Medizinrecht

Ausnahmen und Befreiungen von Hygienemaßnahmen für Geimpfte und Genesene

Aktenzeichen  Vf. 73-VII-20

Datum:
28.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16843
Gerichtsart:
VerfGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verfassungsgerichtsbarkeit
Normen:
13. BayIfSMV § 3, § 6 Abs. 2, § 7 Abs. 2, § 9 Abs. 2, § 13, § 14, § 15, § 18
BV Art. 118 Abs. 1

 

Leitsatz

Keine Außervollzugsetzung von Vorschriften der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung für den Personenkreis der Geimpften und Genesenen. (Rn. 8)
1. Beschränkungen in Lebensbereichen, in denen es zu unvorhergesehenen Kontakten einer größeren Zahl von Menschen kommen kann, besitzen eine relativ geringe Eingriffsintensität. Schon Praktikabilitätserwägungen wie eine schwierigere Kontrolle sind ausreichend, um die Einbeziehung der Geimpften und Genesenen in diese Beschränkungsmaßnahmen als ein zur Erreichung des Normzwecks geeignetes und erforderliches Mittel anzusehen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass von geimpften und genesenen Personen gar keine relevante Gefährdung mehr ausgeht, so dass sie gleichsam als “Nichtstörer” zur Gefahrenvorsorge herangezogen würden. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Dass den Angehörigen der besonders gefährdeten Gruppen mittlerweile fast durchgehend ein Impfangebot gemacht wurde und daher insoweit nur noch ein statistisch stark verringertes Risiko einer schweren Erkrankung oder des Todes besteht, hindert den Verordnungsgeber nicht daran, auch in Zeiten niedriger Inzidenzwerte an allgemeinen, den Einzelnen wenig belastenden Vorsorgemaßnahmen festzuhalten, die eine Übertragung des Virus zumindest erschweren. Ob in anderen Bundesländern für Geimpfte und Genesene weitergehende Ausnahmen und Befreiungen von Schutzmaßnahmen vorgesehen sind als in Bayern, ist unter Gleichheitsgesichtspunkten nicht von Bedeutung, da sich der Gleichheitssatz nur an denselben Normgeber richten kann. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 8. Juni 2021 wird abgewiesen.
2. Dem Antragsteller wird eine Gebühr von 1.500 € auferlegt.

Gründe

I.
1. Der Antragsteller wendet sich im Popularklageverfahren mit Schreiben vom 8., 16., 21., 24. und 28. Juni 2021 gegen die Dreizehnte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (13. BayIfSMV) des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege in der Fassung vom 5. Juni 2021 (BayMBl Nr. 384, BayRS 2126-1-17-G), soweit diese Einschränkungen für vollständig gegen SARS-CoV-2 geimpfte Personen (ab Eintreten des vollständigen Impfschutzes gemäß Robert Koch-Institut) sowie für Genesene enthält. Er beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der die im Einzelnen angegriffenen Vorschriften der §§ 3, 6 Abs. 2, § 7 Abs. 2, § 9 Abs. 2, §§ 13, 14, 15 und 16 13. BayIfSMV für den Personenkreis der vollständig Geimpften (und der Genesenen) für rechtswidrig erklärt werden sollen.
Die zuletzt durch Verordnung vom 22. Juni 2021 (BayMBl Nr. 419) geänderte Dreizehnte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung ist gemäß ihrem § 29 am 7. Juni 2021 in Kraft getreten und tritt mit Ablauf des 4. Juli 2021 außer Kraft. Die Verordnung ist gestützt auf § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1,§§ 28 a, 28 b, 28 c Satz 3 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit § 11 der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung (SchAusnahmV) und § 9 Nr. 5 der Delegationsverordnung (DelV).
Der Antragsteller ist der Auffassung, dass die konkret angefochtenen Rechtsvorschriften gegen Art. 101, 109 und 113 BV in Verbindung mit Art. 98, 99 und 100 BV verstießen. Die in der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung enthaltenen Einschränkungen von durch die Bayerische Verfassung garantierten Grundrechten seien für vollständig gegen SARS-CoV-2 geimpfte Personen angesichts der tatsächlichen Gefährdungslage des Gesundheitswesens, des aktuellen Infektionsgeschehens und des Fortschritts der Impfkampagne weder verhältnismäßig noch hinreichend begründet. Überdies widerspreche die angegriffene Verordnung dem Gleichbehandlungsgrundsatz, da andere Bundesländer weniger einschränkende Verfügungen für Geimpfte erlassen hätten.
