Medizinrecht

Keine Kürzung der Behandlungspflege bei Beatmungsbedürftigkeit 24h/Tag

Aktenzeichen  S 15 KR 1383/15

Datum:
14.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V SGB V § 37
SGB XI SGB XI § 13

 

Leitsatz

Ist Beatmungspflegebedürftigkeit jedenfalls durch Präsenz einer speziell geschulten Pflegeperson medizinisch 24h/Tag notwendig, darf der Anspruch nach dem SGB V auf Behandlungspflege rund um die Uhr nicht um Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung nach dem SGB XI gekürzt werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 23.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.09.2015 verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis zum 31.12.2015 Leistungen der häuslichen Behandlungspflege entsprechend der Verordnung des Arztes Dr. C. vom 21.05.2015 im Umfang von 24 Stunden täglich an sieben Tagen in der Woche zu gewähren und den Kläger von den dadurch entstandenen Kosten freizustellen.
II.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Gründe

Die zulässige Klage ist auch begründet. Die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und beschweren den Kläger im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Kläger hat einen Anspruch auf Behandlungspflege im Umfang von 24 Stunden täglich für den streitigen Zeitraum und einen Anspruch auf Freistellung gegen die Beklagte im Hinblick auf durch die Behandlungspflege entstandene Kosten in vollem Umfang.
1.
Der Bescheid vom 24.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.09.2015 ist bereits formell rechtswidrig, da er inhaltlich nicht hinreichend bestimmt ist und damit gegen § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) verstößt.
Aus dem Verfügungssatz eines Bescheides muss für die Beteiligten vollständig, klar und unzweideutig erkennbar sein, was die Behörde will. Sie müssen ihr Verhalten danach ausrichten können. Zur Auslegung des Verfügungssatzes kann auf die Begründung des Verwaltungsaktes zurückgegriffen werden. Abzustellen ist auf die Erkenntnismöglichkeit eines verständigen, objektiven Erklärungsempfängers. Ein Verwaltungsakt ist hinreichend bestimmt, wenn für den verständigen Beteiligten der Wille der Behörde unzweideutig erkennbar wird und eine unterschiedliche subjektive Bewertung nicht möglich ist (von Wulffen, SGB X, § 33 Rn. 3).
Nach dem Verfügungssatz des Bescheides vom 24.06.2015 werden die Kosten der beantragten Maßnahmen der Behandlungspflege für die Zeit vom 01.07.2015 bis 31.12.2015 für bis zu 24 Stunden täglich übernommen. Die gewählte Formulierung „bis zu“ ist bereits unbestimmt, so dass für den Kläger nicht klar wird, in welchem Umfang nunmehr Kosten tatsächlich übernommen werden, d. h. ob und inwieweit der grundsätzlich bewilligte Anspruch auf Kostenübernahme von 24 Stunden-Behandlungspflege eingeschränkt wird. In den Gründen findet sich dann ein Verweis auf das BSG-Urteil vom 17.06.2010. Anschließend wird ausgeführt:
„Aufgrund des oben genannten Urteils des Bundessozialgerichtes ergibt sich im Detail ein Gesamtabzug vom Umfang der häuslichen Pflege pro Tag in Höhe von 170 Minuten für Leistungen nach SGB XI.“
Unklar bleibt trotz der Darstellung in den Gründen, ob jetzt der im Verfügungssatz tenorierte Anspruch auf Kostenübernahme für Behandlungspflege nurmehr für einen Umfang von 24 h (= 1.440 Minuten) minus 170 Minuten, d. h. für 1.270 Minuten oder 21 Stunden und 10 Minuten gilt. Sollte dies gemeint sein, so ist nicht verständlich, weshalb die Beklagte dies so nicht verfügte und nicht eindeutig bestimmt wird, dass für einen Zeitraum von 170 Minuten die Kosten der Behandlungspflege von der Pflegekasse bzw. vom Kläger selbst getragen werden müssen. Gegen diese Auslegung des Verfügungssatzes spricht aber, dass gem. den Ausführungen in den Gründen des Bescheids 170 Minuten vom Umfang der häuslichen Pflege abgezogen werden sollen. Hiermit wird demnach nicht der Kostenübernahmeanspruch eingegrenzt, sondern der Sachleistungsanspruch auf Pflege, wobei hier weiter unklar bleibt, ob mit dem Terminus der „häuslichen Pflege“ konkret der Anspruch auf Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 SGB V gemeint ist.
