Medizinrecht

Anspruch auf Auszahlung einer Rentennachzahlung

Aktenzeichen  L 13 R 729/16

Datum:
25.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 22397
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 8, § 40a, § 44a
SGB X § 104, § 107 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Bis zur Klärung der Erwerbsfähigkeit eines Leistungsbeziehers nach dem SGB II war nach der bis 31.07.2008 geltenden Rechtslage dessen Erwerbsfähigkeit auch außerhalb eines Einigungsstellenverfahrens als fingiert anzunehmen. (Rn. 38)
2. Das gilt erst recht, wenn bereits eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers und medinzinische Gutachten vorliegen, aus denen sich das Bestehen einer Erwerbsfähigkeit ergibt. (Rn. 38)
3. Die danach materiell rechtmäßig erbrachte Leistung wird nicht dadurch rückwirkend rechtswidrig, dass nachträglich das Vorliegen einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer festgestellt wird. (Rn. 37)
4. Der Erstattungsanspruch des Jobcenters gegen den Rentenversicherungsträger folgt in diesem Fall aus § 104 SGB X. (Rn. 40)

Verfahrensgang

S 30 R 1184/14 2016-08-11 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 11. August 2016 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 25. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Mai 2018 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 25.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.05.2018 ist gegenüber dem Kläger rechtmäßig ergangen. Dieser hat keinen Anspruch auf Auszahlung der restlichen Rentennachzahlung in Höhe von 3165,31 €. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Unrecht zur Auszahlung des verbleibenden Betrages von 3165,31 € verurteilt.
I.
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig.
1. Die ursprünglich erhobene echte (reine) Leistungsklage ist nicht zulässig. Die Zulässigkeit einer Leistungsklage setzt voraus, dass ein Rechtsanspruch auf eine Leistung geltend gemacht wird und hierüber nicht durch Verwaltungsakt zu entscheiden ist. Deswegen findet in diesem Fall auch kein förmliches Verwaltungs- und Vorverfahren statt. Im Verhältnis Bürger-Staat, das in der Regel von förmlichen Verwaltungsverfahren geprägt ist, findet die echte Leistungsklage nur in seltenen Fällen Anwendung, etwa wenn Ansprüche auf Auskunft oder Beratung geltend gemacht werden oder aus einem bestandskräftigen Verwaltungsakt auf Leistung geklagt wird (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 12. Auflage, § 54, Rn. 41). Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
Eine Entscheidung über die Verwendung und Auszahlung der Rentennachzahlung ist vorliegend erstmals mit der Abrechnungsverfügung vom 25.03.2013 ergangen, nicht aber schon mit dem Rentenbescheid vom 23.10.2012. Diese Verfügung ist gegenüber dem Kläger als Rechtsnachfolger des Versicherten nicht in der Form schlichten Verwaltungshandelns, sondern durch Verwaltungsakt gemäß § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ergangen. Bereits die Entscheidung über die vorläufige Einbehaltung der Nachzahlung im Rentenbescheid vom 23.10.2012 stellte gegenüber dem Kläger eine Regelung dar (BSG, Urteil vom 03. April 2003 – B 13 RJ 39/02 R -, BSGE 91, 68-73, SozR 4-1300 § 31 Nr. 1), die nachfolgend durch die Entscheidung über die Verwendung der Nachzahlung mit der Abrechnungsverfügung vom 25.03.2013 ersetzt worden ist (§ 39 Abs. 2 SGB X).
Ob die Erklärung einer Behörde als Verwaltungsakt zu qualifizieren ist, richtet sich danach, wie der Empfänger diese Erklärung bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalles zu deuten hatte. Maßgeblich ist, ob eine solche verständige Würdigung zu dem Ergebnis führt, dass die Behörde mit der fraglichen Erklärung eine – endgültige – Entscheidung zur Regelung eines Einzelfalls, die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist, treffen wollte (BSG, Urteil vom 30.09.1996 – 10 RKg 20/95 -, juris). Der Qualifizierung der Abrechnungsverfügung als Verwaltungsakt steht nicht entgegen, dass die Beklagte die Verfügung weder als solchen bezeichnet noch mit einer Rechtsbehelfsbelehrung:versehen hat.
