11. Dezember 2019 reagierten die italienischen Behörden bislang nicht.
Mit Bescheid vom 13. Januar 2020 lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Am 15. Januar 2020 erhob der Antragsteller zu Protokoll des Urkundsbeamten im Verfahren W 8 K 20.50027 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid und b e a n t r a g t e im vorliegenden Verfahren:
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Zur Begründung verwies der Antragsteller auf das Verfahren und die Begründung beim Bundesamt und brachte darüber hinaus im Wesentlichen weiter vor: Er könne nicht zurück nach Italien, da er in Italien niemand kenne und niemand habe, der ihn unterstütze. Er kenne jedoch viele Personen in Deutschland und in den Niederlanden, die für ihn da seien und ihm helfen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 20.50027) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens des Antragstellers ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides begehrt.
Der so verstandene Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, aber unbegründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 13. Januar 2020 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten, so dass das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache, im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, überwiegt.
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Das Vorbringen der Antragstellerseite führt zu keiner anderen Beurteilung.
Italien ist gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b i.V.m. Art. 25 Dublin III-VO aufgrund des erteilten Visums für die Bearbeitung des Asylantrages des Antragstellers zuständig. Italien hat nicht fristgerecht auf das Übernahmeersuchen reagiert. Somit ist gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO davon auszugehen, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung für Italien nach sich zieht, den Antragsteller wieder aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für seine Ankunft in Italien zu treffen.
Außergewöhnliche Umstände, die möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO bzw. für eine entsprechende Pflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, liegen nicht vor.
Die Überstellung nach Italien ist nicht rechtlich unmöglich (vgl. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG) im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Diese Vorschrift entspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (z.B. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u. a. – NVwZ 2012, 417). Danach ist eine Überstellung eines Asylsuchenden an einen anderen Mitgliedsstaat nur dann zu unterlassen, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende im zuständigen Mitgliedsstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der (rück-)überstellten Asylsuchenden im Sinne von Art. 4 Grundrechte-Charta (GR-Charta) zur Folge hätte.
Die Anforderungen an die Feststellung systemischer Mängel und eine daraus resultierende Widerlegung der Sicherheitsvermutung sind allerdings hoch. Konkretisierend hat der EuGH in seinem Urteil vom 19. März 2019 (C-163/17 – juris Rn. 91) ausgeführt, dass systemische Schwachstellen nur dann als Verstoß gegen Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK zu werten seien, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht werde, die von sämtlichen Umständen des Falles abhänge. Diese Schwelle sei aber selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden seien, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befinde, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden könne. Die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats müsse zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinde, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92 f.).
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen geht das Gericht auf der Basis einer Gesamtwürdigung nach dem aktuellen Erkenntnisstand und im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) davon aus, dass in Italien keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen mit der Folge gegeben sind, dass Asylbewerber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden. Dies gilt auch im Hinblick auf die hier relevante Gruppe der Dublin-Rückkehrer. Grundsätzlich erhalten auch Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft, medizinische Behandlung und sonstige Versorgung. Sofern sie einen Asylantrag stellen, wird ein Asylverfahren durchgeführt bzw. ein bereits anhängiges Verfahren wird fortgesetzt. Aktuelle Erkenntnisse, auf die Bezug genommen wird, liegen diesbezüglich der zitierten Rechtsprechung zugrunde (vgl. neben der schon im streitgegenständlichen Bescheid zitierten Rechtsprechung insbesondere zuletzt etwa noch VG Frankfurt, B.v. 27.12.2019 – 2 L 615/19.A – juris; VG Aachen, U.v. 17.12.2019 – 9 K 4401/18.A – juris; VG Düsseldorf, U.v. 28.11.2019 – 12 K 14671/17.A – juris; VG Magdeburg, B.v. 14.11.2019 – 8 B 398/19 – juris; BayVGH, B.v. 9.9.2019 – 10 ZB 19.50024 – juris; B.v.17.9.2019 – 10 ZB 19.50031 – juris; VG München, B.v. 4.6.2019 – M 19 S 19.50513 – juris sowie ferner VG Würzburg, U.v. 15.1.2020 – W 10 K 19.50634; B.v. 18.10.2019 – W 4 S 19.50706; anderer Ansicht etwa VG Minden, U.v. 13.11.2019 – 10 K 2221/18.A – juris).