Die von vollständig geimpften Personen (wie, nach seinen Angaben, dem Antragsteller) 14 Tage nach der Zweitimpfung ausgehende Gefährdung für Dritte sei als stark vermindert zu bezeichnen; sie spiele bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr. Wegen der Aufhebung der Impfpriorisierung zum 7. Juni 2021 habe jedermann die Möglichkeit, eine Impfung in Anspruch zu nehmen und sich damit selbst zu schützen. Die Impfkampagne sei weit fortgeschritten, was sich in einem deutlichen Rückgang von Erkrankungszahlen und Sterbefällen manifestiere; damit verlören die 7-Tages-Inzidenzzahlen immer mehr an Aussagekraft. Die besonders gefährdeten Altersgruppen und die Mitglieder vulnerabler Gruppen hätten die Möglichkeit gehabt, sich über eine Impfung zu schützen. Es gebe auch keine Überlastung des bayerischen Gesundheitswesens, insbesondere nicht in den für COVID-19 relevanten Bereichen; selbst bei zukünftig negativem Verlauf der Pandemie sei eine solche Überlastung nicht ansatzweise absehbar. Allein mit einem positiven RT-PCR-Test könne ein infektiöser Erreger bzw. eine Erkrankung im Sinn des Infektionsschutzgesetzes nicht nachgewiesen werden.
Da von vollständig geimpften Personen (wie auch von Genesenen) keine relevante Gefährdung mehr ausgehe, seien die in der Verordnung enthaltenen Grundrechtseinschränkungen zur Erreichung des vom Freistaat Bayern verfolgten Ziels nicht erforderlich. Der Verhältnismäßigkeit stehe zudem entgegen, dass jedermann die Möglichkeit zum Schutz der eigenen Gesundheit durch Teilnahme an der Impfkampagne habe und dass durch diese die wesentlichen Alters- und Risikogruppen geschützt seien sowie ein allgemeiner Herdenschutz bestehe. Die Begründung des Freistaates Bayern für die Verordnung sei folglich als unzureichend, falsch und konstruiert zu bewerten; in ihr werde insbesondere nicht hinreichend begründet, warum vollständig Geimpfte (aber auch Genesene) unter die verfügten Einschränkungen fallen sollten.
Es sei weit überwiegende Meinung der epidemiologischen Fachwelt einschließlich des Robert Koch-Instituts, dass Geimpfte und Genesene eine extrem geringe Gefahr für sich selbst (eigene Gesundheit) oder für andere darstellten. Die Auffassung, dass Einschränkungen von Grundrechten für diesen Personenkreis aufzuheben und für nicht rechtens zu erklären seien, werde von nahezu allen Verfassungsrechtlern der Bundesrepublik Deutschland vertreten. Aus Medienberichten sei bekannt, dass die Bundesregierung und die Bayerische Staatsregierung wie auch das Robert Koch-Institut ihren Entscheidungen grob falsche Zahlen zur Auslastung der Intensivkapazitäten zugrunde gelegt hätten; diese falschen Annahmen fänden sich ebenfalls in der Begründung der angegriffenen Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Die Begründung der Verordnung enthalte keinerlei Ausführungen dazu, warum Genesene und vollständig Geimpfte unter die Grundrechtsbeschränkungen fallen sollten. Auf sie werde lediglich in unzureichender Form im Hinblick auf Testanforderungen und im Kontext von privaten Treffen bzw. Veranstaltungen gesondert eingegangen. Angesichts zwischenzeitlich hoher Quoten von erst- und zweitgeimpften Personen zuzüglich Genesener in Bayern bzw. Deutschland sowie eines vollständigen Impfangebots an Risikogruppen und betroffene Altersgruppen sei es unzulässig, für diese relevante Gruppe Verordnungen und Verfügungen zu erlassen, ohne dies im Detail zu begründen. Faktisch sei die Pandemie angesichts der unwiderlegbaren Zahlen sowohl in Deutschland als auch in Bayern beendet.
