Europarecht

Recht auf adäquate Unterbringung in Gemeinschaftsunterbringung

Aktenzeichen  W 10 K 20.30535

Datum:
7.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 22517
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 101 Abs. 2
AufnG Art. 5 Abs. 2, Art. 10 Abs. 1
DVAsyl § 7 Abs. 3, § 9 Abs. 1 S. 1 u 2, Abs. 5 Nrn. 1 u 3, § 10 Nr. 1 Buchst. d
SGB IX § 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid der Regierung von Unterfranken vom 11. Mai 2020 (Az.: …*) wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Über die Klage entscheidet das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
Die Klage ist zulässig und begründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 11. Mai 2020 erweist sich als rechtswidrig und verletzt den Kläger deshalb zum maßgeblichen Zeitpunkt in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
1. Die statthafte Anfechtungsklage erweist sich auch im Übrigen als zulässig. Insbesondere wurde die maßgebliche Klagefrist von zwei Wochen nach Zustellung des Bescheids mit Eingang der Klageschrift am 19. Mai 2020 gewahrt, § 74 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
2. Die angefochtene Umzugsaufforderung (Ziffer 1) ist ebenso wie die Einzugsverpflichtung (Ziffern 2, 3) und die Zwangsmittelandrohung (Ziffer 4) rechtswidrig und verletzt den Kläger deshalb in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Die Umzugsaufforderung stützt sich auf Art. 5 Abs. 2 Satz 1 und 2 AufnG i.V.m. § 9 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 5, § 7 Abs. 3 und § 10 DVAsyl. Gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 2 AufnG ist die landesinterne Verteilung und Umverteilung von Ausländern im Sinne des Art. 1 AufnG insbesondere aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zulässig. Näheres bestimmt hierzu die auf der Grundlage des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 AufnG erlassene Rechtsverordnung (DVAsyl). Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 DVAsyl kann aus Gründen des öffentlichen Interesses landesintern eine Umverteilung in einen anderen Landkreis oder eine andere kreisfreie Gemeinde im selben oder in einen anderen Regierungsbezirk erfolgen (landesinterne Umverteilung). Aus den gleichen Gründen kann gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 DVAsyl die Person nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 DVAsyl auch aufgefordert werden, in eine andere Wohnung, eine andere Unterkunft, eine Gemeinschaftsunterkunft oder eine dezentrale Unterkunft im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2 DVAsyl innerhalb des Landkreises oder der kreisfreien Gemeinde umzuziehen (Umzugsaufforderung). Hierfür gilt gemäß § 9 Abs. 4 DVAsyl die Regelung des § 7 Abs. 2 Satz 1 bis 3 und 5 DVAsyl entsprechend. Ein öffentliches Interesse für eine Umzugsaufforderung besteht gemäß § 9 Abs. 5 DVAsyl insbesondere bei Vorliegen der in § 7 Abs. 3 DVAsyl genannten öffentlichen Belange und Gründe (Nr. 1) oder der in § 10 DVAysl genannten Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Nr. 3). Gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 DVAsyl ist bei der Verteilung und der Zuweisung u.a. auch den Belangen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Rechnung zu tragen. Durch die Verteilung und die Zuweisung soll gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 DVAsyl auch die Begehung von Sicherheitsstörungen unterbunden oder verhütet werden. Gemäß § 10 Nr. 1 Buchst. d DVAsyl liegen Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in diesem Sinne insbesondere vor, wenn aufgrund konkreter oder allgemeiner Erkenntnisse zu bestimmten Personen oder Personengruppen zu vermuten ist, dass durch die Belegung die innere Ordnung oder die internen Betriebsabläufe in nicht unerheblichem Maß beeinträchtigt werden.
aa) Diese Voraussetzungen liegen hier vor, da aufgrund der beschriebenen, nach insoweit unwidersprochen gebliebenem Sachvortrag des Beklagten, vom Kläger ausgehenden Störungen der Ruhe und Ordnung in der Unterkunft eine nicht unerhebliche Störung der inneren Ordnung derselben besteht. Es ist grundsätzlich nicht hinzunehmen, dass ein Bewohner einer Gemeinschaftsunterkunft andere Bewohner nicht nur durch nächtliche Besuche, Feiern und aggressives Verhalten stört, sondern – neben der eigenen Gesundheit – gerade auch die Gesundheit der anderen Bewohner durch Verstöße gegen die infolge der Corona-Pandemie bestehenden Einschränkungen von Besuchen und sozialen Kontakten zumindest abstrakt, d.h. ohne Nachweis einer eigenen Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus, gefährdet. Die Voraussetzungen für eine Umzugsaufforderung gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 5 Nr. 1 und Nr. 3 DVAsyl i.V.m. § 7 Abs. 3 Satz 2 und § 10 Nr. 1 Buchst. d. DVAsyl lagen somit vor, da mit dem Umzug des Klägers eine bereits bestehende Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Gestalt der inneren Ordnung der Unterkunft unterbunden werden soll.