Es mag zwar immer wieder vorkommen, dass Asylsuchende im Einzelfall während der Bearbeitung ihres Asylantrages in Italien auf sich alleine gestellt und zum Teil auch obdachlos sind. Die im Bereich der Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber weiterhin feststellbaren Mängel und Defizite sind aber weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes systemisches Versagen der Mitgliedsstaaten vorläge, welches für einen Dublin-Rückkehrer nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine Rechtsverletzung im Schutzbereich von Art. 3 EMRK oder Art. 4 GR-Charta mit den dafür notwendigen Schweregrad nahelegt (vgl. neben der oben zitierten Rechtsprechung auch noch NdsOVG, B.v. 6.8.2018 – 10 LA 320/18 – juris Rn. 6 f; U.v. 4.4.2018 – 10 LB 96/17 – juris Rn. 39 ff.; OVG NRW, U.v. 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A – juris Rn. 41 ff.).
Denn in Italien existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten (BFA, Bundesamt für das Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien vom 26.2.2019, S. 12 ff.).
Auch aus der Entwicklung in der letzten Zeit ergibt sich nichts Gegenteiliges. So hat sich die Zahl der Unterbringungsplätze in der Vergangenheit bei gleichzeitig zurückgehenden Asylanträgen und Asylverfahren in Italien sowie zurückgehender Zahl von Personen in den staatlichen Unterbringungseinrichtungen deutlich erhöht (vgl. BFA, Bundesamt für das Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien vom 26.2.2019, S. 12 ff.). In Italien bestehen ausdifferenzierte Strukturen zur Aufnahme von Asylbewerbern, auch speziell von Dublin-Rückkehrern. Diese befinden sich in staatlicher, in kommunaler, kirchlicher oder privater Trägerschaft und werden zum Teil zentral koordiniert. Dublin-Rückkehrer haben letztlich einen durchsetzbaren Unterkunftsanspruch. Ihnen droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit, weil sie auch faktisch in der Regel einen Zugang zu Wohnraum haben. Dublin-Rückkehrer haben bei ihrer Ankunft in Italien je nach Kapazität sofort Zugang zu bestimmten Unterkünften. Zur Durchsetzung des Unterkunftsanspruchs müssen Dublin-Rückkehrer, deren Asylverfahren in Italien noch nicht abgeschlossen sind, zum Zweck der förmlichen Registrierung wieder zu den für ihr Asylverfahren bzw. ihre Unterbringung zuständigen Stellen reisen. Dazu erhalten sie am Flughafen entsprechende Informationen. Dass in Einzelfällen auch Dublin-Rückkehrer obdachlos werden können, ändert nichts an der Verneinung des Vorliegens systemischer Mängel (vgl. neben der schon oben zitierten Rechtsprechung auch noch VG Würzburg, B.v. 19.2.2019 – W 8 S 19.50120 – juris m.w.N.).
Auch ein möglicher Politikwechsel der aktuellen italienischen Regierung rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Änderungen infolge des Salvini-Dekrets führen nicht zu systemischen Mängeln gerade angesichts des Rückgangs der Flüchtlingszahlen, zumal weiterhin nicht davon auszugehen ist, dass der italienische Staat mit Gleichgültigkeit reagiert, sondern auch entsprechende Maßnahmen zur Bewältigung von Obdachlosigkeit trifft (VG Frankfurt, B.v. 27.12.2019 – 2 L 615/19.A – juris; VG Hannover, B.v. 14.1.2019 – 5 B 5153/18 – juris; VG Berlin, G.v. 9.1.2019 – 34 K 1131.17 A – juris).
Durch das am 5. Oktober 2018 erlassene und am 7. November 2018 durch den Senat sowie am 28. November 2018 durch das Parlament bestätigte Dekret No. 113/2018 über Sicherheit und Migration (sog. Salvini-Dekret) wird zwar der bisherige humanitäre Schutz stark eingeschränkt. Wurde dieser bislang für die Dauer von zwei Jahren gewährt, wenn “besondere Gründe”, insbesondere “humanitären Charakters” vorlagen, ist er nunmehr an eine restriktive und vor allem abschließende Liste von Gründen gebunden, aus denen eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann (teilweise auch mit einer Dauer von weniger als zwei Jahren). Eine solche Aufenthaltserlaubnis ist etwa möglich für medizinische Behandlungen, für Opfer von Gewalt, bei außergewöhnlichen Katastrophen im Herkunftsland sowie bei Fällen des Nonrefoulement. Es kommt zwar zu keiner Aberkennung bestehender humanitärer Titel, diese werden allerdings nicht mehr erneuert oder verlängert. Sie können aber bei rechtzeitiger Antragstellung und Erfüllung der Voraussetzungen in einen anderen Titel umgewandelt werden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Italien, Stand: 26.2.2019, S. 5 f.). Jedoch liegt die Gewährung eines humanitären Aufenthaltsrechts nach unanfechtbarem negativem Abschluss des Asylverfahrens gemäß Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger vom 16. Dezember 2008 (ABl. L 348/98, sog. Rückführungsrichtlinie) im Ermessen der Mitgliedstaaten. Demgegenüber regelt Art. 9 der Rückführungsrichtlinie die Fälle, in denen kraft Unionsrechtes die Rückführung in das Herkunftsland trotz unanfechtbarer Ablehnung des Asylantrags nicht zulässig ist. Im Übrigen ist der jeweilige Mitgliedstaat somit kraft seiner Gebietshoheit befugt, den Aufenthalt von unanfechtbar abgelehnten Asylbewerbern in seinem Hoheitsgebiet zu beenden, zu dulden oder durch Gewährung eines zumindest befristeten Aufenthaltsrechts (vorübergehend) zu legalisieren. Belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die genannten Vorschriften der Rückführungsrichtlinie gegen primäres Unionsrecht, insbesondere Grundrechte der betroffenen Asylbewerber verstoßen würden, oder dass in der italienischen behördlichen Praxis rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber unter Verstoß gegen diese Vorschriften in ihr Herkunftsland zurückgeführt würden, liegen nicht vor.