2. Der Bayerische Landtag und die Bayerische Staatsregierung wurden am Ver fahren beteiligt. Die Bayerische Staatsregierung hat sich mit Stellungnahme vom 23. Juni 2021 zu dem Antrag geäußert. Sie hält ihn für unzulässig, im Übrigen auch für unbegründet.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, §§ 3, 6 Abs. 2, § 7 Abs. 2, § 9 Abs. 2, §§ 13, 14, 15 und 16 13. BayIfSMV für den Personenkreis der vollständig Geimpften und der Genesenen vorläufig außer Vollzug zu setzen, ist unzulässig. Bei einem Teil der angegriffenen Regelungen besteht schon kein Rechtsschutzbedürfnis für eine verfassungsgerichtliche Außervollzugsetzung (1.). Darüber hinaus fehlt es insgesamt an der geforderten Substanziierung einer möglichen Grundrechtsverletzung (2.).
1. Bei den Vorschriften der § 6 Abs. 2, § 7 Abs. 2, § 13 Abs. 2 und 3 Nr. 2, § 15 Abs. 1 Nr. 3, § 16 Nrn. 1 und 2 13. BayIfSMV besteht im Hinblick auf das mit der Popularklage verfolgte Rechtsschutzziel kein nachvollziehbares Interesse, sie für vollständig Geimpfte und Genesene vorläufig außer Kraft zu setzen.
a) Die vom Antragsteller verwendeten Sammelbezeichnungen der (vollständig) „Geimpften“ und der „Genesen“ beziehen sich ersichtlich auf die entsprechenden infektionsschutzrechtlichen Begriffsbestimmungen, wie sie sowohl der bundesrechtlichen COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung (die als solche nicht Prüfungsgegenstand einer Popularklage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof sein kann) als auch der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung zugrunde liegen. Danach gelten als geimpfte bzw. genesene Personen jeweils solche asymptomatischen Personen, die im Besitz eines auf sie ausgestellten Impfnachweises bzw. Genesennachweises sind (§ 2 Nrn. 2 und 4 SchAusnahmV, § 4 Nr. 3 13. BayIfSMV). Unter welchen Voraussetzungen eine Person als asymptomatisch anzusehen ist und welche Anforderungen an den Impf- bzw. Genesenennachweis zu stellen sind, ist zwar ausdrücklich nur im Bundesrecht in § 2 Nrn. 1, 3 und 5 SchAusnahmV geregelt. Der bayerische Verordnungsgeber nimmt auf diese Legaldefinitionen aber mittelbar Bezug (vgl. bereits die Begründung der Verordnung zur Änderung der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 14. Mai 2021, BayMBl Nr. 338 S. 3). Er trifft dabei einige Regelungen, mit denen Geimpfte und Genesene gegenüber den übrigen Normadressaten bessergestellt werden.
b) So ist der mit der Popularklage angegriffene § 6 Abs. 2 13. BayIfSMV, wonach für geimpfte und genesene Personen die Bestimmungen der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung entsprechend gelten, nach dem Regelungszusammenhang dahingehend zu verstehen, dass bei der in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 13. BayIfSMV vorgesehenen allgemeinen Kontaktbeschränkung auf maximal zehn Personen die Geimpften und Genesenen ebenso wie in den von § 8 Abs. 2 SchAusnahmV unmittelbar erfassten Fällen nicht mitgerechnet werden (so auch die amtliche Begründung der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 5. Juni 2021, BayMBl Nr. 385 S. 3 f.). Bei einer vorläufigen Außervollzugsetzung der Norm würde diese Privilegierung der geimpften und genesenen Personen entfallen, woran der Antragsteller kein Interesse haben kann.
Gleiches gilt für § 7 Abs. 2 13. BayIfSMV, wonach bei bestimmten privaten Veranstaltungen zwar die in Absatz 1 genannten inzidenzabhängigen Beschränkungen der Teilnehmerzahl entsprechend gelten, dies aber mit der Maßgabe, dass sich die genannten Personengrenzen nach § 8 Abs. 2 SchAusnahmV zuzüglich geimpfter oder genesener Personen verstehen. Auch darin liegt, soweit es um Geimpfte und Genesene geht, eine ausschließlich begünstigende Regelung, der zudem wegen der vorrangigen bundesrechtlichen Norm des § 8 Abs. 2 SchAusnahmV lediglich deklaratorische Bedeutung zukommt.
