Familienrecht

Rechtsschutzbedürfnis für eine einstweilige Anordnung

Aktenzeichen  L 15 VK 15/15 B ER

Datum:
13.1.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 66438
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG SGG § 86b Abs. 2, § 123, § 138, § 140, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 2, § 172 Abs. 3 Nr. 1
BVG § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Maßstab der Auslegung von Prozesserklärungen und Anträgen bei Gericht ist der Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten, wobei der Grundsatz einer rechtsschutzgewährenden Auslegung zu berücksichtigen ist. (amtlicher Leitsatz)
2. Das versehentliche Übergehen eines Begehrens im gerichtlichen Verfahren, das über eine (Urteils oder Beschluss )Ergänzung nach § 140 SGG korrigiert werden kann, ist dadurch gekennzeichnet, dass das Gericht den Streitgegenstand zwar korrekt bestimmt, bei der abschließenden Entscheidung aber irrtümlich einen aus der Sicht des Gerichts entscheidungsbedürftigen Punkt aus den Augen verloren, also schlicht übergangen hat. (amtlicher Leitsatz)
3. Von einem Fall des versehentlichen Übergehens ist der Fall zu unterscheiden, dass ein Gericht bewusst über das Begehren nicht entschieden und auf diese Weise gegen das in § 123 SGG enthaltene Gebot einer umfassenden Entscheidung über die von einem Antragsteller erhobenen Ansprüche verstoßen hat. Als eine solche bewusste Nichtentscheidung ist auch der Fall zu betrachten, dass das Gericht aus welchen Gründen auch immer, sei es in bewusster Verkennung der rechtlichen Vorgaben, sei es rechtsirrig meint, darüber nicht entscheiden zu müssen oder zu dürfen. Ein Rechtsfehler eines Gerichts impliziert immer eine bewusste richterliche Entscheidung für das rechtsfehlerhafte Ergebnis. (amtlicher Leitsatz)
4. Ein Rechtsirrtum des Gerichts, der auf der unzutreffenden Auslegung eines Begehrens basiert, stellt keinen Fall für eine Urteilsergänzung dar. (amtlicher Leitsatz)
5. Die Wirkung des Heraufholens von Prozessresten bzw. eines Streitstoffs ist unabhängig davon, ob das heraufholende Rechtsmittel zulässig oder unzulässig ist. Denn ansonsten wäre im letzteren Fall der Betroffene rechtsschutzlos gestellt, weil einerseits eine (Urteils oder Beschluss )Ergänzung gemäß § 140 SGG nicht möglich wäre und andererseits dem Rechtsmittelgericht eine Prüfung wegen der Unzulässigkeit des heraufholenden Rechtsmittels verwehrt wäre. (amtlicher Leitsatz)
6. Ein Rechtsschutzbedürfnis für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes besteht grundsätzlich nur dann, wenn sich der Antragsteller zuvor an die zuständige Behörde gewandt hat und dieser die Möglichkeit offen gestanden ist, sich als Leistungsträger mit dem Begehren des Antragstellers zu befassen. (amtlicher Leitsatz)

