Familienrecht

Eilrechtsschutz – Obdachlosenfürsorge

Aktenzeichen  4 CE 16.2460

Datum:
30.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 146 Abs. 4, § 166

 

Leitsatz

1 Der Gesetzgeber hat weder für das erstinstanzliche Eilverfahren eine Verpflichtung zum umfassenden und abschließenden Sachvortrag noch für das Beschwerdeverfahren eine (formelle) Präklusion angeordnet. Daher ist ein Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren nicht gehindert, neue Gründe vorzutragen und neue Beweismittel vorzulegen, selbst wenn ihm diese bereits früher bekannt waren bzw. zur Verfügung standen oder sogar von ihm erst nachträglich geschaffen wurden. (redaktioneller Leitsatz)
2 Für die Sicherheitsbehörde besteht grundsätzlich keine Verpflichtung, einer (nicht unter Art. 6 Abs. 1 GG fallenden) nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder einem sonstigen persönlichen Näheverhältnis bei der Wohnungszuweisung Obdachloser Rechnung zu tragen, sodass es einem Obdachlosen im Hinblick auf den im Obdachlosenrecht geltenden Vorrang der Selbsthilfe grundsätzlich zugemutet werden kann, das Unterbringungsangebot naher Angehöriger zunächst in Anspruch zu nehmen. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 7 E 16.1669 2016-12-01 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 1. Dezember 2016 wird abgeändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin im Rahmen der Obdachlosenfürsorge vorläufig unterzubringen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Eilverfahrens in beiden Instanzen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