Aus den in § 13 Abs. 2, 3 Nr. 2, § 15 Abs. 1 Nr. 3 und § 16 Nrn. 1 und 2 13. BayIfSMV getroffenen Regelungen zum Erfordernis eines Testnachweises nach Maßgabe von § 4 13. BayIfSMV ergibt sich für die Gruppe der Geimpften und Genesenen ebenfalls keine rechtliche Belastung, da nach § 4 Nr. 3 13. BayIfSMV alle asymptomatischen Personen, die im Besitz eines auf sie ausgestellten Impfnachweises oder Genesenennachweises sind, von der Notwendigkeit der Vorlage eines Testnachweises von vornherein ausgenommen sind.
2. Unabhängig von diesem partiellen Fehlen eines Rechtsschutzbedürfnisses ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch deshalb (insgesamt) unzulässig, weil der Antragsteller mit seinen allgemeinen Ausführungen zur Infektionslage in Bayern und in Deutschland nicht die für eine Popularklage – und für einen darauf bezogenen Eilantrag – geltenden Mindestanforderungen an einen hinreichend substanziierten Sachvortrag erfüllt.
a) Zu den prozessualen Voraussetzungen einer Popularklage gegen eine Rechtsvorschrift des bayerischen Landesrechts (Art. 98 Satz 4 BV, Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG) gehört nach Art. 55 Abs. 1 Satz 2 VfGHG, dass der Antragsteller darlegt, inwiefern durch die angegriffene Vorschrift ein in der Verfassung gewährleistetes Grundrecht verfassungswidrig eingeschränkt wird. Eine ausreichende Grundrechtsrüge liegt nicht schon dann vor, wenn er lediglich behauptet, dass die angefochtene Rechtsvorschrift nach seiner Auffassung gegen Grundrechtsnormen der Bayerischen Verfassung verstößt. Der Antragsteller muss seinen Vortrag vielmehr so präzisieren, dass der Verfassungsgerichtshof beurteilen kann, ob der Schutzbereich der bezeichneten Grundrechtsnorm berührt ist. Die zur Überprüfung gestellten Tatsachen und Vorgänge müssen eine Grundrechtsverletzung zumindest möglich erscheinen lassen (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 21.2.1986 VerfGHE 39, 17/21; vom 6.12.2011 VerfGHE 64, 205/208 f.; vom 26.6.2012 VerfGHE 65, 118/122 f.; vom 17.7.2017 BayVBl 2018, 407 Rn. 46; vom 19.3.2018 BayVBl 2018, 514 Rn. 36; vom 29.10.2020 BayVBl 2021, 83 Rn. 19). Zu den Begründungsanforderungen kann zudem eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der einfachrechtlichen Rechtslage gehören (vgl. zur Rechtssatzverfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht z. B. BVerfG vom 27.7.2015 – 1 BvR 1560/15 – juris Rn. 5; vom 20.5.2021 – 1 BvR 928/21 – juris Rn. 12; Lenz/Hansel, BVerfGG, 3. Aufl. 2020, § 92 Rn. 51).
b) Diesen Anforderungen wird der Sachvortrag des Antragstellers schon deshalb nicht gerecht, weil er lediglich eine Reihe von Grundrechtsvorschriften (Art. 100, 101, 109, 113 BV) wörtlich wiedergibt, ohne auch nur ansatzweise darzulegen, welche der mit der Popularklage angegriffenen Vorschriften nach seiner Auffassung in den Schutzbereich welches dieser Grundrechte eingreifen. Dass sich der Antragsteller zudem mit dem Regelungsgehalt der zur Prüfung gestellten Normen der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung nicht näher beschäftigt hat, zeigt sich daran, dass er auch Vorschriften angreift, die seinem Rechtsschutzbegehren entgegenkommen oder die sich ausschließlich an Veranstalter und Betreiber richten (§ 9 Abs. 2 Nr. 4, § 13 Abs. 1 Nr. 3, § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 15 Abs. 1 Nr. 5, § 16 Nr. 6 13. BayIfSMV). Da sich die Popularklage nicht gegen die in der Verordnung enthaltenen Freiheitseinschränkungen als solche richtet, sondern nur gegen deren Erstreckung auf geimpfte und genesene Personen, hätte in der Begründung zumindest in groben Zügen erläutert werden müssen, inwiefern diese Gruppe von Normadressaten von den angegriffenen Regelungen überhaupt betroffen ist und welches Gewicht den betreffenden Grundrechtseingriffen aus Sicht des Antragstellers zukommt.
