Medizinrecht

Anspruch auf Kostenerstattung für eine Schlauchmagen-Operation

Aktenzeichen  S 17 KR 584/15

Datum:
19.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 56811
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 12 Abs. 1, V § 11 Abs. 1, § 27 Abs. 1, § 13 Abs. 3 S. 1

 

Leitsatz

1. Eine Schlauchmagen Operation kann nicht mit der Erwägung verneint werden, dass für das Übergewicht das krankhafte Essverhalten des Patienten und nicht eine Funktionsstörung des Magens verantwortlich ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es besteht keink Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Umwandlungsoperation des Schlauchmagens in einen Omega-Loop-Bypass. Einerseits hat die Klägerin bei der Beklagten die Übernahme der Kosten vorher gar nicht beantragt. Andererseits war die Umwandlung medizinisch nicht notwendig. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 14.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2015 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Kosten für die am 21.07.2015 durchgeführte Schlauchmagenoperation in Höhe von 9443,84 Euro zu erstatten.
III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
IV. Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I.
Die form- und fristgerecht (§§ 90, 92, 87 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG) zum sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Würzburg (§§ 51 Abs. 1, 57 Abs. 1 Satz 1 SGG) erhobene Klage ist zulässig und auch teilweise begründet.
1. Der Bescheid der Beklagten vom 14.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Kostenerstattung in Höhe von 9443,84 Euro für die am 21.07.2015 durchgeführte Schlauchmagen-Operation.
Rechtsgrundlage des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs ist § 13 Abs. 3 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), wonach von der Krankenkasse Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten sind, wenn sie eine notwendige Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden sind.
Die Beklagte hat den von der Klägerin am 03.07.2015 gestellten Antrag auf Kostenübernahme für einen adipositaschirurgischen Eingriff vor Durchführung der Operation am 21.07.2015 mit Bescheid vom 14.07.2015 zu Unrecht abgelehnt.
Dass die Klägerin am 07.07.2015 den Betrag in Höhe von 9.443,84 Euro als Vorauszahlung an das Klinikum F-Stadt überwiesen hat, steht der erforderlichen Kausalität zwischen bescheidmäßiger Ablehnung durch die Beklagte und Selbstbeschaffung, sog. Beschaffungsweg, nicht entgegen. Die Klägerin hat vor der Ablehnung keinen Behandlungsvertrag mit dem Klinikum F-Stadt unterschrieben, sondern erst am 20.07.2015. Vorher liegt lediglich eine Patienteninformation des Klinikums vor. Die Klägerin hätte vor dem 20.07.2015 jederzeit die Operation absagen und die Vorauszahlung zurückfordern können. Eine verbindliche Festlegung der Klägerin bestand vor der Ablehnung somit nicht.
Weitere Voraussetzung für eine Kostenerstattung ist, dass ein entsprechender Sachleistungsanspruch auf die selbstbeschaffte Leistung bestand. Dies war hier der Fall.
Zur Überzeugung der Kammer war die Schlauchmagen-Operation medizinisch notwendig und daher von der Beklagten gem. § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V zu übernehmen. Nach § 11 Abs. 1 und § 27 Abs. 1 SGB V haben gesetzlich Versicherte Anspruch auf Behandlung einer Krankheit. Gemäß § 12 Abs. 1 SGB V muss die Behandlung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Der Anspruch umfasst u. a. die notwendige ärztliche Behandlung und die Krankenhausbehandlung. Krankheit im Sinne des SGB V ist ein regelwidriger Körper- und Geisteszustand, der die Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung des Versicherten und – zugleich oder allein – Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Als regelwidrig wird ein Zustand angesehen, der von der Norm, also vom Leitbild des gesunden Menschen, abweicht. Nicht unumstritten ist, ob bereits der Adipositas als solcher Krankheitswert zukommt. Einigkeit besteht in der Medizin aber darüber, dass bei starkem Übergewicht (im Allgemeinen ab einem BMI ab 30) eine Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduktion erforderlich ist, weil andernfalls ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Begleit- und Folgeerkrankungen, wie Stoffwechselkrankheiten, Herz- und Kreislauferkrankungen, Atemwegserkrankungen, gastrointestinale Erkrankungen, Krankheiten des Bewegungsapparates und bösartige Neubildungen besteht. Erfordert die Adipositas mithin eine ärztliche Behandlung, so belegt dies zugleich die Regelwidrigkeit des bestehenden Zustandes und damit das Vorliegen einer Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12.07.2006 – L 5 KR 5779/0 – zitiert nach juris). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG vom 17.10.2006 – B 1 KR 104/06 – zitiert nach juris – mit Verweis auf BSGE 90, 289ff.) kann die Leistungspflicht für eine chirurgische Therapie dieser Krankheit nicht mit der Erwägung verneint werden, dass für das Übergewicht das krankhafte Essverhalten des Patienten und nicht eine Funktionsstörung des Magens verantwortlich ist. Zwar stellt die operative Verkleinerung bzw. Veränderung des Magens keine kausale Behandlung dar, vielmehr soll damit eine Verhaltensstörung der Klägerin durch eine zwangsweise Begrenzung der Nahrungsmenge lediglich indirekt beeinflusst werden. Eine solche mittelbare Therapie wird jedoch vom Leistungsanspruch grundsätzlich mit umfasst, wenn sie ansonsten die in § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V aufgestellten Anforderungen erfüllt, also ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist sowie dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht.