bb) Ob als Rechtsfolge einer solchen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Umzugsaufforderung ergeht, liegt gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 DVAsyl grundsätzlich im Ermessen der zuständigen Behörde, wobei dieses durch die Sollvorschrift gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 DVAsyl eingeschränkt ist. Rechtssystematisch ordnen Sollvorschriften – bei Fehlen von Anhaltspunkten für eine anderweitige Teleologie, also objektive Zielsetzung der Norm – bei Erfüllen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen die vorgeschriebene Rechtsfolge für den Regelfall als gebundene Entscheidung an. Lediglich für Sachverhalte, welche von dem in der gesetzlichen Regelung als typisch in den Blick genommenen Sachverhalt erheblich abweichen, aber dennoch die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen erfüllen, mithin atypisch sind, ist der Verwaltung ein Ermessensspielraum eröffnet. Danach ist dem Beklagten hier ein Ermessensspielraum eröffnet, da aufgrund der beim Kläger vorliegenden, bis dahin nicht erkannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen ein atypischer Sonderfall vorliegt. Aufgrund der durch das Gutachten des Herrn Dr. … vom 30. November 2019 sowie die Atteste der Gemeinschaftspraxis Dr. … … … … … vom 18. Mai 2020 und vom 29. Juni 2020 substantiierten psychiatrischen Störungen und Intelligenzminderung des Klägers wurde für diesen eine Betreuung angeordnet, welche u.a. auch Wohnungsangelegenheiten umfasst. Damit ist davon auszugehen, dass der Kläger nicht eigenverantwortlich und ohne Einschränkungen selbstbestimmt über die seine Wohnung betreffenden Angelegenheiten entscheiden kann. Damit kann von ihm – anders als bei in geistiger und psychischer Hinsicht voll für ihr Verhalten verantwortlichen Personen – auch nicht erwartet werden, dass er eigenverantwortlich, d.h. ohne Beratung und Kontrolle eines Betreuers, uneingeschränkt die geltenden Regelungen in der Gemeinschaftsunterkunft einhält. Dies begründet einen atypischen Sonderfall, welcher von der mit § 7 Abs. 3 Satz 2 DVAsyl intendierten Rechtsfolge einer Umzugsaufforderung im Falle der genannten Störungen abweicht und eine Ermessensentscheidung im Einzelfall eröffnet.
Unter diesen Umständen unterliegen die Ermessensausübung der Regierung von Unterfranken im streitgegenständlichen Bescheid und die in der Antrags- und Klageerwiderung gemäß § 114 Satz 2 VwGO nachgeschobenen Ermessenserwägungen nach § 114 Satz 1 VwGO nur einer eingeschränkten Prüfung. Das Gericht prüft die Entscheidung im Wesentlichen daraufhin, ob überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen wurde, ob in diese alle maßgeblichen und keine unzulässigen Erwägungen Eingang gefunden haben und ob einzelne Belange mit einer Gewichtung entgegen ihrer objektiven Wertigkeit in die Abwägung eingestellt worden sind. Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs erweist sich die in dem Bescheid und später in der Antrags- und Klageerwiderung gemäß § 114 Satz 2 VwGO ergänzte Ermessensentscheidung der Beklagten als rechtswidrig, weil die Aspekte der Betreuung und der gesundheitlichen Einschränkungen für den Kläger nicht mit dem maßgeblichen Gewicht in die Abwägung eingestellt wurden.
cc) Der Beklagte kann sich zwar für seine Umzugsaufforderung auf gewichtige Gründe stützen. Insbesondere muss die Sicherheit der anderen Bewohner der derzeitigen Gemeinschaftsunterkunft sowohl in gesundheitlicher Hinsicht (Infektionsgefahr) als auch im Hinblick auf die Störung der Ordnung in der Unterkunft (Lärmbelästigungen, Verstoß gegen Besuchsverbote, aggressives Verhalten von Besuchern) gewährleistet werden. Nicht dargelegt wurde jedoch, dass ein derartiges Verhalten des Klägers, der der Betreuung bedarf, allein durch das Vorhandensein eines Sicherheitsdienstes in der zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft … … … wirksam unterbunden werden könnte. Vielmehr spricht angesichts der Schilderungen des Verhaltens des Klägers viel dafür, dass derartige Gefahren auch in der zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft auftreten können. Es mag sein, dass in einer Gemeinschaftsunterkunft mit Sicherheitsdienst unerlaubte Besuche wirksamer unterbunden werden können. Am sonstigen ordnungs- bzw. sicherheitsgefährdenden Verhalten des Klägers ändert dies jedoch nichts.