Die Beklagte hat mit der Verfügung über die Abrechnung der Rentennachzahlung vom 25.03.2013 auch aus der Sicht eines verständigen Empfängers endgültig über die Verwendung der zunächst „vorläufig“ nicht ausgezahlten Nachzahlung entschieden. Sie hat damit gegenüber dem Kläger unmissverständlich und klar zum Ausdruck gebracht, dass ihm aus ihrer Sicht von der Nachzahlung in Höhe von insgesamt 3.798,47 € nur ein Betrag in Höhe von 633,16 € zuzüglich der darauf entfallenden Zinsen persönlich zustehe (vgl. auch Bayer. LSG, Urteil vom 27.06.2017 – L 13 R 171/15), der zuzüglich der angefallenen Zinsen auf sein Konto überwiesen werde. Gerade die Tatsache, dass die Beklagte neben der Auszahlung der Nachzahlung zugleich auch die Höhe der zustehenden Zinsen festgestellt und geregelt hat (§ 44 SGB I), spricht dafür, diese Verfügung insgesamt als verbindliche Entscheidung anzusehen. Es handelt sich dabei um eine hoheitliche Maßnahme, also eine einseitige behördliche Handlung, die nur dem Sozialleistungsträger, nicht aber ihren Adressaten, dem Sozialleistungsempfänger, in dieser Form ihrer Art nach zusteht (vgl. zu diesen Kriterien: BSG, Beschluss vom 31.08.2011 – GS 2/10 -, BSGE 109, 81). Das BSG misst auch anderen Mitteilungen der Rentenversicherungsträger Verwaltungsaktqualität bei, so etwa der Mitteilung, dass die Rente aus der deutschen Rentenversicherung nicht in der grundsätzlich festgestellten Höhe, sondern nur um eine ausländische Leistung gemindert zu zahlen ist (BSG, Urteil vom 11.05.2011 – B 5 R 8/10 R -, BSGE 108, 152-158, SozR 4-5050 § 31 Nr. 1, SozR 4-6050 Art. 44 Nr. 1), oder Mitteilungen über das Ausmaß einer sog. Abschmelzung eines Auffüllbetrags (BSG, Urteil vom 20.07.2005 – B 13 RJ 17/04 R -, SozR 4-2600 § 315a Nr. 2). Es ist nichts dafür ersichtlich, weshalb die Berechnung der genauen Höhe des dem Versicherten nach Anwendung des § 107 SGB X zustehenden Nachzahlungsbetrags keinen Regelungscharakter haben sollte. Schließlich verlangt auch § 117 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) ausdrücklich eine „Entscheidung“, d.h. eine verbindliche Regelung, über die beantragten Leistungen. Dies bedeutet, dass auch über Auszahlungsansprüche für vergangene Zeiträume in Form eines Verwaltungsakts zu entscheiden ist (vgl. auch BSG, Urteil vom 18.10.2005 – B 4 RA 21/05 R -, juris). Dieser gesetzlichen Verpflichtung entsprechend hat die Beklagte mit der Verwaltungsentscheidung vom 25.03.2013 verbindlich über den Auszahlungsanspruch des Klägers entschieden.
2. Der Übergang von der allgemeinen Leistungsklage zur Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist auch im Berufungsverfahren noch möglich und stellt keine Klageänderung gemäß § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG dar (Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 12. Aufl. 2017, § 99 Rn. 4). Streitgegenstand ist in diesem Fall der Bescheid vom 25.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids von 23.05.2018.
Richtigerweise hat auch die Beklagte über den Widerspruch in der Sache entschieden, weil der Kläger dem Verwaltungsakt vom 25.03.2013 mit Schreiben des Klägers vom 06.12.2013 fristgerecht widersprochen hat (zu der bei unterlassener Rechtsbehelfsbelehrung:geltenden Jahresfrist: § 66 Abs. 2 SGG; zur gebotenen großzügigen Auslegung eines Schriftsatzes als Widerspruch: Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, § 84, Rn. 2). Es wäre widersprüchlich, würde man einerseits der Abrechnungsverfügung vom 25.03.2013 die Qualität eines Verwaltungsaktes geben, obwohl dies von der Beklagten damals selbst nicht so gesehen worden ist, und andererseits dem Kläger, der sich erkennbar gegen diese Verfügung gewandt hat, vorhalten, er habe keinen Widerspruch eingelegt, weil er wie die Beklagte davon ausgegangen ist, dass es sich bei der Abrechnungsverfügung nicht um einen Verwaltungsakt gehandelt habe.
II.
