Medizinrecht

Anspruch auf Erläuterung der Zahlungsmitteilung über eine Kostenerstattung

Aktenzeichen  L 2 P 43/16 B ER

Datum:
6.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XI SGB XI § 36 Abs. 3 u. 4, § 37, § 38, § 108
SGG SGG § 86 b Abs. 2 S. 2 u. 4, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 172, § 173

 

Leitsatz

1. Zum Vorliegen eines Anordnungsanspruch aus § 108 SGB XI. (amtlicher Leitsatz)
2. Sinn und Zweck der Vorschrift ist die Schaffung von Transparenz. (amtlicher Leitsatz)
3. Zur ausnahmsweisen Annahme auch eines Anordnungsgrundes unter Abwägung der Gesamtumstände des Einzelfalls. (amtlicher Leitsatz)

Tenor

I.
Unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts München vom 16.06.2016 wird die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, die Antragstellerin über die der Zahlungsmitteilung vom 18.01.2014 zugrunde liegenden in Anspruch genommenen Leistungen und deren Kosten zu unterrichten.
II.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren notwendige außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Gründe

I. Gegenstand des Antragsverfahrens ist ein Anspruch auf nähere Erläuterung der Zahlungsmitteilung vom 18.01.2014 über eine Kostenerstattung in Höhe von insgesamt 520,36 EUR.
Die 1927 geborene Antragstellerin erhält seit dem 01.05.2013 Leistungen der Pflegestufe III sowie einen Betrag von bis zu 100 EUR monatlich für zusätzliche Betreuungsleistungen (Bescheid der Antragsgegnerin vom 17.01.2014).
Die Antragstellerin lebt unter der Adresse der S. GmbH, S-Straße 14 in A-Stadt. Nach den Feststellungen des vom Sozialgericht München in einem Klageverfahren betreffend Behandlungspflege eingeholten Gutachtens des Sachverständigen Dr. H. wird ausgeführt, die Pflegebedürftige wohne seit 2011 in den vormaligen Betriebsräumen der Firma S., die von Dr. O. A., dem Sohn der Antragstellerin, betrieben werde. Dr. A. betreibe seine Firma nun aus einem einzelnen Zimmer heraus. Für die Antragstellerin sei in einem 10 m von der Toilette entfernten Raum ein Pflegebett aufgestellt.
Mit Zahlungsmitteilung vom 18.01.2014 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass sie ihr einen Betrag von 520,36 EUR überwiesen habe. Die Zusammensetzung dieses Betrages ergebe sich aus folgender Aufstellung: … Leistung 01.05.2013 bis 31.05.2013 A., D., C716234347 Betrag: 87,50 EUR … Leistung 01.06.2013 bis 30.06.2013 A., D., C716234347 Betrag: 84,02 EUR … Leistung 01.07.2013 bis 31.07.2013 A., D., C716234347 Betrag: 69,44 EUR … Leistung 01.08.2013 bis 31.08.2013 A., D., C716234347 Betrag: 69,59 EUR … Leistung 01.09.2013 bis 30.09.2013 A., D., C716234347 Betrag: 70,13 EUR … Leistung 01.10.2013 bis 31.10.2013 A., D., C716234347 Betrag: 71,44 EUR … Leistung 01.11.2013 bis 30.11.2013 A., D., C716234347 Betrag: 68,24 EUR
Mit Schreiben vom 08.02.2014 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin die Offenlegung der Abrechnung über den Gesamtbetrag von 520,36 EUR vom 18.01.2014 mit sieben individuellen Abrechnungsposten. Aus der Abrechnung sei überhaupt nicht ersichtlich, um welchen Abrechnungsgegenstand es sich handle. Es werde gebeten, den Rechtsgrund für Zahlung, Leistungsinhalt der Zahlung usw. mitzuteilen. Ohne diese Angaben könne die Antragstellerin nicht verbuchen bzw. ermitteln, ob die Abrechnung auf einem Rechtsgrund beruhe. Für die Antragsbescheidung werde eine Frist bis zum 08.03.2014 gesetzt.
Am 16.04.2014, am 08.08.2014 und am 07.03.2016 wiederholte die Antragstellerin schriftlich ihr Anliegen.
Die Antragsgegnerin beantwortete die Schreiben der Antragstellerin zu keinem Zeitpunkt.
Am 31.05.2016 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht (SG) München den Erlass einer einstweiligen Anordnung bezüglich der Rechnungslegung über die Zahlungsmitteilung vom 18.01.2014 gestellt.
