IT- und Medienrecht

Vertragsärztliches Disziplinarverfahren

Aktenzeichen  S 28 KA 169/18

Datum:
23.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38900
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
NADO-KVB aF § 10 Abs. 1, Abs. 4 S. 2
Ärzte-ZV § 32 Abs. 4

 

Leitsatz

Im vertragsärztlichen Disziplinarverfahren können zur „Lückenschließung“ im Hinblick auf allgemein anerkannte Rechtfertigungsgründe und einen Erlaubnistatbestandsirrtum sowie hinsichtlich der Frage eines Schweigerechts Anleihen im beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren genommen werden. (Rn. 24 und 26)

Tenor

I. Der Bescheid vom 25.06.2018 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Disziplinarbescheid vom 25.6.2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Anfechtungsklage liegen vor. Ein Vorverfahren war nicht durchzuführen (§ 81 Abs. 5 Satz 4 SGB V).
Die Klage ist auch begründet. Der Disziplinarbescheid vom 25.6.2018 ist rechtswidrig. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Aufhebung des Bescheids.
Hinsichtlich des gerichtlichen Prüfmaßstabs gilt folgendes:
„Die gerichtliche Nachprüfung von Disziplinarmaßnahmen erfolgt in zwei Schritten. Das Vorliegen des schuldhaften Pflichtenverstoßes als tatbestandliche Voraussetzung ist uneingeschränkt nachprüfbar. Bei der Auswahl der Maßnahme steht den Disziplinarorganen ein Ermessensspielraum zu. Ergibt sich bei der gerichtlichen Nachprüfung von Pflichtverstößen, dass einige der bei der Verhängung der Maßnahme zugrunde gelegten Vorwürfe entfallen, so ist der Bescheid nicht rechtswidrig, wenn die übrigen Vorwürfe die ausgesprochene Maßnahme nach Art und Höhe und Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rechtfertigen und vom Disziplinarorgan dargelegte Ermessenserwägungen nicht entgegenstehen“ (Steinmann-Munzinger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. (Stand: 15.06.2020), § 81 Rn. 98 m.w.N.).
Nach § 1 Satz 1 Notarztdienstordnung der KVB (NADO-KVB) (i.d.F. v. 19.3.2016; im Folgenden „a.F.“) ist der Notarztdienst gem. § 75 Abs. 1b Satz 1 2. HS SGB V i.V.m. Art. 14 Abs. 1 BayRDG Teil der vertragsärztlichen Versorgung von Notfallpatienten in Bayern, soweit diese nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V Anspruch auf ärztliche Behandlung haben. § 17 Abs. 2 NADO-KVB a.F. verweist hinsichtlich der Verletzung von Pflichten im Rahmen der Tätigkeit als Notarzt auf § 18 der Satzung der Beklagten (Verfahren bei Pflichtverletzungen durch Mitglieder).
In formellrechtlicher Hinsicht ist der Disziplinarbescheid nicht zu beanstanden.
Nach Überzeugung der Kammer liegen jedoch keine schuldhaften Pflichtenverstöße der Klägerin vor.
Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass das Fahrzeug der Klägerin zum Zeitpunkt der Einsatzfahrt am 10.5.2016 mit einer MOVIA-D-Leuchte ausgestattet war. Der Ehemann sowie der Sohn der Klägerin haben glaubwürdig erklärt, dass an dem Fahrzeug der Klägerin immer nur die Standard-Leuchte MOVIA-D eingesetzt worden sei. Dies entspricht auch dem von der Klägerin vorgelegten Fahrzeugschein sowie den Papieren zur Fahrzeugbestellung im Jahr 2012. Zwar hat der schriftlich befragte Zeuge PHM F. ausgesagt, dass auf dem Fahrzeugdach des klägerischen Pkw ein Signalbalken verbaut gewesen sei. Die Kammer geht jedoch davon aus, dass hier ein Irrtum des PHM F. vorliegt; es gibt außer der Aussage des Zeugen F. keine weiteren Anhaltspunkte für die Kammer dafür, dass die Klägerin einen solchen Signalbalken bei der Fahrt am 10.5.2016 verwendet haben könnte.