Während des Asylverfahrens haben Asylbewerber einen Anspruch auf Unterbringung. Grundsätzlich werden zahlreiche Plätze für Asylsuchende und Dublin-Rückkehrer in verschiedenen staatlichen Unterkünften zur Verfügung gestellt, die über ganz Italien verteilt sind. Sowohl das Bundesamt als auch Asylum Information Database (im Folgenden: AIDA) gehen von einer Gesamtkapazität von über 175.000 Plätzen aus (vgl. BAMF, Länderinformation: Italien, Stand: Mai 2017, S. 2; AIDA, Country Report: Italy, Stand: März 2018, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_ 2017 update.pdf, S. 80 ff.), so dass angesichts der hohen Zahl von Asylbewerbern nach wie vor eine Überbelegung anzunehmen ist.
Durch das Salvini-Dekret soll die bisherige Unterbringung völlig neu organisiert und ein differenziertes Aufnahmesystem geschaffen werden. Künftig wird zwischen einer Erstaufnahme und einer sekundären Versorgungsschiene, dem sog. SIPROIMI (“Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati”) unterschieden. Während die Erstaufnahmeeinrichtungen die bisherigen CAS- und CARA-Unterkünfte ersetzen, treten die SIPROIMI an die Stelle der früheren SPRAR-Unterkünfte (“Sistema di protezione per richiedenti asilo e refugiati”), wobei letztere bisher vor allem für vulnerable Personen unabhängig von ihrem Schutzstatus vorgesehen waren. Künftig werden Asylbewerber und Dublin-Rückkehrer in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht, während Personen mit Schutzstatus bzw. einer der neuen Formen des humanitären Schutzes sowie allein reisende Minderjährige Zugang zu den sekundären Aufnahmeeinrichtungen erhalten, in denen zusätzlich integrative Leistungen angeboten werden. Durch die neuen Ausschreibungsspezifikationen für die Unterkünfte wurde auf den Vorwurf reagiert, die Aufnahmeeinrichtungen außerhalb des SPRAR seien inhomogen und würden keine einheitlichen Standards sicherstellen. Zudem kann durch die nunmehrige Staffelung der Strukturen nach Unterbringungsplätzen mit entsprechend angepasstem Personalstand und Serviceleistungen auf den Bedarf und die Gegebenheiten vor Ort im jeweiligen Fall eingegangen werden. Die Bedürfnisse von Familien sowie vulnerablen Personen sollen auch künftig Berücksichtigung finden. So sind etwa Plätze für Familien sowie allein reisende Frauen (mit Kindern) vorgesehen, für die es spezielle Ausschreibungsspezifikationen gibt (z.B. bzgl. Personalschlüssel, Reinigungsintervallen oder Melde- und Aufzeichnungsverpflichtungen des Betreibers in Bezug auf Leistungen an die Bewohner). Personen mit humanitärem Schutz nach alter Rechtslage, die sich im Stichtag 5. Oktober 2018 noch in einem SPRAR/SIPROIMI befanden, können dort für den vorgesehenen Zeitraum bzw. bis zum Ende des Projektzeitraums weiterhin bleiben. Sofern sie sich dagegen noch in einer Erstaufnahmeeinrichtung befinden, verbleiben sie dort so lange, bis ihnen von der Questura der Aufenthaltstitel übergeben wurde. Danach werden sie aus dem Aufnahmesystem entlassen (vgl. zum Ganzen BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien v. 26.2.2019, S. 5 ff.).