Demgemäß ist der Bescheid trotz der Konkretisierungen in den Gründen unklar. Der Wille der Beklagten wird nicht unzweideutig erkennbar.
Auch der Widerspruchsbescheid führt nicht zu einer Klarstellung, sondern verwirrt weiter durch widersprüchliche Aussagen. Im Widerspruchsbescheid wird einerseits ausgeführt, dass mit dem angegriffenen Bescheid vom 23.06.2015 die beantragte 24-Stunden-Behandlungspflege inklusive Wechsel der Trachealkanülen für den streitigen Zeitraum bewilligt wird (so dass eigentlich dem klägerischen Begehren vollumfänglich entsprochen wäre). Andererseits wird zum Ausdruck gebracht, dass eine Übernahme der Kosten für die verordnete 24-stündige Behandlungspflege durch die Beklagte ab dem 01.07.2015 nicht mehr erfolgen würde. Schließlich wird wiederum einschränkend dargelegt, dass die Beklagte für den streitigen Zeitraum die Kosten der verordneten 24-stündigen Behandlungspflege nach § 37 SGB V unter Berücksichtigung des BSG-Urteils vom 17.06.2010 übernehmen würde. Für den Empfänger bleibt daher unklar, ob Kosten nunmehr voll, gar nicht oder eingeschränkt übernommen werden. Unklar bleibt auch, in welcher konkreten Höhe Kosten nicht getragen werden sollen.
2.
Der Bescheid ist auch materiell rechtswidrig.
Der Bescheid verstößt bereits gegen das im Krankenversicherungsrecht geltende Sachleistungsprinzip. Nach § 2 Abs. 2 S. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) erhalten die in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten die Leistungen der Krankenversicherung als Sach- und Dienstleistungen, soweit nicht das Sozialgesetzbuch Fünftes Buch oder Neuntes Buch (SGB IX) etwas anderes vorsehen. Die Versicherten erhalten die Leistungen also in Natur und damit grds. kostenfrei, vorfinanzierungs- und risikolos (vgl. BVerfGE 11, 30, 31 = SozR Nr. 6 zu § 63 SGG = NJW 1960, 981; BSGE 73, 271, 274 f. = SozR 3-2500 § 13 Nr. 4 = NZS 1994, 507, 511 = USK 93126). Hintergrund des Sachleistungsprinzips ist es, das den auch wirtschaftlich schwachen Personen unmittelbar Leistungen der Krankenbehandlung zugute kommen sollen, ohne zunächst in Vorleistung treten zu müssen und dann auf die Kostenerstattung angewiesen zu sein. Die gesetzliche Krankenversicherung ist als Vollversicherung angelegt.
Soweit der Anspruch auf Sachleistungen besteht, entstehen dem Versicherten (abgesehen von den gesetzlich vorgesehenen Fällen der Zuzahlungen) keine Kosten für diese Leistungen. In den Fällen der medizinischen Notwendigkeit einer Versorgung mit häuslicher Krankenpflege rund um die Uhr besteht vorbehaltlich der – hier nicht greifenden – Einschränkung von § 37 Abs. 3 SGB V ein vollumfänglicher Leistungsanspruch des Versicherten gegen die gesetzliche Krankenversicherung, der in seiner Höhe unbegrenzt ist (Luthe in: Hauck/Noftz, SGB V, 02/15, § 37 SGB V, Rn. 96).
Das Sachleistungsprinzip wird nur aufgrund gesetzlicher Anordnung eingeschränkt. Eine solche Einschränkung sieht das SGB V oder SGB IX – mit Ausnahme der vorliegend nicht einschlägigen Zuzahlungsregelung von § 37 Abs. 5 SGB V – jedoch nicht vor. Die Beklagte hat dem Kläger daher gemäß der ärztlichen Verordnung 24 Stunden-Behandlungspflege als Sachleistung zu gewähren.
