Medizinrecht

Erstattungsanspruch des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers für Aufwendungen einer selbstbeschafften Hilfemaßnahme

Aktenzeichen  12 BV 16.2545

Datum:
30.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 17338
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 34, § 36a, § 41
SGB IX a.F. § 14
SGB IX § 14, § 16
SGB X § 111, § 113

 

Leitsatz

1. Zu den “Aufwendungen” i.S.v. § 14 Abs. 4 S. 1 SGB IX a.F. rechnen alle Individualkosten des Einzelfalls. Erstattungsleistungen nach § 36a Abs. 3 SGB VIII treten insoweit als Surrogat an die Stelle der eigentlichen Leistungspflicht. (Rn. 38) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Soweit § 14 Abs. 4 SGB IX darauf abstellt, dass die Feststellung der anderweitigen Zuständigkeit erst nach der Bewilligung der Leistung erfolgt, kommt diesem Umstand keine eigenständige Bedeutung zu. Da der zweitangegangene Rehabilitationsträger ungeachtet seiner tatsächlichen Zuständigkeit zur Leistung verpflichtet ist, kann es keinen Unterschied machen, ob die Feststellung seiner Unzuständigkeit im Innenverhältnis vor oder nach der Leistungsbewilligung erfolgt; dem Rehabilitationsträger, dem seine Zuständigkeit durch die rechtzeitige Weiterleitung des Antrags aufgedrängt wird, darf ein Erstattungsanspruch nicht versagt werden, auch wenn er seine Unzuständigkeit bereits vor der Leistungserbringung erkannt hat. (Rn. 41) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. § 14 SGB IX a.F. zielt darauf ab, im Interesse behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten Nachteilen des gegliederten Sozialsystems entgegen zu wirken. Streitigkeiten über die Zuständigkeitsfrage einschließlich der vorläufigen Leistungserbringung bei ungeklärter Zuständigkeit sollen nach den Vorgaben von § 14 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX a.F. nicht zulasten der behinderten Menschen gehen. (Rn. 42) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Obligatorisches Gegenstück der schnellen und strikten Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis unter Beibehaltung des gegliederten Sozialsystems ist ein umfassender Ausgleichsmechanismus, der verhindert, dass Zufälligkeiten und Entlastungsstrategien im Zusammenhang mit der Zuständigkeitsordnung des § 14 SGB IX a.F. zu einer nicht der Intention des Gesetzgebers entsprechenden Lastenverschiebung zwischen den einzelnen Rehabilitationsträgern führen. Nicht im Verhältnis zum behinderten Menschen, sondern vielmehr im Erstattungsverhältnis der Rehabilitationsträger untereinander wird dem gegliederten Sozialsystem Rechnung getragen. (Rn. 45) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Ein Erstattungsanspruch des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers scheidet nicht deshalb aus, weil er nicht hinreichend “schutzwürdig” ist; Anhaltspunkte, dass nur derjenige Rehabilitationsträger einen Erstattungsanspruch besitzt, der seinerseits “unverzüglich” bzw. ohne “pflichtwidrige Verzögerung” die Leistung an den Hilfebedürftigen erbringt, bietet das Gesetz nicht. Denn allein der Umstand, dass der erstangegangene Leistungsträger einen Antrag weiterleitet, führt nicht automatisch dazu, dass der zweitangegangene Träger ohne Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen die beantragte Hilfeleistung zu gewähren hat; ihm obliegt vielmehr die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des einschlägigen Leistungsgesetzes. (Rn. 48 – 49) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

AN 6 K 15.1197 2016-10-20 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte über die Berufung des Beklagten nach §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da alle Verfahrensbeteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt hatten.
Die zulässige Berufung erweist sich als unbegründet, da dem Kläger der geltend gemachte Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der bis einschließlich 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (im Nachfolgenden SGB IX a.F.) zusteht. Danach erstattet derjenige Rehabilitationsträger, der für die Erbringung einer Leistung zuständig ist, demjenigen Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften, wenn nach „Bewilligung der Leistung“ nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX a.F. festgestellt wird, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist.