Neben den staatlichen Einrichtungen existieren zudem verschiedene karitative und kommunale Einrichtungen, die zusätzliche Unterkunftsmöglichkeiten bieten, um Asylbewerber vor Obdachlosigkeit zu schützen. In Einzelfällen ist es jedenfalls bislang gleichwohl möglich, dass Dublin-Rückkehrer keine Unterbringung erhalten und vorübergehend obdachlos sind. Insbesondere kann es zu Problemen kommen, wenn Dublin-Rückkehrer in Italien bereits offiziell untergebracht waren, da der Anspruch auf Unterbringung in staatlichen Einrichtungen untergeht, wenn der Ausländer seine Unterkunft ohne vorherige Bewilligung verlässt oder eine ihm zugewiesene Unterkunft gar nicht erst in Anspruch genommen hat (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien v. 26.2.2019, S. 22). Der Anspruch kann zwar wieder aufleben. Insoweit ist allerdings ein vorheriger Antrag bei der Questura erforderlich, die ursprünglich für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig war. Eine Unterbringung in einer staatlichen Einrichtung kann erst dann wieder erfolgen, wenn die Wiederaufnahme genehmigt wurde (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, S. 28). In dieser Übergangsphase sind Dublin-Rückkehrer auf die Hilfe von Freunden oder karitativen Einrichtungen, über deren Aufnahmekapazität es keine gesicherten und aussagekräftigen Unterlagen gibt, angewiesen, um der Obdachlosigkeit entgehen zu können. Im Ergebnis ist die Unterkunftssituation in ihrer Gesamtschau zum aktuellen Stand weiterhin problematisch.
Gleichwohl sind diese defizitären Umstände noch nicht als generelle systemische Mängel in Italien zu qualifizieren, zumal die Annahme von Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO entsprechend den oben genannten Maßgaben an hohe Anforderungen geknüpft ist. Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der italienische Staat mit Unterstützung von European Asylum Support Office der Europäischen Union (EASO) geeignete Maßnahmen ergriffen hat, um die Aufnahmekapazitäten stetig zu erhöhen und aktiv darum bemüht ist, diese auch weiterhin zu verbessern (vgl. EASO Special Support Plan to Italy, 11.3.2015). Dies gilt umso mehr als die Anzahl der in Italien ankommenden Asylbewerber seit Beginn des Jahres 2018 stark rückläufig ist sowie im Hinblick auf die Neustrukturierung der Unterbringung durch das Salvini-Dekret.
Zudem soll es durch das Salvini-Dekret zu keiner Kürzung oder Streichung der Leistungen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen, insbesondere Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Kleidung kommen (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien v. 26.2.2019, S. 7). Auch wenn Italien diesbezüglich möglicherweise hinter den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland zurückbleibt und insbesondere kein umfassendes Sozialsystem bereitstellt, so begründet dies entsprechend den obigen Ausführungen keine generellen systemischen Mängel.
Nicht anders stellt sich die Lage im Hinblick auf die medizinische Versorgung in Italien dar. Italien verfügt auch über ein umfassendes Gesundheitssystem, das medizinische Behandlungsmöglichkeiten auf hohem Niveau bereitstellt. Asylbewerber haben in gleicher Weise wie italienische Bürger einen Anspruch auf medizinische Versorgung, der mit der Registrierung eines Asylantrags entsteht. Bis zum Zeitpunkt der Registrierung werden gleichwohl medizinische Basisleistungen, wie beispielsweise kostenfreie Notfallversorgung, gewährleistet (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien v. 26.2.2019, S. 23 f.). Auch diesbezüglich kommt es durch das Salvini-Dekret zu keinen Abstrichen. Insbesondere ist nach wie vor die Einschreibung beim Nationalen Gesundheitsdienst garantiert, welcher üblicherweise im Aufnahmezentrum liegt. Zusätzlich sind in den Erstaufnahmeeinrichtungen Ärzte beschäftigt, die medizinische Erstuntersuchungen und Notfallmaßnahmen vornehmen und die nationalen Gesundheitsdienste entlasten sollen. Der Zugang zu medizinischer Notversorgung in öffentlichen Spitälern bleibt weiterhin bestehen, auch für illegale Migranten (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien v. 26.2.2019, S. 8 f.).