Am 01.06.2016 hat die Antragstellerin beim SG München eine entsprechende Klage auf Rechnungslegung zur Zahlungsmitteilung vom 18.01.2014 erhoben (Az. S 18 P 219/16).
Die Antragsgegnerin hat in ihrer Antragserwiderung vom 13.06.2016 ausgeführt, es handele sich um Kombinationsleistungen nach § 38 Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Nehme der Pflegebedürftige die ihm nach § 36 Abs. 3 und 4 zustehende Sachleistung nur teilweise in Anspruch, so erhalte sie daneben ein anteiliges Pflegegeld im Sinne des § 37 SGB XI. Das Pflegegeld werde um den Vomhundertsatz vermindert, in dem der Pflegebedürftige Sachleistungen in Anspruch genommen habe. Die Antragstellerin habe den Bescheid vom 17.01.2014 über die Einstufung in die Pflegestufe III mit hälftiger Pflegeleistung neben der Beihilfe sowie die Zahlungsmitteilung vom 18.01.2014 erhalten. Dies müsse zu ihrer Information ausreichen. Der Gesetzgeber habe nicht vorgesehen, dass bei rund 2,6 Millionen pflegebedürftigen Menschen und mehreren 100 Millionen Rechnungen jährlich bis monatlich eine Einzelauflistung über Art, Berechnung, Leistungsinhalt aufgeführt wird. Vielmehr habe der Pflegedienst im Rahmen der Pflegesachleistungen einen schriftlichen Dienstleistungsvertrag mit dem Versicherten zu erstellen. In diesem Vertrag seien Angaben über die Höhe und Art sowie die Frequenz der Pflegesachleistungen und das sich daraus ergebende anteilige Pflegegeld ersichtlich.
Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 16.06.2016 (Az. S 18 P 214/16 ER) abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Antragstellerin habe ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis für eine Vorwegnahme der Hauptsache im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nicht glaubhaft gemacht.
Die Antragstellerin hat gegen den Beschluss des SG A-Stadt, der ihr am 23.06.2016 zugestellt worden ist, am 24.06.2016 beim SG Beschwerde eingelegt. Die Beschwerde ist an das Bayerische Landessozialgericht (LSG) weitergeleitet worden.
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts München vom 16.06.2016 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die rechnungsmäßigen Kosten aus der Zahlungsmitteilung vom 18.01.2014 in Gesamthöhe von 520,36 EUR für jeden einzelnen Buchungsgegenstand der sieben Buchungstexte offenzulegen, mit der Maßgabe der Erstellung einer individuellen Abrechnung für jeden einzelnen Buchungstext gegenüber der Antragstellerin umfassend Vorname, Name und Anschrift der Antragstellerin/Rechnungsempfängerin, wie im Antrag bezeichnet, Zahlungsdatum, Rechtsgrund für Zahlung, Leistungsinhalt der Zahlung und gesetzliche Zahlungshöhe, tatsächliche Zahlungshöhe und Rechtsbelehrung.
Die Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Antragsgegnerin hat sich im Beschwerdeverfahren darauf beschränkt, auf die Begründung des Beschlusses des SG sowie auf ihre Stellungnahme im erstinstanzlichen Verfahren zu verweisen.
Die Antragsgegnerin hat im Beschwerdeverfahren keine Akten vorgelegt, sondern erklärt, das SG würde diese direkt an das Bayerische Landessozialgericht (LSG) versenden. Eine telefonische Rückfrage beim SG hat ergeben, dass die Akten an die Antragsgegnerin zurückgeschickt wurden. Dies ist der Antragsgegnerin telefonisch mitgeteilt worden, die dann angegeben hat, es gebe keine anderen Verwaltungsakten als diejenigen, die erstinstanzlich als Anlage zur Antragserwiderung eingereicht wurden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Behördenakte Bezug genommen.
II. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Die Beschwerdesumme von 750 EUR spielt keine Rolle (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 Hs. 1 in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), weil es sich bei dem Anspruch nach sinngemäßer Auslegung (siehe unten) um ein Auskunftsbegehren nach § 108 SGB XI und damit nicht um eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung im Sinne des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG handelt.