1. Insoweit sind zunächst dem Kläger als zweitangegangenem Rehabilitationsträger der Höhe nach unstreitig „Aufwendungen“ gegenüber der Hilfebedürftigen S. H. entstanden. Zwar hat er die von S. H. beantragte Leistung, nämlich die Übernahme der Kosten für die vollstationäre Unterbringung bei T. C. in H. aufgrund des Obsiegens im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zunächst abgelehnt und wurde er erst im Hauptsacheverfahren zur Erstattung der durch die Unterbringung von S. H. bei T. C. angefallenen Kosten auf der Grundlage von § 36a Abs. 3 SGB VIII verurteilt. „Aufwendungen“ im Sinne von § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. sind jedoch alle Individualkosten des Einzelfalls (Luik in jurisPK SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 14 Rn. 121). Die Erstattungsleistungen nach § 36a Abs. 3 SGB VIII treten insoweit als „Surrogat“ an die Stelle der eigentlichen Leistungspflicht (Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 7. Aufl. 2018, § 36a Rn. 23). Der Anwendungsbereich der gegenüber den Vorschriften der §§ 102 ff. SGB X für den zweitangegangenen Leistungsträger spezielleren Erstattungsvorschrift des § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX (vgl. Luik in jurisPK SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 14 Rn. 119; Joussen in Dau/Düwell/Joussen, Sozialgesetzbuch IX, 4. Aufl. 2014, § 14 Rn. 22; Götze in Hauck/Noftz, SGB IX, Stand Dezember 2012, § 14 Rn. 25, 27; BSG, U.v. 26.6.2007 – B 1 KR 34/06 R – BSGE 98, 267 = BeckRS 2007, 46154 Rn. 18) ist damit grundsätzlich eröffnet.
Darüber hinaus ist es zwischen den Verfahrensbeteiligten unstreitig und wird vom Beklagten auch ausdrücklich zugestanden, dass er für die Erbringung von Leistungen nach §§ 35a, 34, 41 SGB VIII an S. H. im vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum zwischen der Antragstellung am 5. Juli 2010 und dem 30. September 2013 örtlich zuständig gewesen wäre.
2. Auch soweit § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX verlangt, dass „nach Bewilligung der Leistung“ durch den zweitangegangenen Rehabilitationsträger „festgestellt“ wird, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm entgegen der Auffassung des Beklagten vor. Zwar hat der Kläger im vorliegenden Fall – gestützt auf die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Kassel und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs – mangels Glaubhaftmachung der Anspruchsvoraussetzungen der begehrten Hilfeleistung deren „Bewilligung“ mit Bescheid vom 27. März 2012 abgelehnt. Dies schließt indes den Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. nicht aus.
Denn soweit der Wortlaut der Vorschrift vorsieht, dass die Feststellung der anderweitigen Zuständigkeit erst nach der Bewilligung der Leistung erfolgen soll, kann dieser Formulierung keine eigenständige Bedeutung zukommen. Da der zweitangegangene Rehabilitationsträger unabhängig von der Frage, ob er für die zu gewährende Leistung tatsächlich nach den Leistungsgesetzen zuständig wäre, zur Leistung verpflichtet ist, kann es keinen Unterschied machen, ob die Feststellung seiner Unzuständigkeit im Innenverhältnis vor oder nach der Leistungsbewilligung erfolgt. Es wäre nicht nachvollziehbar, dem Rehabilitationsträger, dem eine Leistungszuständigkeit durch die rechtzeitige Weiterleitung des Antrags an ihn aufgedrängt wird, einen Erstattungsanspruch zu versagen, wenn er seine Unzuständigkeit bereits vor der Leistungserbringung erkannt hat. Die gesetzliche Formulierung ist mithin ungenau und verfehlt, weil der zweitangegangene Leistungsträger ohne Rücksicht auf die eigentliche Zuständigkeit die Leistung erbringen muss (BSG, U.v. 25.4.2013 – B 8 SO 12/12 R – BeckRS 2013, 70866 Rn. 10; vgl. auch Grauthoff in Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, 4. Aufl. 2015, § 14 Rn. 24). Demzufolge kommt es auf den Umstand, dass im vorliegenden Fall gerade keine „Bewilligung“ der Leistung durch den Kläger erfolgte, nicht maßgeblich an. Vielmehr besteht ein Erstattungsanspruch auch dann, wenn die Unzuständigkeit des leistenden Trägers bereits vor Anfang an festgestanden hat.