Auch für die Fallgruppe anerkannter Flüchtlinge stellen sich die Lebensverhältnisse in Italien nicht allgemein als unmenschlich oder erniedrigend dar. Vielmehr ist davon auszugehen, dass anerkannte Flüchtlinge in Italien grundsätzlich italienischen Staatsbürgern gleichgestellt sind und erforderlichenfalls staatliche Hilfe in Anspruch nehmen können, um jedenfalls ihre Grundbedürfnisse zu decken. Gelingt dies nicht sogleich bzw. vollständig, können sie – wie auch Italiener, die arbeitslos sind – die Hilfe caritativer Organisationen erhalten (vgl. dazu ausführlich NdsOVG, U.v. 6.4.2018 – 10 LB 109/18 – juris; B.v. 21.12.2018 – 10 LB 201/18 – juris; OVG NRW U.v. 24.8.2016 – 13 A 63/16.A – NVwZ-RR 2017, 115, VG München, U.v. 13.2.2017 – M 21 S 16.33951 – juris). Denn nach den vorstehend skizzierten Erkenntnissen zu Italien werden nicht besonders schutzbedürftige Asylantragsteller, auch nachdem ihnen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, nicht ausschließlich sich selbst überlassen und geraten beachtlich wahrscheinlich auch nicht in eine existentielle Notlage. Vielmehr können sie in Italien trotz bestehender Schwierigkeiten auf staatliche Unterstützung zurückgreifen. Das italienische System geht für anerkannte internationale Schutzberechtigte davon aus, dass man ab Gewährung des Schutzstatus arbeiten und für sich selbst sorgen kann. Für eine Übergangszeit können Schutzberechtigte auf staatliche Leistungen zurückgreifen. Sie haben Zugang zum Arbeitsmarkt. Weiter besteht die Möglichkeit von Integrationsprojekten und Sprachkursen. Anerkannte Schutzberechtigte können weiter auf Hilfsorganisationen zurückgreifen und können sich im Übrigen in Eigenverantwortung um Wohnung und Arbeit kümmern (vgl. auch BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien v. 26.2.2019, S. 25 f.). Insbesondere steht so für anerkannte internationale Schutzberechtigte Zugang, nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich, für eine Übergangszeit ein Zugang zu Einrichtungen des SIPROIMI offen, die in einer Übergangszeit Versorgungs-, Unterstützungs- und Integrationsleistungen gewähren. Auch über die Verfahren des Unterbringungssystems SIPROIMI hinaus reagieren die staatlichen Stellen auf Probleme, um auftretende Obdachlosigkeit anerkannter internationaler Schutzberechtigter zu verhindern. Insgesamt reagiert der italienische Staat darauf, dass anerkannte Schutzberechtigte in dieser Übergangszeit nicht in eine existentielle Notsituation geraten und sorgen so auch dafür, dass sie nach einer Übergangszeit sich selbst aus eigener Kraft eine Existenzgrundlage aufbauen können (VG Magdeburg, B.v. 14.11.2019 – 8 B 398/19 – juris; VG Würzburg, U.v. 4.2.2019 – W 8 K 18.32181 – juris; jeweils m.w.N.).
Eine Überstellung des jungen, gesunden und arbeitsfähigen Antragstellers nach Italien ist demnach rechtlich nicht unmöglich. Dem Antragsteller ist es zuzumuten, sich den Anforderungen des italienischen Asyl- und Aufnahmeverfahrens zu unterwerfen und die ihm dort gebotenen Möglichkeiten, gegebenenfalls auch Rechtsschutzmöglichkeiten, zu ergreifen und so durch eigenes Zutun und eigene Mitwirkung einer eventuellen drohenden Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bzw. einer existentiellen Gefahr zu begegnen (so auch VG Aachen, U.v. 17.12.2019 – 9 K 4401/18.A – juris).
Vor diesem Hintergrund verfängt auch der Hinweis des Antragstellers nicht, dass er in Italien – anders als etwa in Deutschland oder in den Niederlanden – niemand kenne und habe, der ihn unterstützen könne, weil nach den vorstehenden Ausführungen davon auszugehen ist, dass, auch wenn er zunächst auf sich alleingestellt ist, konkret also ohne Verwandte oder Freunde in Italien ist, unter Ausschöpfung der Möglichkeiten des italienischen Asylsystems und der dortigen Aufnahmebedingungen sowie gegebenenfalls unter weiterem Rückgriff auf private Hilfsorganisationen oder sonstige angebotene Hilfemöglichkeiten – genauso wie viele andere Asylbewerber in Italien – behelfen kann, ohne dass er in eine existentielle Notsituation kommt.
Auf der Basis der vorstehenden Ausführungen liegen individuelle außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung eines Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-VO notwendig machen, ebenso wenig vor wie inlands- oder zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Nach alledem ist die Abschiebung des Antragstellers nach Italien rechtlich zulässig und möglich.
Das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des Bescheides, so dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abzulehnen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.


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