Der Verfügungssatz der Beklagten im angegriffenen Bescheid verstößt gegen § 2 Abs. 2 SGB V. Die Beklagte gewährte dem Kläger nicht die Sachleistung selbst, sondern die Kostenübernahme einer Sachleistung. Sie geht damit entgegen der oben dargestellten gesetzlichen Intention von einer Vor- bzw. Mitfinanzierungspflicht des Klägers aus. Dies ist rechtsfehlerhaft, da es dem unbegrenzten Anspruch aus § 37 Abs. 2 SGB V widerspricht.
Auch eine mit dem Sachleistungsprinzip konforme Formulierung des Verfügungssatzes in dem Sinne, dass die Beklagte dem Kläger 21 Stunden und 10 Minuten Behandlungspflege für den streitigen Zeitraum bewilligt hätte, wäre rechtlich zu beanstanden. Im Gegensatz zu § 37 Abs. 1 SGB V ist eine zeitliche Beschränkung im Rahmen der Behandlungspflege nicht vorgesehen. Eine solche Verfügung würde auch verfassungsrechtliche Schutzrechte berühren.
Verfassungsrechtlich ist geklärt, dass Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung und seiner fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung im Einzelfall auch die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) sind. Zwar folgt aus diesen Grundrechten regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen. Die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich jedoch an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. Insofern können diese Grundrechte in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten (BVerfG, Beschluss vom 26.02.2013, 1 BvR 2045/12).
Eine Einschränkung des gesetzlich unbeschränkten Anspruchs auf Behandlungspflege mittels Richterrechts würde den oben genannten Verfassungsprinzipien evident widersprechen, da das Grundrecht des Klägers auf Leben unmittelbar berührt wäre. Eine nur 21-stündige Behandlungspflege würde im Fall des Klägers, der gem. dem MDK-Gutachten vom 24.08.2009 medizinisch auf eine 24-stündige Beobachtung der Beatmung angewiesen ist, zur Gefahr des Erstickungstods führen.
3.
Der Kläger hat einen Anspruch auf 24-stündige Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 SGB V. Dieser Anspruch kann auch nicht durch Verweis auf ein Urteil des Bundessozialgerichts eingeschränkt werden.
Nach den Feststellungen der Kammer liegt bei dem bei der Beklagten versicherten Kläger eine Krankheit vor, die eine laufende ambulante ärztliche Behandlung erfordert. Durch die verordnete Behandlungspflege wird das Ziel der laufenden ambulanten ärztlichen Behandlung gesichert. Dies ist auch zwischen den Beteiligten unstreitig.
§ 37 Abs. 2 SGB V normiert wie dargelegt einen unbeschränkten Sachleistungsanspruch. Eine Beschränkung kann nicht durch Verweis auf einen Richterspruch herbeigeführt werden, da ein solcher – auch wenn er ein höchstrichterlicher von BSG ist – nur die unmittelbar Beteiligten bindet. Gesetzeskraft haben alleine Urteile des Bundesverfassungsgerichts in den in § 31 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz normierten Fällen.
Darüber hinaus kann die Kammer dem Urteil des BSG (Urteil vom 17.06.2010, B 3 KR 7/09 R) im Hinblick auf dessen Vorschlag, die Anspruchskonkurrenz zwischen der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung zu lösen, nicht folgen. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Gesetzgeber verpflichtet, in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (z. B. BVerfGE 49, 89 = BVerfG, Beschluss vom 08.08.1978, 2 BvL 8/77, Rn. 77 juris; BVerfGE 88, 103 = BVerfG, Beschluss vom 02.03.1993, 1 BvR 1213/85, Rn. 50, juris). Der von der Beklagten im Widerspruchsbescheid dargelegte Anrechnungsmechanismus (BSG, a. a. O., Rn. 28 ff. juris) lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. § 37 Abs. 2 SGB V enthält keinerlei Begrenzungen.
Von Seiten der Rechtssätze im Bereich der Pflegeversicherung wird zudem normiert, dass der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V von den Leistungen der Pflegeversicherung unberührt bleibt (§ 13 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Elftes Buch – SGB XI). Demgemäß ist § 37 SGB V so anzuwenden, als ob es die Leistungen der Pflegeversicherung nicht gäbe (Wagner in: Hauck/Noftz, SGB, 12/05, § 13 SGB XI, Rn. 24). Gegen diesen Grundsatz wird mit der dargelegten Rechtsprechung aber verstoßen, da die Leistungen der Pflegeversicherung im Ergebnis gegengerechnet werden, wenn auch begrenzt auf bestimmte Leistungen und nur zur Hälfte der Zeit.