Es kann somit nicht – anders als im streitgegenständlichen Bescheid – von einem Pflichtverstoß der Klägerin gegen § 10 Abs. 1 NADO-KVB a.F. aufgrund des Fahrens ihres Ehemannes mit einem aufgesetzten Signalbalken ausgegangen werden.
Auch im Übrigen ist aufgrund des Sachverhalts, wie er sich nach der Beweisaufnahme für die Kammer ergibt, kein vorwerfbarer Verstoß der Klägerin gegen § 10 Abs. 1 NADO-KVB a. F. zu erkennen.
Indem der Ehemann der Klägerin bei der Fahrt zum Einsatzort am 10.5.2016 auf der B X das Fahrzeug der Klägerin mit eingeschaltetem Blaulicht gesteuert hat, hat die Klägerin zwar gegen die Auflagen Nr. 5g) und 5l) des Bescheids vom 26.3.2012 und damit grundsätzlich auch gegen ihre Pflicht gemäß § 10 Abs. 1 NADO-KVB a. F. verstoßen, wonach sie als Notärztin verpflichtet ist, ihren Dienst ordnungsgemäß durchzuführen. Nach Einschätzung der Kammer lag hier jedoch ein unvermeidbarer Erlaubnistatbestandsirrtum der Klägerin vor, so dass der Verstoß der Klägerin nicht vorwerfbar ist.
Grundsätzlich gilt, dass Erkenntnisse aus den beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren dazu benutzt werden können, Lücken im vertragsärztlichen Disziplinarverfahren zu schließen (Clemens in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, 4. Auflage 2018, § 24 Rn. 43 m.w.N.). Dies gilt nach Überzeugung des Gerichts sowohl für allgemein anerkannte Rechtfertigungsgründe wie auch für den Irrtum darüber, ob Umstände vorliegen, die einen rechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund erfüllen (Erlaubnistatbestandsirrtum). Rechtfertigungsgründe wie der allgemeine Notstand und auch der Erlaubnistatbestandsirrtum diesbezüglich sind im Disziplinarrecht der Beamten anerkannt (vgl. Gansen in: ders., Disziplinarrecht in Bund und Ländern, Stand November 2020, Nr. 2.9.3 sowie Zängl, Bayerisches Disziplinarrecht, Stand August 2020, MatR/I Rn. 36; zum Erlaubnistatbestandsirrtum vgl. BVerwG, Urteil vom 21.12.2006, Az. 2 WD 19.05, Rn.111).
Nach Überzeugung der Kammer befand sich die Klägerin in einem Erlaubnistatbestandsirrtum, als sie sich am 10.5.2016 nach Erhalt der Einsatzmeldung mit ihrem Ehemann kurz absprach und sie innerhalb von Sekunden gemeinsam entschieden, keinen Fahrerwechsel vorzunehmen und er bis zum Einsatzort weiterfahre. Hierbei irrte sie über das Vorliegen einer – aufgrund der gemeldeten Kopfverletzungen – akuten Lebensgefahr des verunfallten Motorradfahrers. Hätte tatsächlich eine gegenwärtige Gefahr für das Leben des Motorradfahrers bestanden, hätten nach Auffassung der Kammer alle Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands vorgelegen, insbesondere auch eine Interessenkollision, bei der das geschützte Interesse das beeinträchtigte – die Nichteinhaltung der Auflagen Nr. 5g) und 5l) des Bescheids vom 26.3.2012 – wesentlich überwogen hätte.