Der Antragsteller bestreitet nicht das prinzipielle Recht des Verordnungsgebers zur Einschränkung der genannten Grundrechte, sondern hält lediglich die Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Maßnahmen im Hinblick auf die Personengruppe der Geimpften und Genesenen für nicht mehr gegeben. Um diesen Einwand zu substanziieren, hätte er sich auch mit dem Regelungszweck der angegriffenen Vorschriften auseinandersetzen müssen. Dies ist aber nicht geschehen; in der Begründung wird nur pauschal behauptet, die Grundrechtseinschränkungen seien nicht erforderlich, um das vom Freistaat Bayern verfolgte Ziel zu erreichen.
III.
Selbst wenn von einer hinreichenden Substanziierung des Vorbringens ausgegangen würde, wäre der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung jedenfalls unbegründet.
Der Verfassungsgerichtshof kann auch im Popularklageverfahren eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund dringend geboten ist (Art. 26 Abs. 1 VfGHG). Wegen der weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung im Popularklageverfahren in der Regel auslöst, ist an die Voraussetzungen, unter denen sie erlassen werden kann, ein strenger Maßstab anzulegen. Aufgrund des Wesens der Popularklage dürfen konkrete Maßnahmen zugunsten einzelner von einem Rechtssatz betroffener Personen nicht erlassen werden; vielmehr kommt auch im Rahmen einer einstweiligen Anordnung nur eine Regelung infrage, die generell den Vollzug vorläufig aussetzt. Die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Vorschrift vorgetragen werden, haben im Regelfall außer Betracht zu bleiben. Nur wenn bereits offensichtlich ist, dass die Popularklage aus prozessualen oder sachlichen Gründen keine Aussicht auf Erfolg hat, kommt eine einstweilige Anordnung von vornherein nicht in Betracht. Umgekehrt kann der Erlass einer einstweiligen Anordnung dann geboten sein, wenn die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Vorschrift offensichtlich ist. Ist der Ausgang des Popularklageverfahrens dagegen als offen anzusehen, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Popularklage aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Popularklage aber der Erfolg zu versagen wäre. Bei dieser Abwägung müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe so gewichtig sein, dass sie im Interesse der Allgemeinheit eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile unabweisbar machen (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 22.3.2021 – Vf. 23-VII- 21 – juris Rn. 12).
Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung nicht zu erlassen. Die Voraussetzungen für eine vorläufige Außervollzugsetzung der in Rede stehenden Verordnungsbestimmungen liegen nicht vor.
1. Bei der gebotenen überschlägigen Prüfung ist nach gegenwärtigem Stand nicht davon auszugehen, dass die Popularklage in der Hauptsache erfolgreich sein wird.
a) Die angegriffenen Vorschriften beziehen sich, soweit sie nicht ohnehin die Geimpften und Genesenen im Sinn des § 2 Nrn. 2 und 4 SchAusnahmV von ihrem Anwendungsbereich ausnehmen, durchweg auf Lebensbereiche, in denen es zu unvorhergesehenen Kontakten einer größeren Zahl von Menschen kommen kann, nämlich auf Begegnungs- und Verkehrsflächen (§ 3 Abs. 4 13. BayIfSMV), Versammlungen in geschlossenen Räumen (§ 9 Abs. 2 13. BayIfSMV), Freizeiteinrichtungen (§ 13 13. BayIfSMV), Handels- und Dienstleistungsbetriebe (§ 14 13. BayIfSMV), Gaststätten (§ 15 13. BayIfSMV) und Beherbergungsbetriebe (§ 16 13. BayIfSMV). Die für die dortigen Besucher, Teilnehmer oder Kunden aus Gründen des Infektionsschutzes geltenden Beschränkungen (Maskenpflicht, Mindestabstand im öffentlichen Raum, Kontaktdatenerhebung) besitzen eine relativ geringe grundrechtliche Eingriffsintensität. Die Einhaltung der entsprechenden Vorschriften ließe sich von den dafür verantwortlichen Inhabern oder Veranstaltern nur schwer kontrollieren, wenn es dabei maßgebend auf den Status als Geimpfter oder Genesener ankäme (vgl. die Begründung zur COVID-19-SchutzmaßnahmenAusnahmenverordnung, BR-Drs. 347/21 S. 7). Das Gleiche wäre zu erwarten, wenn die nach § 13 Abs. 4 13. BayIfSMV grundsätzlich geschlossenen Bordellbetriebe, Clubs, Diskotheken, sonstigen Vergnügungsstätten und vergleichbaren Freizeiteinrichtungen nur für asymptomatische Personen mit einem Impf- oder Genesenennachweis geöffnet würden. Schon diese Praktikabilitätserwägungen dürften angesichts der dem Normgeber bei Massenerscheinungen zustehenden Befugnis zum Erlass generalisierender, typisierender und pauschalierender Regelungen (vgl. VerfGH vom 22.3.2021 – Vf. 23-VII-21 – juris Rn. 39 m. w. N.) ausreichen, um die Einbeziehung der Geimpften und Genesenen als ein zur Erreichung des Normzwecks geeignetes und erforderliches Mittel anzusehen.