Der Anrechnungsmechanismus widerspricht auch den vom BSG selbst dargelegten Prinzipien. Das BSG führt zutreffend aus, dass der Gesetzgeber durch mehrfache Änderungen des Gesetzes seinen Willen zum Ausdruck gebracht habe, den Anspruch auf häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V durch den gleichzeitigen Bezug von Leistungen nach dem SGB XI grundsätzlich nicht einschränken zu lassen und dafür im Einzelfall auch Doppelansprüche bzw. Doppelzuständigkeiten in Kauf zu nehmen (BSG, a. a. O., Rn. 18, juris). Es wurde weiter auf die Unbegrenztheit des maßgeblichen Anspruchs nach § 37 Abs. 2 SGB V hingewiesen (BSG, a. a. O., Rn. 22, juris), der auch durch eine gleichzeitige Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XI nicht geschmälert werden solle (BSG, a. a. O., Rn. 24, juris). Eine solche Schmälerung würde aber durch den vorgeschlagenen Mechanismus bewirkt.
Es wurde seitens des BSG nicht mehr weiter auf die selbst festgestellte Problematik der Schlechterstellung der Versicherten (wie vorliegend der Kläger), deren Anspruch aus § 37 Abs. 2 SGB V bei gleichzeitiger Durchführung von Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI durch dieselbe Pflegekraft eingeschränkt wird, gegenüber jenen Versicherten, die nur die häusliche Krankenpflege rund um die Uhr als Sachleistung in Anspruch nehmen und die Grundpflege sowie die hauswirtschaftliche Versorgung durch Angehörige erledigen lassen, eingegangen. Denn in letzterem Fall ist der in der Höhe ungeschmälerte Anspruch auf Behandlungspflege nach der zitierten Rechtsprechung voll zu erfüllen, wobei trotzdem den Versicherten das volle Pflegegeld nach § 37 SGB XI zustehen würde. Aus welchen sachlichen Gründen eine solche Schlechterstellung, die sich auch aus der vorgeschlagenen Anrechnungsmechanik in der zitierten Entscheidung des BSG ergibt, gerechtfertigt ist, wird weder dargelegt noch ist eine solche Rechtfertigung für die Kammer ersichtlich.
Gleichheitswidrig und damit ein Verstoß gegen Art. 3 GG ist nach Auffassung der Kammer auch der Umstand, dass sich die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung stärker schmälern bei größerem Pflegebedarf. Ein Versicherter, der medizinisch auf eine 24 Stunden-Behandlungspflege angewiesen ist und Pflegestufe III hat, wird hinsichtlich der Leistungen der Krankenversicherung im Bereich der häuslichen Krankenpflege schlechter gestellt als ein Versicherter, der ebenfalls der 24 Stunden-Behandlungspflege bedarf und nur Pflegestufe II hat (da ein größeres Zeitkontingent zur Hälfte bei der Behandlungspflege berücksichtigt wird). Beide Fälle sind im Hinblick auf den Bedarf an Behandlungspflege vergleichbar. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung, diese insoweit gleichen Fälle ungleich zu behandeln, ist für die Kammer nicht ersichtlich. Der größere Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung ist als Legitimation der Ungleichbehandlung im Bereich der Krankenpflege kein sachlicher Grund, da der stärker Behinderte alleine wegen seiner stärkeren Behinderung Nachteile erleidet und damit diskriminiert wird.