Die Klage ist aber unbegründet, weil der Kläger keinen Anspruch auf Auszahlung der restlichen Nachzahlung in Höhe von 3.165,31 € hat. Diesem Anspruch steht die sog. Erfüllungsfiktion nach § 107 Abs. 1 SGB X entgegen. Danach gilt ein Anspruch des Berechtigten (hier des Klägers als Rechtsnachfolger der Versicherten) gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger (die Beklagte) als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch nach den Regelungen der §§ 102ff SGB X besteht. Vorliegend hat die Beklagte die Nachzahlung in Höhe von 3.165,31 € zu Recht aufgrund eines bestehenden Erstattungsanspruchs an den Beigeladenen ausbezahlt. Der Bescheid vom 23.03.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.05.2018 ist daher im Ergebnis rechtmäßig ergangen.
1. Der Erstattungsanspruch des beigeladenen Jobcenters beruht auf § 104 Abs. 1 SGB X. Danach ist derjenige Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit dieser Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist der Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Der nachrangig Verpflichtete soll im Nachhinein möglichst so gestellt werden, wie er gestanden hätte, wenn der vorrangig Verpflichtete rechtzeitig von Anfang an geleistet hätte. Entsprechend richtet sich der Umfang des Erstattungsanspruchs nach den Vorschriften, die für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger gelten. Dieser soll nicht weitergehend belastet werden, als seine Verpflichtung dem Berechtigten gegenüber bestand. Weiterhin bezweckt § 104 die Vermeidung zweckidentischer zeitgleicher Doppelleistungen und damit die Übersicherung des Leistungsempfängers (Gesetzesbegründung BT-Drs. 9/85 S. 25 zu § 113; vgl. BSG SozR 1300 § 104 Nr. 15; SozR 1300 § 111 Nr. 1). Bei der Regelung des § 104 handelt es sich um die normative Ausprägung des Ausgleichs einer ungerechtfertigten Bereicherung für den sozialrechtlichen Leistungsbereich, die unabhängig von dem Grund des Eintritts der ungerechtfertigten Besserstellung zu erfolgen hat (BSG SozR 1300 § 111 Nr. 1). Weitere Voraussetzungen sind nach der Systematik der §§ 102ff SGB X, dass die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X (Anspruch des Leistungsträgers, dessen Leistungsverpflichtung nachträglich entfallen ist) nicht vorliegen und dass der nachrangig verpflichteten Leistungsträger seine Leistungen nicht auch bei Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers hätte erbringen müssen (§ 104 Abs. 1 Satz 3 SGB X). Schließlich muss der tatsächlich leistende, nachrangig verpflichtete Träger eine rechtmäßige Leistung erbracht haben. Diese Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X sind vorliegend erfüllt.
1.1. Ein Erstattungsanspruch gemäß § 103 SGB X ist vorliegend nicht einschlägig. Diese Norm setzt voraus, dass ein Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und der Anspruch auf diese nachträglich ganz oder teilweise entfallen ist. Dabei entfällt ein Leistungsanspruch i.S. von § 103 Abs. 1 HS 1 SGB X nur dann, wenn dies durch eine Wegfallregelung oder -bestimmung entsprechend angeordnet wird. Eine solche Regelung existiert für Leistungen nach dem SGB II für den Fall, dass eine Rente wegen voller Erwerbsminderung rückwirkend zeitgleich gewährt wird, nicht (anders in § 142 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – SGB III – a.F. oder § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch -SGB V). Sie wäre aber erforderlich, weil der Feststellung der vollen Erwerbsminderung bezogen auf den Rentenanspruch Rückwirkung zukommt.
An der grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 104 SGB X und nicht des § 103 SGB X auf die vorliegende Konstellation, in der nachträglich festgestellt worden ist, dass ein Leistungsbezieher nach dem SGB II tatsächlich auch während des Leistungsbezugs nur unter 3 Stunden leistungsfähig und damit nicht erwerbsfähig gewesen ist, besteht für den Senat kein Zweifel. Auch das BSG hat in seiner Entscheidung vom 31.10.2012 (B 13 R 9/12 R) § 104 SGB X als die grundsätzlich einschlägige Erstattungsnorm angesehen und geprüft, auch wenn es deren Voraussetzungen aus anderen Gründen nicht als gegeben angesehen hat. Im weiteren Urteil vom 31.10.2012 (Az: B 13 R 11/11 R) hat sich das BSG zum Vorliegen eines Erstattungsanspruchs nach § 104 SGB X ausdrücklich nicht geäußert, sondern diesen vielmehr offengelassen. Auch in den weiteren Ausführungen hat das BSG in dieser Entscheidung lediglich klargestellt, dass der Erstattungsanspruch nach § 44a Abs. 2 SGB II iVm § 103 SGB X nicht auf andere Konstellationen übertragen werden kann, in denen ein Einigungsstellenverfahren nicht eingeleitet worden ist, ohne aber zugleich den Anwendungsbereich des § 104 SGB X damit auszuschließen.