3. Entgegen der Auffassung des Beklagten steht einem Erstattungsanspruch des Klägers auch die gesetzgeberische Intention der Regelung in § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. nicht entgegen. Wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. BayVGH, U.v. 7.10.2013 – 12 B 11.1886 – BeckRS 2013, 57178 Rn. 21 ff. mit weiteren Nachweisen aus Literatur und Rechtsprechung) zielt § 14 SGB IX a.F. zwar in erster Linie darauf ab, zwischen den betroffenen behinderten Menschen und etwaigen Rehabilitationsträgern die Zuständigkeit für eine bestimmte Hilfeleistung schnell und dauerhaft zu klären. Die Vorschrift trägt damit dem Bedürfnis Rechnung, im Interesse behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten Nachteilen des gegliederten Sozialsystems entgegen zu wirken. Streitigkeiten über die Zuständigkeitsfrage einschließlich der vorläufigen Leistungserbringung bei ungeklärter Zuständigkeit sollen nach den Vorgaben von § 14 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX a.F. nicht zulasten der behinderten Menschen gehen. Vielmehr haben sowohl der erstwie der zweitangegangene Rehabilitationsträger unverzüglich die Leistungspflicht festzustellen und bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen die Hilfeleistung zu erbringen.
Bliebe es dagegen im Innenverhältnis der Rehabilitationsträger untereinander bei der von § 14 Abs. 1, Abs. 2 SGB IX a.F. vorgezeichneten Zuständigkeitsverteilung und wäre die dort geregelte Zuständigkeitsverteilung auch dafür maßgeblich, wer letztlich die Lasten der Rehabilitation zu tragen hat, erwiesen sich die bisher geltenden Zuständigkeitsnormen außerhalb des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch als im Wesentlichen obsolet. Die damit einhergehende Lastenverschiebung ohne Ausgleich würde die Grundlagen des gegliederten Sozialsystems in Frage stellen.
Notwendiges Korrelat der schnellen und strikten Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis zum Hilfebedürftigen unter Beibehaltung des gegliederten Sozialsystems ist deshalb ein umfassender Ausgleichsmechanismus, der sicherstellt, dass der Rehabilitationsträger seine Zuständigkeit im Rahmen von § 14 SGB IX a.F. bejahen kann, ohne allein deshalb verpflichtet zu sein, im Verhältnis zu anderen Rehabilitationsträgern diese Lasten endgültig tragen zu müssen. Letzteres hat der Gesetzgeber mit Einführung von § 14 SGB IX a.F. nicht bezweckt. Die Zuständigkeit der einzelnen Zweige der sozialen Sicherheit soll vielmehr für Rehabilitationsleistungen grundsätzlich unberührt bleiben.
Obligatorisches Gegenstück der schnellen und strikten Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis unter Beibehaltung des gegliederten Sozialsystems ist deshalb ein umfassender Ausgleichsmechanismus, der verhindert, dass Zufälligkeiten und Entlastungsstrategien im Zusammenhang mit der Zuständigkeitsordnung des § 14 SGB IX zu einer nicht der Intention des Gesetzgebers entsprechenden Lastenverschiebung zwischen den einzelnen Rehabilitationsträgern führen. Nicht im Verhältnis zum behinderten Menschen, sondern vielmehr im Erstattungsverhältnis der Rehabilitationsträger untereinander wird dem gegliederten Sozialsystem Rechnung getragen.
Demzufolge trägt § 14 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB IX a.F. der Sondersituation des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers Rechnung, indem er für ihn einen speziellen Erstattungsanspruch begründet. Demgegenüber steht dem erstangegangenen Rehabilitationsträger ein vergleichbar privilegierter Erstattungsanspruch nicht zu, da er anders als der zweitangegangenen Träger nicht in gleicher Weise schutzwürdig ist. Denn der erstangegangene Träger ist nicht einer „aufgedrängten“ Zuständigkeit aus § 14 Abs. 1, 2 SGB IX a.F. ausgesetzt, der er sich nicht entziehen kann. Er kann seine Zuständigkeit vielmehr prüfen und verneinen. Hat der erstangegangene Träger seine Zuständigkeit verneint und leistet er, obwohl nach dem Ergebnis seiner Prüfung ein anderer Rehabilitationsträger zuständig ist, kann er indes nach § 14 Abs. 4 Satz 3 SGB IX a.F. keine Erstattung beanspruchen, weil er zielgerichtet in fremde Zuständigkeiten eingreift und er zugleich das Weiterleitungsgebot des § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX missachtet. Entgegen der Auffassung des Beklagten lässt sich daher die Regelung des Verlustes des Erstattungsanspruchs des erstangegangenen Rehabilitationsträgers nach § 14 Abs. 4 Satz 3 SGB IX a.F. nicht auf den zweitangegangenen Rehabilitationsträger im Rahmen von § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. übertragen.