Aus Sicht der Kammer beruhte der Erlaubnistatbestandsirrtum auch nicht auf sorgfaltswidrigem Handeln der Klägerin und war damit nicht fahrlässig. Die Annahme der Klägerin, dass der am Kopf verletzte verunfallte Motorradfahrer in Lebensgefahr schwebe bzw. schweben könnte, kann aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung nicht als fahrlässig fehlerhaft gewertet werden. Ebenso wenig kann aus Sicht der Kammer aus der Aussage des Zeugen Dr. A., wonach sie einen Fehler gemacht hätten, indem sie meinten, die durch den Fahrerwechsel verursachte Zeitverzögerung nicht in Kauf nehmen zu können und dass sie zu sehr ärztlich gepolt gewesen seien und wegen der Kopfverletzungen möglichst schnell helfen wollten, ein Fahrlässigkeitsvorwurf zu Lasten der Klägerin gefolgert werden. Unter Berücksichtigung aller vorliegenden Umstände, insbesondere der Entfernung zum Einsatzort, die nach Aussage des Zeugen Dr. A. lediglich 800 m betragen haben soll, und der früheren Teilnahme des Ehemannes der Klägerin am vertragsärztlichen Notarztdienst (mit eigenem privaten Kfz als anerkanntes Einsatz- und Kommando-Kraftfahrzeug des Rettungsdienstes), sowie der Hinweise unter Nr. 5j) des Bescheids vom 26.3.2012 erscheint das Unterlassen des Fahrerwechsels jedenfalls noch angemessen.
Auch ein Verstoß der Klägerin gegen ihre Pflicht, ihre jederzeitige Einsatzbereitschaft und Erreichbarkeit als Notärztin sicherzustellen (§ 10 Abs. 4 Satz 2 NADO-KVB a.F.), liegt nicht vor.
Die Beklagte hält der Klägerin vor, dass sie während ihres Notarztdienstes nicht auf dem Beifahrersitz hätte Platz nehmen und sich nicht von ihrem Ehemann hätte fahren lassen dürfen. Nur bei eigener Fahrzeugsteuerung hätte die Klägerin selbst ihre jederzeitige (ordnungsgemäße) Einsatzbereitschaft und Erreichbarkeit sicherstellen können.
Die Kammer verkennt nicht, dass – je nach Standort – auftretende Widrigkeiten und Verzögerungen aufgrund eines notwendigen Fahrerwechsels infolge einer Einsatzmeldung vermieden werden können, wenn der Notarzt während seiner Dienstzeit selbst das (private) Fahrzeug steuert. Auf der anderen Seite gibt die Möglichkeit, auf dem Beifahrersitzplatz zu nehmen, dem diensthabenden Notarzt die wertvolle Gelegenheit, kurzfristig von seinem anspruchsvollen Dienst auszuruhen. Wie die Fachabteilung der Beklagten in ihrer internen Stellungnahme vom 30.4.2018 ausführt, existiert keine in der NADO-KVB normierte Pflicht für den Notarzt, sein Fahrzeug während des Dienstes permanent selbst zu fahren. Eine solche ausdrückliche Pflicht ist auch nicht dem Bescheid der Regierung von Mittelfranken vom 26.3.2012 zu entnehmen. Dieser bestimmt nur, dass die Klägerin, die während des Dienstes ihren Privatwagen nutzt, auch selbst fahren muss, sobald die Sonderwarneinrichtung angebracht ist. Eine Pflicht, das eigene Fahrzeug im Dienst selbst zu steuern, wenn keine Sonderwarneinrichtung angebracht ist, enthält der Bescheid hingegen nicht. Die Annahme einer solchen Pflicht wäre auch fragwürdig im Verhältnis zu denjenigen Notärzten, die (das Notarzteinsatzfahrzeug gem. § 11 Abs. 1 NADO-KVB a.F.) nicht selbst fahren. Nach Einschätzung der Kammer ändert auch der Umstand, dass die Klägerin nach ihrem am Krankenhaus F-Stadt beendeten Einsatz vermutlich wieder den „Status 1“ gedrückt hatte, nichts an dieser Bewertung. Damit hatte sie gegenüber der Rettungsleitstelle/integrierten Leitstelle lediglich ihre erneute grundsätzliche Einsatzbereitschaft aufgrund Beendigung des vorhergehenden Einsatzes bekundet.
Ebenso wenig hat die Klägerin gegen ihre Auskunftspflicht aus § 4 Abs. 5 der Satzung der Beklagten verstoßen.