1.2. Vorrangig zur Leistung verpflichtet wäre bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 SGB VI ab 01.03.2005 die Beklagte gewesen, der Beigeladene war ab diesem Zeitpunkt nur noch nachrangig verpflichteter Leistungsträger. Der Nachrang der Leistungen des SGB II gegenüber den Rentenleistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung folgt dabei aus § 5 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Das Arbeitslosengeld II ist – als nachrangige Fürsorgeleistung – eine bedarfsorientierte und auch bedürftigkeitsgeprüfte Leistung (BT-Drs. 15/1516, S. 56).
1.3. Der Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X scheitert auch nicht daran, dass die Leistungsgewährung durch den Beigeladenen im streitigen Zeitraum nicht rechtmäßig erfolgt wäre. Denn der Beigeladene hat die Leistungen nach dem SGB II im streitigen Zeitraum ungeachtet der nachträglich festgestellten vollen Erwerbsminderung rechtmäßig und aufgrund eigener Zuständigkeit erbracht. Der Versicherte war, da die Erwerbsminderung zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgestellt war, so zu stellen, als ob er erwerbsfähig gewesen wäre (sog. fingierte Erwerbsfähigkeit). Dieses Ergebnis folgt für den Senat zwingend und schlüssig aus den im Leistungszeitraum geltenden gesetzlichen Regelungen, aus Sinn und Zweck der Leistungen nach dem SGB II im Gefüge der übrigen Sozialleistungen, insbesondere nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) sowie der gesetzlichen Systematik hinsichtlich der Abwicklung von Erstattungsansprüchen. Auch eine Regelungslücke, die dazu führen würde, dass die für diesen Fall grundsätzlich vorgesehene Erstattungsnorm des § 104 SGB X nicht greift, vermag der Senat nicht zu erkennen. Insbesondere ergibt sich eine solche Regelungslücke nicht aus den vom Gesetzgeber nachträglich als erforderlich angesehenen Klarstellungen und Gesetzesänderungen.
1.3.1.
Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung ist erforderlich, weil der Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X nach der Rechtsprechung des BSG voraussetzt, dass der nachrangig verpflichtete Leistungsträger seine Leistung als zuständiger Träger entsprechend des für ihn geltenden Leistungsrechts, also ungeachtet des Nachrangs seiner Leistungsverpflichtung, rechtmäßig erbracht hat (BSGE 58, 119 = SozR 1300 § 104 Nr. 7; SozR 1300 § 104 Nr. 12; SozR 4100 § 105b Nr. 4, 6; BSGE 70, 186 [196] = SozR 3-1200 § 53 Nr. 4; BSGE 74, 36 [42] = SozR 3-1300 § 104 Nr. 8; BVerwGE 99, 114; BSG SozR 4 – 1300 § 104 Nr. 5 Rn. 38 „ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X“). Er muss also entsprechend dem für ihn geltenden Leistungsrecht Leistungen erbracht haben (BSG, Urteil vom 31. Oktober 2012 – B 13 R 11/11 R -, SozR 4-1300 § 106 Nr. 1; Pattar in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 104 SGB X, Rn. 27 mwN). Dabei kommt es auf die im Zeitpunkt der Leistungserbringung maßgebende Sach- und Rechtslage an. Danach muss grundsätzlich gegen beide Leistungsträger ein Anspruch bestanden haben, was vorliegend der Fall ist. Der Kläger bzw. der verstorbene Versicherte war nicht darauf zu verweisen, die Entscheidung der Beklagten bzw. den Abschluss des gerichtlichen Verfahrens abzuwarten, sondern er hatte während dieses Zeitraums bei bestehender Bedürftigkeit Anspruch auf Leistungen zu Sicherung des Lebensunterhalts, die ihm nach damaligem Kenntnisstand vom Beigeladenen zu erbringen waren (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 14.05.1985 – 4a RJ 13/84 -, SozR 1300 § 105 Nr. 1 und KassKomm/Kater, 98. EL März 2018, SGB X § 104 Rn. 19). Würde man insoweit darauf abstellen, dass aufgrund des Nachrangs im Nachhinein nur ein Leistungsträger, nämlich der vorrangig Verpflichtete leistungsverpflichtet gewesen wäre, würde sich der Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X damit von vornherein schon bei Vorliegen eines Nachrangverhältnisses (was Voraussetzung für die Anwendung des § 104 SGB X ist) praktisch selbst ausschließen.