Es liegt daher in der vom Gesetzgeber mit § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. verfolgten Intention, als notwendiges Gegenstück zur schnellen Zuständigkeitsklärung die Zuständigkeitsordnung des gegliederten Sozialsystems durch Zubilligung eines entsprechenden Erstattungsanspruchs des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers sicherzustellen. Diesen Aspekt des Regelungssystems blendet der Beklagte indes im Rahmen seiner Berufung vollständig aus. Entgegen seiner Auffassung zielt der Gesetzgeber mit § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. gerade darauf ab, dass die Lasten einer Rehabilitationsmaßnahme nach Durchführung eines Erstattungsverfahrens im Ergebnis auch beim zuständigen Sozialleistungsträgers verbleiben.
4. Entgegen der Auffassung des Beklagten scheidet ein Erstattungsanspruch des Klägers aus § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX auch nicht deshalb aus, weil der Kläger nicht „schutzwürdig“ ist. Anhaltspunkte dafür, dass nur derjenige zweitangegangene Rehabilitationsträger gegen den zuständigen Leistungsträger einen Erstattungsanspruch besitzt, der seinerseits „unverzüglich“ bzw. ohne „pflichtwidrige Verzögerung“ die Leistung an den Hilfebedürftigen erbracht hat, bietet das Gesetz nicht. Es lässt sich, wie bereits dargestellt, auch nicht mit einer entsprechenden Absicht des Gesetzgebers begründen, da dieser seinem Regelungskonzept neben der schnellen Hilfeleistung auch und gerade die Beibehaltung des gegliederten Sozialleistungssystems durch Gewährung von Erstattungsansprüchen zugrunde gelegt hat.
Im Übrigen übersieht der Beklagte, dass es bei der vorliegenden Fallkonstellation an einer „Pflichtwidrigkeit“ der unterlassenen Leistungserbringung augenscheinlich mangelt. Denn allein der Umstand, dass der erstangegangene Leistungsträger einen Antrag weiterleitet, führt nicht automatisch dazu, dass der zweitangegangene Träger ohne Prüfung des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen die beantragte Hilfeleistung unverzüglich zu gewähren hat. Vielmehr obliegt es dem zweitangegangenen Träger, das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nach dem jeweils maßgeblichen Leistungsgesetz zu prüfen. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der beantragten Hilfeleistung nicht vor, hat auch der zweitangegangene Träger den Leistungsantrag abzulehnen. Im vorliegenden Fall hat der Kläger als zweitangegangener Träger die Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten der vollstationären Unterbringung von S. H. bei T. C. nach §§ 35a, 34, 41 SGB VIII nicht für gegeben erachtet, nachdem ein vorläufiger Rechtsschutzantrag von S. H. vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof abgelehnt worden war. Inwieweit angesichts dessen in der Antragsablehnung durch den Kläger eine „Pflichtwidrigkeit“ liegen soll, die im Hinblick auf einen Erstattungsanspruch zur mangelnden „Schutzwürdigkeit“ des Klägers führen soll, erschließt sich dem Senat nicht. Profitiert der (eigentlich) zuständige Leistungsträger mit Blick auf ein Erstattungsverfahren zunächst davon, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger im Rahmen der ihm „aufgedrängten“ Zuständigkeit das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des maßgeblichen Leistungsgesetzes prüft und gegebenenfalls die Leistungserbringung ablehnt, muss er für den Fall, dass sich im Nachhinein die Leistungsablehnung als ungerechtfertigt herausstellt, auch die vom zweitangegangenen Träger geleisteten Aufwendungen für eine vom Hilfebedürftigen selbstbeschaffte Maßnahme im Rahmen des Erstattungsverfahrens übernehmen. Anhaltspunkte für einen Ausschluss des Erstattungsanspruchs aus § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. aufgrund mangelnder „Schutzwürdigkeit“ des Klägers bestehen daher im vorliegenden Fall nicht.