Des Weiteren ist nicht ersichtlich, dass die u.a. für Wohnungsangelegenheiten bestellte Betreuerin bisher in den Prozess der Entscheidungsfindung einbezogen wurde. Dies wäre aber angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls erforderlich gewesen. Auf der Grundlage der Atteste der Gemeinschaftspraxis Dr. … … … … … vom 18. Mai und 29. Juni 2020 liegt nahe, dass dem Kläger der Umzug in die zugewiesene Gemeinschaftsunterkunft … … … in Würzburg nicht zugemutet werden kann, weil im Falle des zwangsweisen Umzugs dorthin eine erhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands wahrscheinlich ist. Das Vorbringen des Beklagten vermag dies nicht zu widerlegen. Dass die gesundheitliche Situation des Klägers bei Bescheidserlass nicht bekannt war, vermag am objektiven Vorliegen von Gründen, welche den Umzug als unzumutbar erscheinen lassen, nichts zu ändern. Der Vortrag, dass die gesundheitlichen Einschränkungen nicht so gravierend seien, dass sie einem Umzug entgegenständen, vermag die fachärztliche Einschätzung nicht zu widerlegen. Die aufgrund dieser psychischen Einschränkungen bestellte Betreuerin des Klägers wurde im bisherigen Verfahren nicht beteiligt. Es ist nicht ersichtlich, dass eine Einbindung der Betreuerin des Klägers durch den Beklagten in Unterkunftsangelegenheiten als milderes Mittel nicht zu einer Verbesserung der Situation in der derzeitigen Unterkunft führen würde, oder dass unter der Mitwirkung der Betreuerin keine andere, geeignetere Unterkunft gefunden werden könnte. Dass der Umzug in die jetzige Gemeinschaftsunterkunft auch auf Betreiben des Klägers stattfand, ändert an diesem Ergebnis nichts, weil der Kläger zum damaligen Zeitpunkt noch nicht unter Betreuung stand.
Darüber hinaus wurden die Auswirkungen einer zwangsweisen Zuweisung auf die Gesundheit des Klägers nicht mit dem erforderlichen Gewicht in die Abwägung eingestellt (vgl. § 9 Abs. 6 DVAsyl). Zwar ist dem Beklagten insoweit zuzustimmen, dass das Vorliegen gesundheitlicher Probleme keinen Anspruch auf Unterbringung in einer kleineren Unterkunft oder gar in einem Einzelzimmer begründet. Dies ist jedoch der falsche Ansatzpunkt. Es geht nicht darum, ob der Kläger einen Anspruch auf eine derartige Behandlung hat. Vielmehr ist dessen Interesse, in der bisherigen Einrichtung bleiben zu dürfen, im Rahmen einer Abwägung dem öffentlichen Interesse und den Interessen der anderen Bewohner an einem Auszug gegenüberzustellen. Dabei wurden die Auswirkungen eines Umzugs auf die Gesundheit des Klägers nicht ausreichend beachtet. Ausweislich des Attests der Gemeinschaftspraxis Dr. … … … … … vom 18. Mai 2020 wäre durch einen Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft eine deutliche Exazerbation der bezeichneten Symptomatik und damit eine Verschlechterung des Gesundheitszustands zu erwarten. Entscheidend ist also nicht, ob ein Anspruch auf Unterbringung in einer kleineren Einrichtung besteht, sondern gerade ob der beabsichtigte Auszug stattfinden kann. Von dem Beklagten wurde auch nur geltend gemacht, dass in der Einrichtung viele vulnerable Personen lebten. Hinsichtlich deren konkreten Schutzbedürfnisses hat der Beklagte jedoch keine Tatsachen substantiiert vorgetragen, die die schutzwürdigen Belange des Klägers überwiegen könnten.
b) Da die Zuweisungsentscheidung des Beklagten bereits rechtswidrig ist, bestand für den Kläger auch keine darauf beruhende Pflicht, bis spätestens 20. Mai 2020 in diese Unterkunft einzuziehen. Infolge der Aufhebung des Bescheids hinsichtlich der Zuweisungsentscheidung und der damit verbundenen Einzugspflicht fehlt es an einem vollstreckbaren Grundverwaltungsakt gemäß Art. 18, 19 Abs. 1 des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes (VwZVG) als Grundlage der Androhung der Vollstreckung durch unmittelbaren Zwang nach Art. 29, 34, 36 VwZVG.
3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.


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