1.3.2.
Die Erbringung der SGB II-Leistungen durch den Beigeladenen ist im streitigen Zeitraum vom 01.03.2005 bis 31.12.2005 rechtmäßig erfolgt.
Zwar wäre rückblickend betrachtet, beim Vorliegen einer vollen Erwerbsminderung mit einem Leistungsvermögen von unter 3 Stunden der Beigeladene nicht leistungsverpflichtet gewesen, weil es an der Leistungsvoraussetzung der Erwerbsfähigkeit entsprechend§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 iVm § 8 Abs. 1 SGB II fehlte. Dabei kann allerdings nicht unberücksichtigt bleiben, dass zur abschließenden Klärung der Erwerbsfähigkeit im Fall des Versicherten ein Zeitraum von 9 Jahren bis weit über seinen Tod hinaus vergangen ist, in dem jedenfalls zu seinen Lebzeiten noch der Lebensunterhalt des mittellosen Versicherten sicher zu stellen war. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 -, juris). Hieraus folgt auch, dass bei der Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums, soweit es um die Beurteilung der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller geht, nur auf die gegenwärtige Lage abgestellt werden darf (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05, Rn. 27). Dabei sind in der Situation, in der der Versicherte sich befunden hat, nach dem Wegfall der Arbeitslosenhilfe zum 31.12.2004 nur Leistungen nach dem zum 01.01.2005 neu geschaffenen SGB II oder Sozialhilfeleistungen nach dem ebenfalls neugefassten SGB XII (früher BSHG) in Betracht gekommen, wobei der Gesetzgeber an mehreren Stellen klargestellt hat, dass zwar die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II nachrangig gegenüber den Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherung, also auch gegenüber denen der gesetzlichen Rentenversicherung sind, dass aber im Verhältnis der Leistungsträger nach dem SGB II und SGB XII ein Nachrang der Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII gegenüber den Leistungen nach dem SGB II besteht (vgl. § 2 SGB XII). Die Regelung in § 2 SGB XII wird ergänzt durch § 21 SGB XII (hier anwendbar idF vom 27.12.2003), wonach Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten. Entsprechend dem im Recht der Grundsicherung geltenden Gegenwärtigkeitsgrundsatz musste also vom angegangenen Leistungsträger zeitnah eine Entscheidung zur Frage der Erwerbsfähigkeit des Versicherten getroffen werden. Diese konnte zum damaligen Zeitpunkt nur anhand der vorliegenden Befunde und Feststellungen getroffen werden. Das waren vorliegend das Gutachten des Arbeitsamtes Berlin-Mitte vom 10.01.2003, der Bescheid der Beklagten vom 16.06.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.10.2003 und das Gutachten Dr. P. vom 13.01.2005. Danach war der Versicherte bezogen auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts noch vollschichtig leistungsfähig. Die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers war im Jahr 2005, anders als nach der ab 01.04.2011 geltenden Rechtslage (vgl. § 44a Abs. 2 SGB II idF vom 13.05.2011) zwar noch nicht bindend für den Beigeladenen. Allerdings lagen auch keine medizinischen Unterlagen vor, die geeignet gewesen wären, diese Entscheidung in Frage zu stellen. Danach war der Versicherte nach allen damals zur Verfügung stehenden Tatsachen als erwerbsfähig einzustufen. Eine Verweisung des Versicherten an den Leistungsträger nach dem SGB XII war aufgrund der Befundlage im Jahr 2005 nicht möglich. Die Entscheidung des Beigeladenen hinsichtlich der Leistungsgewährung ist somit im streitigen Zeitraum rechtmäßig ergangen und auch nicht nachträglich materiell rechtswidrig geworden (vgl. auch Geiger, Rentenzahlungsansprüche für Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II in SGb 2014, 183-186; danach hat der Leistungsträger eine Prognoseentscheidung zu treffen, die nach allgemeinen Grundsätzen nicht nachträglich in Frage gestellt werden kann, wenn nach der im Zeitpunkt der Entscheidung über die Leistungserbringung vorhandenen Tatsachengrundlage die Prognoseentscheidung rechtmäßig getroffen wurde).