5. Soweit nunmehr das Bundesteilhabegesetz (Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – Bundesteilhabegesetz – vom 23.12.2016, BGBl I, 3234) mit Wirkung vom 1. Januar 2018 die §§ 14 ff. SGB IX neu gefasst hat, lässt auch die Neuregelung den Schluss zu, dass im Falle einer vom Hilfebedürftigen selbstbeschafften Hilfeleistung der „leistende“ Sozialleistungsträger gegen den eigentlich zuständigen Leistungsträger einen Erstattungsanspruch besitzen soll. So bestimmt § 16 Abs. 5 Satz 1 SGB IX n.F., dass der leistende Rehabilitationsträger, der in den Fällen des § 18 SGB IX n.F. Aufwendungen für selbstbeschaffte Leistungen nach dem Leistungsgesetz eines nach § 15 beteiligten Rehabilitationsträgers zu erstatten hat, von dem beteiligten Rehabilitationsträger einen Ausgleich verlangen kann, soweit dieser durch die Erstattung nach § 18 Abs. 4 Satz 2 SGB IX n.F. von seiner Leistungspflicht befreit wurde. Beabsichtigt ist mit dieser Regelung „im Innenverhältnis der beteiligten Träger (…) eine angemessene Verteilung des jeweiligen Risikos“ (Joussen in Dau/Düwell/Joussen, Sozialgesetzbuch IX, 5. Aufl. 2019, § 16 Rn. 11). Führt die Selbstbeschaffung der Leistung durch den Hilfebedürftigen infolge der nicht rechtzeitigen Hilfeerbringung durch den zweitangegangenen Leistungsträger zu einem Ersatzanspruch des Hilfebedürftigen, kann dieser nach der Neuregelung gegenüber dem (eigentlich) zuständigen Leistungsträger einen Erstattungsanspruch geltend machen.
6. Der Kläger hat im Übrigen den Erstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten auch innerhalb der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X, die auch auf Erstattungsansprüche nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a. F. Anwendung findet, geltend gemacht. Nach der genannten Norm ist der Erstattungsanspruch dann ausgeschlossen, wenn „der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde“, geltend macht. Während das Bundessozialgericht bei monatlich wiederkehrenden Leistungen den Beginn der Ausschlussfrist jeweils monatsbezogen bestimmt, stellt das Bundesverwaltungsgericht für Jugendhilfeleistungen demgegenüber auf die jeweilige Gesamtleistung ab (vgl. BVerwG, U.v. 19.8.2010 – 5 C 14.09 – BVerwGE 137, 368 Ls. 2; U.v. 17.12.2015 – 5 C 9.15 – BVerwGE 154, 1 Ls. 2). Damit fällt der Fristbeginn der Ausschlussfrist vorliegend frühestens auf den 1. Oktober 2013. Erstmals hat der Kläger gegenüber dem Beklagten jedoch bereits am 19. Dezember 2013 einen Erstattungsanspruch geltend gemacht. Die Ausschlussfrist ist damit gewahrt.
7. Auf die vom Verwaltungsgericht angesprochene Frage, ob der Erstattungsanspruch möglicherweise nach § 113 Abs. 1 Satz 1 SGB X verjährt ist, kommt es vorliegend nicht entscheidungserheblich an, da – soweit aus den vorliegenden Akten ersichtlich – der Beklagte die Einrede der Verjährung nicht erhoben hat und sie auch nicht von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Art. 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BayAGBGB, wonach auf Geldzahlungen gerichtete öffentlich-rechtliche Ansprüche gegen einen bayerischen Gemeindeverband in drei Jahren erlöschen, kommt aufgrund der insoweit vorrangigen Regelung des § 113 Abs. 1 SGB X vorliegend nicht zur Anwendung (vgl. BayVGH, B.v. 31.5.2019 – 12 ZB 14.1513 – BeckRS 2019, 12014 Rn. 44).
Demzufolge steht dem Kläger der geltend gemachte Erstattungsanspruch in – unstrittiger – Höhe von 94.213,33 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu. Hinsichtlich der Berechtigung der geltend gemachten Prozesszinsen wird auf die Gründe der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung verwiesen.
8. Der Beklagte trägt nach § 154 Abs. 2 VwGO die Kosten des Berufungsverfahrens.
9. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.


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