Für chirurgische Eingriffe hat das Bundessozialgericht diesen Grundsatz jedoch eingeschränkt, wenn durch eine Operation in ein funktionell intaktes Organ eingegriffen und dieses regelwidrig verändert wird, wie das bei einer Schlauchmagen-Operation geschieht. In diesem Fall bedarf die mittelbare Behandlung einer speziellen Rechtfertigung, wobei die Art und Schwere der Erkrankung, die Dringlichkeit der Intervention, die Risiken und der zu erwartende Nutzen der Therapie sowie etwaige Folgekosten für die Krankenversicherung gegeneinander abzuwägen sind (BSG a.a.O.). Nachdem ein operativer Eingriff stets mit einem erheblichen Risiko (Narkose, Operationsfolgen z. B. Entzündung, Thrombose bzw. Lungenembolie, operationsspezifische Komplikationen wie Pouchdilatation, Portinfektionen und Stomastenose) verbunden ist, darf eine chirurgische Behandlung stets nur die ultima ratio sein. Sie kommt nur bei Erfüllung einer Reihe von Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung (BMI über 40 bzw. über 35 mit erheblichen Begleiterkrankungen; Erschöpfung konservativer Behandlungsmethoden; tolerables Operationsrisiko; ausreichende Motivation, keine manifeste psychiatrische Erkrankung; Möglichkeit einer lebenslangen medizinischen Nachbetreuung u. a.) in Betracht. Dies bedeutet, dass vor einer Operation zunächst sämtliche konservativen Behandlungsalternativen durchzuführen sind (vgl. LSG Baden-Württemberg, a.a.O., m.w.N.).
Nach der einschlägigen überarbeiteten Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie – Chirurgische Arbeitsgemeinschaft für Adipositastherapie (CA-ADIP) „Chirurgie der Adipositas“ (Stand Juni 2010, Seite 112 ff.), die den zum Zeitpunkt der Durchführung der Operation im Juli 2015 aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse wiedergibt, ist eine Operation am Magen nur indiziert, wenn alle konservativen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Das ist der Fall, wenn durch eine multimodale konservative Therapie innerhalb von mindestens sechs Monaten das Therapieziel nicht erreicht und gehalten wurde. Die Möglichkeiten zur Ernährungstherapie sind erst dann erschöpft, wenn mittels einer energiereduzierten Mischkost und einer weiteren ernährungsmedizinischen Maßnahme (z.B. Formula-Diät, weitere Form einer energiereduzierten Mischkost) das Therapieziel nicht erreicht wurde. Zusätzlich ist, soweit keine Barrieren bestehen, mindestens zwei Stunden wöchentlich eine Ausdauer- und/oder Kraftausdauersportart sowie eine ambulante oder stationäre Psychotherapie (Verhaltenstherapie oder Tiefenpsychologie) durchzuführen. Die überarbeitete Leitlinie sieht darüber hinaus nunmehr ausdrücklich eine ausnahmsweise primäre Operationsindikation vor. Lassen Art und/oder Schwere der Krankheit bzw. psychosoziale Gegebenheiten bei Erwachsenen annehmen, dass eine chirurgische Therapie nicht aufgeschoben werden kann oder die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist, kann in Ausnahmefällen auch primär eine chirurgische Therapie durchgeführt werden.
Gestützt auf das vom Gericht eingeholte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. G. vom 06.11.2017 liegen diese Voraussetzungen vor. Hiernach litt die Klägerin vor der Operation insbesondere an folgenden Erkrankungen:
– Adipositas per magna,
– Diabetes mellitus Typ 2,
– Arterielle Hypertonie,
– Chronische Rückenschmerzen,
– Angststörung und rezidivierende depressive Störung.
Der Sachverständige setzte sich in überzeugender Weise mit den von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft entwickelten Kriterien auseinander. Er führte aus, dass ernsthaft versucht worden sei, ein multimodales Therapiekonzept zu verfolgen. Der Klägerin sei es offenbar aber nicht möglich gewesen die jahrelang vom Hausarzt vorgeschlagenen Maßnahmen konsequent umzusetzen, so dass eine Ultima-Ratio-Situation bestanden habe.
Liegen die Voraussetzungen der Umwandlung des Sachleistungsin einen Kostenerstattungsanspruch vor, erstreckt sich dieser grundsätzlich auf die Erstattung der dem Versicherten für die selbst beschaffte Leistung entstandenen Kosten (Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 13 Rn. 57).
2. Die Klägerin hat jedoch keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Umwandlungsoperation vom 10.05.2016. Einerseits hat die Klägerin bei der Beklagten die Übernahme der Kosten vorher gar nicht beantragt. Andererseits war die Umwandlung des Schlauchmagens in einen Omega-Loop-Bypass medizinisch nicht notwendig. Ein nicht befriedigender Gewichtsverlust ist hierfür nicht ausreichend. Die Kammer folgt auch hier den überzeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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