b) Entgegen dem Vorbringen des Antragstellers kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass von geimpften oder genesenen Personen gar keine relevante Gefährdung mehr ausginge, sodass sie gleichsam als „Nichtstörer“ zur Gefahrenvorsorge herangezogen würden. Nach der in der Begründung zur COVID-19- Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung zitierten Bewertung des Robert KochInstituts vom 31. März 2021 liegt die Effektivität der Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 gegen alle Infektionen bei fast allen Studien im Bereich von 80 bis 90% nach vollständiger Immunisierung. Bei den trotz Impfung positiv getesteten Personen zeigen die vorliegenden Daten zudem eine signifikant geringere Viruslast und eine im Durchschnitt um eine Woche verkürzte Dauer eines Virusnachweises. Bei den genesenen Personen wurde für die Dauer von mindestens sechs Monaten ein Schutz vor einer moderaten oder schweren COVID-19-Erkrankung von 92% bzw. ein Schutz vor jeglicher Infektion von 83 bis 90% berechnet (BRDrs. 347/21 S. 8). Diese Zahlen erlauben zwar den Schluss, dass das Risiko einer Übertragung des Coronavirus SARS-CoV-2 nach einer Impfung und nach einer natürlichen Infektion nach gegenwärtigem Kenntnisstand in dem Maß reduziert ist, dass geimpfte und genesene Personen bei der Epidemiologie, also insbesondere der Weiterverbreitung von COVID-19, keine „wesentliche Rolle“ mehr spielen (BRDrs. 347/21 a. a. O.). Auch das Robert Koch-Institut geht jedoch davon aus, dass das insoweit noch bestehende Risiko durch weitere Vorgaben wie z. B. durch Einhaltung der AHA+L Regeln (Abstand halten, Hygiene beachten, Alltagsmaske tragen, Lüften) zusätzlich reduziert werden kann (BR-Drs. 347/21, S. 8 f.).
Die auf Erleichterungen für Geimpfte und Genesene abzielende bundesrechtliche COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung stellt demgemäß ausdrücklich klar, dass die bestehenden Maskenpflichten, Abstandsgebote im öffentlichen Raum und Vorgaben in Hygiene- und Schutzkonzepten von der Verordnung unberührt bleiben (§ 1 Abs. 2 SchAusnahmV). Dies wird u. a. damit begründet, dass solche bevölkerungsbasierten, nicht an das persönliche Risiko angepassten Schutzmaßnahmen ihre Wirkung nur entfalten, wenn sie in der Bevölkerung sehr breit akzeptiert und umgesetzt werden. Da auch von geimpften oder genesenen Personen Restrisiken einer Infektion ausgehen könnten, erscheine es gerechtfertigt, dass sie die gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen mittrügen, um den großen Mehrwert für die Gesundheit aller zu ermöglichen, der sich durch die gemeinsame Umsetzung der Maßnahmen ergebe (BR-Drs. 347/21 S. 12). Diese Erwägungen können auch zur Rechtfertigung der angegriffenen landesrechtlichen Vorschriften herangezogen werden. Dabei kann offenbleiben, ob den Bestimmungen des § 1 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 SchAusnahmV sogar, wie die Bayerische Staatsregierung annimmt, ungeachtet der Öffnungsklausel in § 11 Satz 1 SchAusnahmV eine Sperrwirkung dahingehend zu entnehmen ist, dass insoweit für Geimpfte und Genesene keine landesrechtlichen Erleichterungen zugelassen werden können (vgl. auch BVerfG vom 7.6.2021 – 1 BvR 1260/21 – juris Rn. 7 f.).