Die Beschwerde ist begründet; das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG ist eine Regelungsanordnung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74; vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166/179 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236).
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches – das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der Antragsteller sein Begehren stützt – voraus. Die Angaben hierzu hat der Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 86b Rdnr. 41). Glaubhaftmachung bedeutet überwiegende Wahrscheinlichkeit, d. h. dass mehr dafür als dagegen spricht (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a. a. O., Rdnr. 16b).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden (BVerfG vom 12.05.2005, a. a. O., und vom 22.11.2002, a. a. O.).
Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 108 SGB XI. Danach unterrichten die Pflegekassen die Versicherten auf deren Antrag über die im jeweils letzten Geschäftsjahr in Anspruch genommenen Leistungen und deren Kosten. Die Antragsgegnerin hat dargelegt, dass es sich bei den mit Zahlungsmitteilung vom 18.01.2014 abgerechneten Leistungen um das monatliche Pflegegeld handelt, das sich bei der Abrechnung von Kombinationsleistungen nach § 38 SGB XI ergibt. Der sich daraus ergebende Betrag ist für den Versicherten nur dann nachvollziehbar, wenn er weiß, in welchem Umfang die Pflegekasse mit der ambulanten Pflegeeinrichtung Sachleistungen abgerechnet hat. Da diese Abrechnung direkt im Verhältnis zwischen Pflegedienst und Pflegekasse erfolgt, hat der Versicherte hierin keinen Einblick. Über § 108 SGB XI hat er jedoch Anspruch auf Unterrichtung über die im letzten Geschäftsjahr in Anspruch genommenen Leistungen und deren Kosten. Sinn und Zweck der Vorschrift ist gerade die Schaffung von Transparenz, insbesondere damit der Versicherte überprüfen kann, ob ihm die beantragte Leistung bis zur gesetzlich vorgesehenen Höchstgrenze gewährt wurde (vgl. Udsching, SGB XI, 4. Aufl. 2015, § 108 Rdnr. 2). Der Antrag ist bei sinngemäßer Auslegung auf diese Leistung gerichtet.
Im vorliegenden Fall sieht der Senat angesichts der Besonderheiten des Einzelfalls und des bisherigen Verlaufs des Verwaltungsverfahrens einen Anordnungsgrund, also die Eilbedürftigkeit, für den Anspruch auf Unterrichtung nach § 108 SGB XI als erfüllt an. Grundsätzlich dürfte für einen solchen reinen Informationsanspruch kein Anordnungsgrund bestehen. Vielmehr ist es dem Antragsteller zumutbar, das Hauptsacheverfahren abzuwarten. Im vorliegenden Fall ist unter Abwägung der Gesamtumstände aber das Bedürfnis an einer Eilentscheidung, wenn auch grenzwertig, zu bejahen, weil die Antragstellerin glaubhaft gemacht hat, dass aufgrund des Erfordernisses einer 24-Stunden-Pflege und ihrer Einstufung in die Pflegestufe III ein monatlicher Bedarf von etwa 6.500 EUR besteht, der die monatlichen Einnahmen in Höhe von ca. 3.300 EUR weit überschreitet, die Klägerin mit ihren finanziellen Ressourcen am Ende ist und sich auch mit der Bezahlung laufender Pflegeleistungen drei Monate in Rückstand befindet. Aus dieser Situation ergibt sich ein allgemeines Bedürfnis, klar fällige Ansprüche auf Sozialleistungen zeitnah erfüllt zu bekommen. Hierzu muss die Antragstellerin auch die notwendigen Informationen erhalten, um in die Lage versetzt zu werden, die Erfüllung dieser Ansprüche zu überprüfen. Hinzu kommt der Umstand, dass die Antragsgegnerin im zugrunde liegenden Verfahren in keiner Weise bereit war, auf die Belange der Antragstellerin einzugehen, insbesondere die streitgegenständliche Zahlungsmitteilung näher zu erläutern, wodurch sich das gerichtliche Verfahren mit Wahrscheinlichkeit hätte vermeiden lassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

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