§ 4 Abs. 5 der Satzung der Beklagten lautet: „Jedes Mitglied ist verpflichtet, der KVB alle Auskünfte zu erteilen und die erforderlichen Unterlagen vorzulegen, die zur Nachprüfung der vertragsärztlichen, psychotherapeutischen oder sonstigen von der KVB sichergestellten und gewährleisteten Tätigkeit der Ärzte und Psychotherapeuten erforderlich sind.“
Die Auskunftspflicht des Vertragsarztes korrespondiert mit dem der Beklagten obliegenden Sicherstellungsauftrag aus § 75 Abs. 1 SGB V und der damit in Zusammenhang stehenden Überwachungspflicht nach § 75 Abs. 2 Satz 2 SGB V. (BayLSG, Urteil vom 22.11.2017, Az. L 12 KA 166/15). Die Auskunftspflicht erfordert es nicht, dass die aus Sicht der Beklagten aufklärungsbedürftigen Sachverhalte im juristischen Sinne „einlassungsfähig“ dargestellt werden. Ausreichend ist eine Benennung derjenigen Umstände, welche die Beklagte einer näheren Überprüfung unterziehen möchte (BayLSG, ebenda).
Aus Sicht der Kammer hätte eine weitere Beantwortung der Schreiben der Beklagten vom 19.7.2016 und 4.8.2016 sowie der E-Mail der Beklagten vom 8.8.2016 zu einer „Einlassung“ der Klägerin geführt, zu der sie aufgrund der Reichweite der Auskunftspflicht nach § 4 Abs. 5 der Satzung der Beklagten wie auch aufgrund ihres Schweigerechts nicht verpflichtet war. Die Beklagte kannte, wie ihrem Schreiben vom 19.7.2016 zu entnehmen ist, bereits die wesentlichen Umstände der Einsatzfahrt vom 10.5.2016, insbesondere dass der Pkw unter Nutzung der Sonderwarneinrichtung vom Ehemann der Klägerin gefahren wurde und eine weitere Person mit im Auto saß. Die Klägerin konnte daneben von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen. Auch hinsichtlich der Frage eines Schweigerechtes des Vertragsarztes sind zur „Lückenschließung“ Anleihen im beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren zu nehmen. Dort ist das Schweigerecht des Beamten anerkannt (vgl. Zängl in: ders. Bayerisches Disziplinarrecht, Stand August 2020, Art. 27 Rn. 24 und MatR/II Rn. 276). Nach der Rechtsprechung des BVerwG dient es „jedenfalls der Wahrung der Einheit der Rechtsordnung, an die Wahrnehmung des Rechts auf Verteidigung auch außerhalb des Strafverfahrens keine staatlichen Sanktionen zu knüpfen“ (BVerwG, Urteil vom 20.11.2012, Az. 2 B 56/12, Rn. 8). Nach Auffassung der Kammer besaß die Klägerin, um sich nicht ggf. selbst zu belasten, vorliegend ein Schweigerecht, von dem sie Gebrauch machen durfte, ohne dafür sanktioniert zu werden. Die Kammer weist vorsorglich darauf hin, dass die Beklagte nicht die Aushändigung des Fahrtenbuches (vgl. Nr. 5i) des Bescheids vom 26.3.2012) verlangt hat; hierauf hätte nach Einschätzung der Kammer ein Anspruch bestanden.
Schließlich hat die Klägerin auch nicht gegen § 32 Abs. 4 Ärzte-ZV verstoßen. Danach hat der Vertragsarzt Vertreter und Assistenten zur Erfüllung der vertragsärztlichen Pflichten anzuhalten. Aus Sicht der Kammer spricht vorliegend mehr dafür, dass der Ehemann der Klägerin am 10.5.2016 privat das Fahrzeug führte und nicht als Sicherstellungsassistent. Aus diesem Grund sieht die Kammer von einer weitergehenden Prüfung des § 32 Abs. 4 Ärzte-ZV ab.
Aus alledem ergibt sich, dass keine disziplinarrechtlich relevanten Verstöße von Seiten der Klägerin vorliegen. Der Disziplinarbescheid vom 25.6.2018 ist deshalb rechtswidrig und war aufzuheben.
Die Kostenentscheidung basiert auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.


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