c) Da die für Geimpfte und Genesene geltenden Bestimmungen der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung auf den Vorschriften des § 1 a in der zuletzt geltenden Fassung der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung aufbauen, die laut der amtlichen Begründung ihrerseits auf der erwähnten Einschätzung des Robert Koch-Instituts und den dazu ergangenen bundesrechtlichen Regelungen beruhen (BayMBl 2021 Nr. 308 S. 4), kann davon ausgegangen werden, dass sich der Verordnungsgeber diese Begründung auch in der aktuell geltenden Fassung zu eigen gemacht hat. Von einem Begründungsmangel, wie ihn der Antragsteller gerügt hat, kann demnach keine Rede sein.
d) Auch die weiteren Einwände gegen die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften greifen ersichtlich nicht durch. Der deutliche Rückgang der Infektionszahlen in den letzten Wochen und die damit korrespondierende geringere Zahl stationär behandelter COVID-19-Patienten, die neben anderen Faktoren wesentlich auf die sich fortlaufend erhöhende Impfquote zurückzuführen sein dürften, zwingen den Verordnungsgeber nicht dazu, die bereits geimpften oder genesenen Personen von jeder Mitwirkung bei der weiteren Eindämmung des Infektionsgeschehens zu befreien. Der bisherige Stand von 50,6% mindestens einmal und 34,5% vollständig geimpften Personen in Bayern (www.rki.de/DE/Content/ InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Impfquoten-Tab.html, Stand 26. Juni 2021) erlaubt auch nicht, von einer bereits erreichten Herdenimmunität zu sprechen, die zu einer nachhaltigen Unterbrechung künftiger Infektionsketten führen würde.
Dass den Angehörigen der besonders gefährdeten Gruppen mittlerweile fast durchgehend ein Impfangebot gemacht wurde und daher insoweit nur noch ein statistisch stark verringertes Risiko einer schweren Erkrankung oder des Todes besteht, hindert den Verordnungsgeber schon angesichts der mit den neu aufgetretenen Virusvarianten verbundenen Gefahren nicht daran, auch in Zeiten niedriger Inzidenzwerte an allgemeinen, den Einzelnen wenig belastenden Vorsorgemaßnahmen festzuhalten, die eine Übertragung des Virus zumindest erschweren. Ob in anderen Bundesländern für Geimpfte und Genesene weitergehende Ausnahmen und Befreiungen von Schutzmaßnahmen vorgesehen sind als in Bayern, ist dabei entgegen der Auffassung des Antragstellers auch unter Gleichheitsgesichtspunkten (Art. 118 Abs. 1 BV) nicht von Bedeutung, da sich der Gleichheitssatz immer nur an denselben Normgeber richten kann (vgl. VerfGH vom 25.2.2013 VerfGHE 66, 6 Rn. 80; vom 16.1.2018 BayVBl 2018, 483 Rn. 29 m. w. N.).
2. Selbst wenn man von offenen Erfolgsaussichten ausginge, überwögen bei der dann gebotenen Folgenabwägung die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe, zumal von der Befugnis, den Vollzug einer in Kraft getretenen Norm auszusetzen, wegen des erheblichen Eingriffs in die Gestaltungsfreiheit des Normgebers nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch zu machen ist (vgl. zu Folgenabwägungen im Zusammenhang mit „Coronamaßnahmen“ VerfGH vom 22.3.2021 – Vf. 23-VII-21 – juris Rn. 48 m. w. N.). Dies gilt aus den vorgenannten Gründen auch in Ansehung des aktuell deutlich abgeschwächten Infektionsgeschehens und der zunehmenden Zahl geimpfter und genesener Personen.
IV.
Es ist angemessen, dem Antragsteller eine Gebühr von 1.500 € aufzuerlegen (Art. 27 Abs. 1 Satz 2 VfGHG).


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