Verfahrensgang

S 30 VK 6/15 2015-09-24 Bes SGMUENCHEN SG München

Tenor

I.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 24. September 2015 wird als unzulässig verworfen.
II.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Die Beschwerdeführerin verlangt die Aufhebung eines Beschlusses des Sozialgerichts (SG), mit dem der Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abgelehnt worden ist, weil – so ihr Vortrag – sie eine solche Anordnung überhaupt nicht beantragt habe.
Die Beschwerdeführerin begehrt als Ehefrau eines Schwerbeschädigten im Sinn des § 31 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in einem Klageverfahren vor dem SG München (Aktenzeichen: ) im Rahmen des Anspruchs auf Heil- und Krankenbehandlung nach dem BVG eine noch offene Nachzahlung in Höhe von 98,- € für Rehabilitationssport und eine Kostenpauschale in Höhe von 25,- €.
Der Ehemann der Beschwerdeführerin hat mit Schreiben vom 29.08.2015 im Namen der Beschwerdeführerin u. a. „Eilantrag nach § 86 b SGG“ gestellt. Nachdem der Beschwerdeführerin mit gerichtlichem Schreiben vom 08.09.2015 das Schreiben der Beschwerdegegnerin vom 07.09.2015 zugeleitet und angefragt worden war, ob der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz für erledigt erklärt werde, hat, der Ehemann der Beschwerdeführerin in deren Vertretung am 21.09.2015 mit Telefax mitgeteilt, dass „ein Antrag nach § 86 b SGG zum Verfahren S 18 KR 1168/15 ER SGG nicht gestellt wurde.“
Mit Beschluss vom 24.09.2015 hat das SG den Antrag auf Erlass einer Anordnung, mit der der Beschwerdegegner im Vorgriff auf den Abschluss des parallelen Hauptsacheverfahrens zu einer Erstattung von 98,- € zuzüglich Schreib- und Portokosten in Höhe von 25,- € verpflichtet wird, als offenkundig unbegründet abgelehnt, da die Beschwerdeführerin keinerlei Nachteile vorgetragen habe, die ihr drohen könnten, wenn sie die Hauptsacheentscheidung über einen Betrag „von nicht einmal 100,- €“ abwarten müsse. Nach der vom SG beigefügten Rechtsmittelbelehrung ist die Beschwerde zum LSG statthaft.
Dagegen hat die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 25.10.2015 Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) erhoben. Sie beantragt die Aufhebung des Beschluss vom 24.09.2015 und begründet dies damit, dass sie vor dem SG überhaupt keinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG gestellt habe und daher der Beschluss vom 24.09.2015 nicht ergehen hätte dürfen.
Mit Schreiben vom 09.11.2015 hat der Senat die Beschwerdeführerin darauf hingewiesen, dass bei einer Beschwer in Höhe von insgesamt 123,- € eine Beschwerde zum Bayer. LSG nicht statthaft sei, weil in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfe.
Eine Reaktion der Beschwerdeführerin ist seither nicht erfolgt
Beigezogen worden sind die Akten des SG zum Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und der Klage sowie die Akten des Beschwerdegegners.
II.
Die Beschwerde gemäß §§ 172 Abs. 1 SGG ist nicht zulässig. Sie ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG unstatthaft, weil in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte.
Ausgehend vom unstreitigen Begehren der Beschwerdeführerin im Klageverfahren beträgt der Streitwert 123,- € (Nachzahlung in Höhe von 98,- € für Rehabilitationssport, Kostenpauschale von 25,- €). Eine Berufung gegen eine (noch ergehende) Entscheidung im Klageverfahren bedürfte, da die Klage eine Geldleistung und keine wiederkehrenden oder laufenden Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft, gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 SGG der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes keinesfalls mehr als 750,- € betragen kann. In derartigen Fällen ist eine Beschwerde im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG von Gesetzes wegen nicht vorgesehen.
Eine Zulassung der Beschwerde im einstweiligen Rechtsschutz gibt es nicht. Daran ändert auch die vom SG im angefochtenen Beschluss gegebene fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung nichts. Eine Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 145 SGG ist nicht statthaft. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut von § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG: Die Beschwerde ist ausgeschlossen, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. Nur in der Hauptsache (Klageverfahren) kann das SG oder auf Nichtzulassungsbeschwerde das LSG die Berufung zulassen, wenn ein Zulassungsgrund nach § 144 Abs. 2 SGG vorliegt. Dies begründet sich damit, dass das Eilverfahren den Zweck hat, eine Notlage vorläufig zu beheben, nicht aber entsprechend den Zulassungsgründen nach § 144 Abs. 2 SGG grundsätzliche Rechtsfragen zu klären oder für eine einheitliche Rechtsprechung zu sorgen (vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 09.07.2014, Az.: L 7 AS 526/14 B ER).
Die Beschwerde ist damit bereits unstatthaft. Mit der Frage, ob das SG zu Recht von einem Antrag der Beschwerdeführerin gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG ausgegangen ist oder nicht jedenfalls wegen des Schreibens der Beschwerdeführerin vom 16.09.2015 zumindest von einer Rücknahme eines solchen Antrags ausgehen hätte müssen, hat sich der Senat daher nicht zu befassen gehabt. Denn auch wenn bei dem angegriffenen Beschluss vom 24.09.2015 von einem wegen eines nicht gestellten oder zumindest zurückgenommenen Antrags nichtigen Beschluss (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 125, Rdnrn. 5 b und 5 c) auszugehen wäre, würde dies die Beschwerde nicht statthaft machen, da sich die Statthaftigkeit einer Beschwerde gegen einen nichtigen Beschluss nicht anders beurteilt als die einer solchen gegen einen nicht nichtigen Beschluss (vgl. Keller, a. a. O., § 143 Rdnr. 2 a, § 125, Rdnr. 5 c; Kopp, Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 160, Rdnrn. 20, 22 f.).
Gemäß § 124 Abs. 3 SGG bedurfte es keiner mündlichen Verhandlung.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Mit der Frage, ob wegen der Unstatthaftigkeit der Beschwerde die Kostenentscheidung nicht auf § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung gestützt hätte werden können (so die Rspr. des Senats im Bereich des Kostenrechts, z. B. Beschluss vom 26.10.2015, Az.: L 15 SF 10/14 E – m. w. N.; unklar: BSG, das mit Beschluss vom 12.01.2015, Az.: B 10 ÜG 9/14 C, die Gebührenfreiheit einer Anhörungsrüge einerseits auf die entsprechende Anwendung von § 69 a Abs. 6 Gerichtskostengesetz [GKG] gestützt, andererseits die Gebührenfreiheit damit begründet hat, dass § 3 Abs. 2 GKG für Eingaben nach § 69 a GKG keinen Gebührentatbestand vorsehe, was wiederum den Schluss nahelegt, dass das BSG grundsätzlich von einer Gerichtskostenpflichtigkeit ausgegangen ist, da anderenfalls § 3 Abs. 2 GKG überhaupt nicht zur Anwendung kommen würde), hat sich der Senat nicht näher auseinandergesetzt, zumal bei einer Gerichtskostenpflichtigkeit wegen der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung des SG gemäß § 21 Abs. 1 GKG von der Erhebung der Gerichtskosten abzusehen gewesen wäre.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.


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