Dem steht auch nicht entgegen, dass der Gesetzgeber im streitigen Zeitraum ausdrücklich nur den Fall geregelt hatte, dass hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit und damit der Zuständigkeit zwischen den zuständigen Leistungsträgern unterschiedliche Auffassungen bestehen, wofür zunächst das in § 45 SGB II näher geregelte System der gemeinsamen Einigungsstelle entwickelt wurde. Zwar war die Tatsache, dass diese Einigungsstellen später tatsächlich nur vereinzelt installiert worden sind, nachfolgend Anlass für weitere Regelungen. Weitgehend unverändert geblieben ist allerdings der in § 44a SGB II (hier ebenfalls idF vom 30.07.2004) enthaltene Grundsatz, dass bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende erbringen. Seit 01.04.2011 ist die Entscheidung der Einigungsstelle durch die bindende gutachterliche Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers ersetzt worden. Auch in diesem Fall ist der SGB II-Träger bis zur abschließenden Klärung leistungsverpflichtet. § 44a SGB II enthielt aber bereits in seiner ursprünglichen Fassung eine allgemeine Nahtlosigkeitsregelung, die es dem Jobcenter nicht nur untersagte, im Verhältnis zum Sozialhilfeträger die Erwerbsfähigkeit rückwirkend in Frage zu stellen, sondern die auch eine Rechtsgrundlage im Sinne einer Nahtlosigkeitsregelung bzw. eine Fiktion der Erwerbsfähigkeit iSd § 8 SGB II bis zu deren abschließenden Klärung enthielt. Das dies auch dann gilt, wenn wie vorliegend kein Einigungsstellenverfahren eingeleitet worden ist, hat für die Rechtslage im streitigen Zeitraum das BSG selbst ausdrücklich entschieden (grundlegend BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R) Darin hat es ausgeführt: „Damit der Hilfebedürftige, bildlich gesprochen, nicht „zwischen zwei Stühlen sitzt“, darf die in § 44a SGB II angeordnete Regelung der Zahlung von Alg II durch die Träger des SGB II nicht erst einsetzen, wenn zwischen den Leistungsträgern des SGB II und des SGB XII tatsächlich Streit über das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit besteht. Vielmehr muss § 44a Satz 3 SGB II mit seiner endgültigen Zahlungspflicht der Leistungsträger des SGB XII bis zur Entscheidung der Einigungsstelle auch für den Fall gelten, dass die Leistungsträger des SGB II von einer fehlenden Erwerbsfähigkeit ausgehen, sich aber nicht um eine Klärung der Angelegenheit mit dem zuständigen Leistungsträger des SGB XII bemüht haben. (…) Der Hilfebedürftige ist auf diese Weise nicht nur bei einem schon bestehenden Streit zwischen den Leistungsträgern bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle nach deren Anrufung, sondern bereits im Vorfeld so zu stellen, als wäre er erwerbsfähig.“ An dieser Rechtsfigur der fingierten Erwerbsfähigkeit hat das BSG auch nachfolgend festgehalten (vgl. etwa Urteil vom 25.09.2014 – B 8 SO 6/13 R -, BSGE 117, 47-52). Dies gilt zur Überzeugung des Senats aber erst recht in Fällen, in denen aufgrund der Gutachtenslage und der Entscheidung des Rentenversicherungsträgers zunächst kein Zweifel (und damit zwischen den Leistungsträgern kein Streit) über der Frage der Erwerbsfähigkeit bestand (so im Ergebnis auch Blüggel, Kein Erstattungsanspruch des Jobcenters gegen den Rentenversicherungsträger bei rückwirkend bewilligte Rente wegen voller Erwerbsminder…, SGB 2014, 61-68).
1.4. Dieser Auslegung steht auch die Rechtsauffassung des BSG im Urteil vom 31.10.2012 (Az.: B 13 R 9/12 R) nicht entgegen. Das BSG hat den Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X in diesem Fall ausschließlich daran scheitern lassen, dass die Versicherte, die während des Leistungsbezugs nach dem SGB II in einer Bedarfsgemeinschaft mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen gelebt hatte, auch nach der Zuerkennung der Rente weiterhin (ergänzend) hilfebedürftig und leistungsberechtigt im Sinne eines Sozialgeldanspruchs nach § 28 SGB II a.F. gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 3 SGB X). Vorliegend wäre aber der Versicherte, der Leistungen nach dem SGB II als Alleinstehender erhalten hatte, bei rechtzeitiger Zuerkennung der Rente jedenfalls nicht im Bezug von Leistungen nach dem SGB II geblieben. Ihm wären gegebenenfalls und bei Vorliegen der übrigen Leistungsvoraussetzungen ergänzend Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den Regelungen des SGB XII zu gewähren gewesen.