1. Die nach § 146 Abs. 1 VwGO statthafte Beschwerde der Antragstellerin gegen die Ablehnung ihres Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (Nr. 2 des Beschlusses vom 1.12.2016) hat Erfolg, so dass die erstinstanzliche Entscheidung insoweit keinen Bestand haben kann.
a) Die von dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin (§ 67 Abs. 2 VwGO) innerhalb der gesetzlichen Fristen (§ 147 Abs. 1, § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) eingelegte und begründete Beschwerde ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht deshalb unzulässig, weil die in § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genannten formellen Anforderungen nicht eingehalten wären.
Zwar verlangt das Gesetz einen „bestimmten Antrag“, der aus dem Antrag auf Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses und dem Sachantrag bestehen muss. Ein Beschwerdeantrag kann sich aber nach allgemeinem Verständnis auch sinngemäß aus den Beschwerdegründen ergeben. Es genügt, wenn sich aus dem innerhalb der Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO Vorgetragenen mit hinreichender Bestimmtheit ermitteln lässt, in welchem Umfang und mit welchem Ziel die Entscheidung des Verwaltungsgerichts angefochten werden soll (vgl. BayVGH, B.v. 1.8.2016 – 15 CS 16.1106 – juris Rn. 13; Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 146 Rn. 21). Dies ist hier der Fall, da die Antragstellerin mit der ausdrücklich erhobenen „Beschwerde gegen den Beschluss des VG Augsburg vom 1.12.16“ und dem erneut gestellten Antrag auf Verpflichtung des Antragsgegners, sie im Rahmen der Obdachlosenfürsorge vorläufig unterzubringen, den Inhalt ihres Eilrechtsschutzbegehrens unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat.
Die Beschwerde ist auch nicht deshalb unzulässig, weil die Antragstellerin entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO keine Beschwerdegründe dargelegt und sich mit der angegriffenen Entscheidung nicht inhaltlich auseinandergesetzt hätte. Sie hat vielmehr unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen sowie eines aktuellen ärztlichen Attests konkret dargelegt, warum sie derzeit nicht bei ihren Eltern und Großeltern untergebracht werden kann und dass ihre Bemühungen um Anmietung einer eigenen Wohnung in jüngster Zeit erfolglos geblieben sind. Sie ist damit den aus Sicht des Verwaltungsgerichts maßgebenden Erwägungen entgegengetreten und hat sich insoweit mit dem Inhalt des angegriffenen Beschlusses auseinandergesetzt.
b) Die Beschwerde ist auch begründet. Die Antragstellerin hat – nach gegenwärtigem Stand – hinsichtlich der begehrten vorläufigen Obdachlosenunterbringung sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, so dass die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegen.
Das Vorbringen der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren muss entgegen der Rechtsauffassung des Antragsgegners nicht etwa deshalb unberücksichtigt bleiben, weil die betreffenden Aussagen und Beweismittel dem Verwaltungsgericht im erstinstanzlichen Verfahren bewusst vorenthalten worden wären. Der vom Bevollmächtigten des Antragsgegners zitierten Rechtsprechung einiger Oberverwaltungsgerichte, wonach es dem (Beschleunigungs-)Zweck des § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO zuwiderlaufe, wenn das Beschwerdegericht die für das Beschwerdeverfahren „aufgesparten“ Gründe erstmals prüfe (so VGH BW, B.v. 8.11.2004 – 9 S 1536/04 – NVwZ-RR 2006, 74; NdsOVG, B.v. 20.7.2012 – 12 ME 75/12 – juris Rn. 9; offen OVG LSA, B.v. 18.9.2008 – 3 M 511/08 – juris Rn. 4), kann nicht gefolgt werden. Der Gesetzgeber hat weder für das erstinstanzliche Eilverfahren eine Verpflichtung zum umfassenden und abschließenden Sachvortrag noch für das Beschwerdeverfahren eine (formelle) Präklusion angeordnet. Daher ist der Beschwerdeführer nicht gehindert, neue Gründe vorzutragen und neue Beweismittel vorzulegen, selbst wenn ihm diese bereits früher bekannt waren bzw. zur Verfügung standen oder sogar von ihm erst nachträglich geschaffen wurden (vgl. OVG NRW, B.v. 26.3.2004 – 21 B 2399/03 – juris Rn. 23; Jeromin in Gärditz, VwGO, 2013, § 146 Rn. 34; Happ in Eyermann, VwGO, § 146 Rn. 29; Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 146 Rn. 42; Meyer-Ladewig/Rudisile in Schoch u.a., VwGO, § 146 Fn. 138; Guckelberger in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 146 Rn. 83; Käß, BayVBl 2009, 677/680 f.).
Im vorliegenden Fall führt das den bisherigen Sachvortrag ergänzende Beschwerdevorbringen zu einer von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts abweichenden rechtlichen Beurteilung. Nach dem vorgelegten ärztlichen Attest vom 5. Dezember 2016 ist eine weitere Verschlechterung des psychopathologischen Krankheitsbilds zu befürchten, wenn sich an der aktuellen Wohnsituation mit Obdachlosigkeit nichts ändern sollte. Bereits daraus ergibt sich die besondere Eilbedürftigkeit eines Eingreifens des Antragsgegners als örtliche Sicherheitsbehörde.
Dem kann auch nicht (mehr) der Einwand entgegengehalten werden, der Antragstellerin stehe – zumindest als Einzelperson – eine Wohnmöglichkeit bei ihren Großeltern oder bei ihrem Vater zur Verfügung. Nach den von ihr und ihrem Bevollmächtigten unterzeichneten und mit der Beschwerdebegründung vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen über diverse am 2. Dezember 2016 geführte Telefonate sind die genannten Angehörigen ebenso wie die Großeltern der Lebensgefährtin der Antragstellerin nicht zu deren Aufnahme bereit. Die auf früheren Aussagen und fernmündlichen Erkundigungen des Antragsgegners beruhende gegenteilige Annahme des Verwaltungsgerichts und der daraus gezogene Schluss, die Antragstellerin habe sich freiwillig in die Obdachlosigkeit begeben, ist daher gegenwärtig nicht mehr gerechtfertigt. Die mit den eidesstattlichen Versicherungen verbundene prinzipielle Richtigkeitsvermutung ließe sich wohl nur durch eine schriftliche Erklärung der Angehörigen bezüglich ihrer (fort-)bestehenden Aufnahmebereitschaft entkräften.
Da die Antragstellerin weder ausdrücklich noch der Sache nach eine gemeinsame obdachlosenrechtliche Unterbringung zusammen mit ihrer Lebensgefährtin begehrt, kann ihrem Eilrechtsschutzbegehren nicht der Einwand entgegengehalten werden, dass die Sicherheitsbehörde grundsätzlich nicht verpflichtet ist, einem solchen (nicht unter Art. 6 Abs. 1 GG fallenden) persönlichen Näheverhältnis bei der Wohnungszuweisung Rechnung zu tragen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin sich aus ihrer Notlage ohne weiteres aus eigener Kraft befreien könnte, so dass sie auf den Vorrang der Selbsthilfe verwiesen werden könnte (dazu allgemein Ruder, VBlBW 2017, 1/6 f.). Der Umstand, dass sie im Rahmen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts Grundmiete und Nebenkosten nach § 22 Abs. 1 SGB II beanspruchen kann und daher finanziell in der Lage sein müsste, sich selbst angemessenen Wohnraum zu verschaffen, schließt ihren Anspruch auf vorläufige obdachlosenrechtliche Unterbringung unter den gegebenen Umständen nicht aus. Mit den im Beschwerdeverfahren geschilderten Bemühungen um Anmietung einer kleinen Wohnung im näheren Umkreis ihres bisherigen Wohnorts hat die Antragstellerin hinreichend glaubhaft gemacht, dass sie ihrer gegenwärtigen Lage nicht tatenlos gegenübersteht und nur unfreiwillig obdachlos ist. Der Antragsgegner ist daher verpflichtet, ihr in seinem Gemeindegebiet vorläufig eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, die den Mindestanforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung genügt.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zum Streitwert im Beschwerdeverfahren aus § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
3. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren (§ 166 VwGO i. V. m. §§ 114 f. ZPO) war ungeachtet der nach dem Vorstehenden anzunehmenden Erfolgsaussichten abzulehnen, da die Antragstellerin in ihrer nach § 117 Abs. 2 ZPO abzugebenden Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse keine Angaben zum aktuellen Kontostand ihres Girokontos gemacht hat, auf das die Sozialleistungen laut Bescheid des Jobcenters regelmäßig überwiesen werden.
Dr. Zöllner Dr. Peitek Dr. Schübel-Pfister


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