Die Notwendigkeit der vom BSG vorgeschlagenen Aufteilung wird mit § 37 Abs. 2 S. 6 SGB V begründet, wonach Leistungen nach den Sätzen 4 und 5 (also Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung) nach Eintritt von Pflegebedürftigkeit im Sinne des Elften Buches nicht zulässig sind. Dieses gesetzliche Verbot führt nach Auffassung der Kammer aber nicht zu der vom BSG vorgeschlagenen Kostenteilung, der Wortlaut und Systematik von §§ 3 Abs. 2 SGB V, 13 Abs. 2 SGB XI entgegenstehen und die keinen Ankerpunkt im Wortlaut der einschlägigen Vorschriften (weder im SGB V noch im SGB XI) hat. Vielmehr wird damit nur zum Ausdruck gebracht, dass die gesetzliche Krankenkasse diese Leistungen nicht schuldet und demgemäß vom Pflegedienst abgerechnete Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung nicht finanziert. Eine Kürzung der Behandlungspflege zulasten des Versicherten bzw. der Sozialhilfeträger ist damit aber nicht normiert. Denn dieser Anspruch bleibt unberührt.
In der Praxis bedeutet dies, dass die Leistungen entweder von getrennten Pflegediensten zu erbringen sind oder aber der Pflegedienst nach verrichteten Leistungen und nicht nach Zeit abrechnen muss. Im letzteren Fall kann die Krankenkasse alleine Kosten für die geschuldeten Leistungen der Behandlungspflege übernehmen; die Kosten für hauswirtschaftliche Versorgung und Grundpflege unterfallen nicht dem Leistungsregime der Krankenkasse und müssen demnach von dieser nicht übernommen werden. Diese können dann der Pflegeversicherung in Rechnung gestellt werden unter Berücksichtigung der Beschränkung der Leistungspflicht nach § 36 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI. Sofern der Pflegedienst wie vorliegend mit Einverständnis der Beklagten eine stundenweise Abrechnung vornimmt, ist eine Kürzung unzulässig, da der zeitliche Anspruch auf Behandlungspflege aus rechtlichen Gründen wie oben dargelegt nicht kürzbar ist.
Das vom BSG vorgeschlagene und von der Beklagten übernommene Modell hat in der Praxis letztlich zur Folge, dass die Pflegekasse und im Hinblick auf über dem Höchstbetrag liegende Kosten der Versicherte bzw. der Sozialhilfeträger die Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung nach den (halben) Stundensätzen der Behandlungspflege finanzieren müssen (vorliegend 19 € pro Stunde). Dies ist für diese Co-Finanziers in der Regel unwirtschaftlich, da die Ansprüche an die medizinische Behandlungspflege höher sind als an die Grundpflege und an die wirtschaftliche Versorgung, so dass hier entsprechend hohe Stundensätze wie vorliegend 38 € pro Stunde verlangt werden können, während Dienstleistungen der Grundpflege wesentlich kostengünstiger (auch unter 19 € pro Stunde) beschafft werden können. Somit wird letztlich in die Privatautonomie des Klägers eingegriffen, sich Pflegedienstleistungen nach SGB XI zu besseren Preisen einkaufen zu können.
Fraglich ist im Übrigen, ob der Bescheid auch nach den Maßstäben, die sich die Beklagte selbst auferlegt hat, in vollem Umfang rechtmäßig ist. Die Zeiten der Grundpflege werden im MDK Gutachten vom 24.08.2009 mit 113 Minuten (Körperpflege), 30 Minuten (Ernährung) sowie 107 Minuten (Mobilität) angegeben. Im Umfang von 20 Minuten ist eine verrichtungsbezogene Behandlungspflege erfasst, da das An- und Entkleiden die Prothesenversorgung im Bett und die Korsettversorgung am Tag beinhaltet. Der Zeitaufwand für die hauswirtschaftliche Versorgung wird mit 10,5 Stunden pro Woche, d. h. mit 90 Minuten pro Tag angegeben. Hieraus folgt ein Umfang der „reinen“ Grundpflege plus hauswirtschaftlicher Versorgung im Sinne der BSG-Rechtsprechung von 320 statt der kalkulierten 340 Minuten.
4.
Nach allem hatte der Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum einen ungekürzten Anspruch auf Behandlungspflege. Eine Kostenbeteiligung des Klägers ist gesetzlich nicht vorgesehen. Die Bescheide, die dies anordnen, waren daher aufzuheben und die beantragte Kostenfreistellung war unter Berücksichtigung des Sachleistungsprinzips zu gewähren (§ 13 Abs. 3 S. 1 SGB V in analoger Anwendung, vgl. BSGE 80, 181, 182).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.


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