1.5. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der mit Rückwirkung zum 01.01.2009 eingeführten Regelung in § 40a SGB II, die aufgrund der nach den Entscheidungen des BSG vom 31.10.2012 entstandenen Verunsicherung vom Gesetzgebers als erforderlich angesehen worden ist, wobei es nach Ansicht des Senats nicht entscheidend darauf ankommt, welche der Regelungen nach Auffassung des Gesetzgebers nur zur Klarstellung und welche aufgrund einer vermeintlichen Regelungslücke für erforderlich gehalten worden sind. Im Wesentlichen sollte damit jedenfalls klargestellt werden, dass es weiterhin auch für Erstattungsansprüche der Jobcenter gegen vorrangige Sozialleistungsträger bei der Anwendbarkeit von § 104 SGB X bleibt (Pattar in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 104 SGB X). Zwingende Ausführungen dahingehend, dass ein Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X für den Fall der nachträglichen Zubilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zur Neuregelung nicht möglich gewesen wäre, lassen sich der Gesetzesbegründung nicht entnehmen. Zwar wird zur Begründung des hierzu einschlägigen § 40a Satz 2 Alt. 1 SGB II ausgeführt, für Fälle der Leistungsgewährung an eine alleinstehende leistungsberechtigte Person werde ein Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers neu begründet (BT-Drs. 18/1311, Seite 11). Eine Begründung dafür, warum sich ein solcher Anspruch nicht bereits aus § 104 SGB X ergibt, enthält die Begründung des Gesetzesentwurfs aber nicht. Vielmehr wird für den Fall, dass die leistungsberechtigte Person mit einer erwerbsfähigen Person in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, die Regelung des Satz 2 Alt. 1 als klarstellend bezeichnet, obwohl sich hinsichtlich der Frage der maßgebenden Rechtsgrundlage für einen Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers kein Unterschied zu allein lebenden leistungsberechtigten Personen ergibt und das BSG gerade für diesen „klargestellten“ Fall einen Anspruch aus § 104 SGB X verneint hatte.
1.6. Auch die weiteren Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs waren erfüllt. So muss nach h.M. zwischen den Leistungen, die tatsächlich erbracht worden sind, und den Leistungen, welche der vorrangig verpflichtete Sozialleistungsträger schuldet, eine Gleichartigkeit bestehen, d.h. beide Leistungen müssen zur Vermeidung der Erbringung zweckidentischer Leistungen demselben Zweck dienen, hier der Sicherung des Lebensunterhalts. (Pattar in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 104 SGB X, Rn. 30). Auch ist der Anspruch rechtzeitig geltend gemacht worden (§ 111 SGB X) und es sind nur die im Nachzahlungszeitraum an den Versicherten erbrachten Leistungen abgerechnet worden. Die Beklagte hatte die Nachzahlung auch noch nicht an den Versicherten bzw. dessen Rechtsnachfolger ausbezahlt. Unerheblich ist auch, dass der Beigeladene den Erstattungsanspruch entsprechend der damaligen Rechtsauffassung mit § 103 SGB X begründet hat.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger mit seinem Begehren auf Auszahlung der vollständigen Rentennachzahlung im Ergebnis erfolglos geblieben ist.
IV.
Gründe die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass die Entscheidung des Senats von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts abweichen würde (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Eine Divergenz liegt nicht bereits vor, wenn unterschiedliche Auffassungen zur Auslegung und Reichweite einer in einem obiter dictum geäußerten Rechtsmeinung vorliegen. Die Auffassung der 141. Kammer des Sozialgerichts Berlin ist für die Frage einer revisionsrechtlich relevanten Divergenz unbeachtlich. Grundsätzliche Bedeutung besteht ebenfalls nicht. Die Regelungen über die Abwicklung von Erstattungsansprüchen des Jobcenters bei nachträglicher Zuerkennung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung sind inzwischen grundlegend neu gefasst worden.


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