Medizinrecht

Kostenerstattungsstreit für erbrachte Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in einer Werkstatt für behinderte Menschen

Aktenzeichen  S 20 R 617/15

Datum:
27.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 15981
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 14 Abs. 4, § 40, § 42
SGB X § 102
SGB VI § 10, § 11 Abs. 2a Nr. 2

 

Leitsatz

1 Anspruchsgrundlage eines erstangegangenen Trägers ist nicht § 14 Abs. 4 SGB IX aF (ebenso BSG BeckRS 2010, 65786). (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
2 Anspruchsnorm ist bei bekannten Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Trägern § 102 SGB X (ebenso BSG BeckRS 2010, 65786). (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
3 Für Teilhabemaßnahmen in einer Werkstatt für behinderte Menschen nach § 16 SGB VI iVm § 40 SGB IX findet, anders als in anderen Rehabilitationsbereichen der Rentenversicherung, § 10 SGB VI gerade keine Anwendung. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die für die Versicherte Frau C. im Zeitraum vom 02.09.2013 bis 28.03.2014 erbrachten Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben in Höhe von 16.626,31 € zu erstatten.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 16.626,31 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage erweist sich in vollem Umfang als begründet.
I.
Die form- und fristgerecht zum örtlich zuständigen Sozialgericht Nürnberg erhoben Klage ist zulässig.
Sie ist auch als allgemeine Leistungsklage gem. § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Beteiligten streiten um die Erstattung von berufsfördernden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer WfbM. Im Rahmen dieses Erstattungsbegehens besteht zwischen der Klägerin und der Beklagten kein Über-/Unterordnungsverhältnis, welches im Wege eines Verwaltungsaktes durchgesetzt werden könnte. Aus diesem Grunde ist die allgemeine Leistungsklage die statthafte Klageart (vgl. BSG, 01.04.1993, Az.: RK 10/92 mwN; Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer/Schmidt, SGG Kommentar, 12. Auflage, RdNr. 41).
II.
Die Klage ist in vollem Umfang begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die für erbrachten berufsfördernden Leistungen zur Teilhabe in der WfbM in Höhe der geltend gemachten 16.626,31 €.
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist zutreffende Anspruchsgrundlage eines erstangegangen Trägers nicht § 14 Abs. 4 SGB IX. Der diesbezügliche Einwand der Beklagten der fehelenden Weiterleitung trifft insoweit zu.
Auch kann sich die Klägerin nicht im Sinne der Entscheidung des BSG vom 26.06.2007 (Az.: B 1 KR 34/06 R) auf §§ 103, 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) deswegen berufen, weil ein Irrtum über die Zuständigkeit vorgelegen habe; auch insoweit folgt die Kammer der Ansicht der Beklagten, die zu Recht darauf hingewiesen hat, dass sich die Klägerin aus ihrer Sicht gerade nicht über ihre eigene Zuständigkeit geirrt habe, sondern vielmehr von der Zuständigkeit der Beklagten ausgegangen sei.
Allerdings irrt die Beklagte, wenn sie hieraus eine Weiterleitungspflicht der Klägerin ableiten will. Genau dies würde bei einem bekannten Kompetenzstreit – wie vorliegend zwischen der Klägerin und den Rentenversicherungsträgern – dem Beschleunigungszweck des § 14 SGB IX widersprechen (BSG, 02.10.2009 – Az. B 5 R 44/08 R mit weiteren Ausführungen.)
Zutreffende Anspruchsnorm sind daher weder § 14 Abs. 4 SGB IX noch die §§ 103, 104 SGB X, sondern bei bekannten Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Trägern und aufgrund dessen nicht erfolgter Weiterleitung ist dies direkt § 102 SGB X (BSG, Urteil vom 02.10.2009 – Az. B 5 R 44/08 R).
Gemäß § 102 SGB X ist der zur Leistung verpflichtete Träger erstattungspflichtig, soweit ein anderer Leistungsträger aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufige Sozialleistungen erbracht hat. Zeck des § 102 SGB X ist es danach, die aufgrund der vorläufigen Leistungszuständigkeit eingetretene, aber dem materiellen Sozialrecht an sich widersprechende Lastenverschiebung wieder rückgängig zu machen. Dem vorleistenden Träger soll der Ersatz seiner Aufwendungen gesichert werden (von Wulffen, SGB X Kommentar, 6. Auflage, § 102 RdNr. 3).
Die Klägerin hat Z Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Eingangsbereich und im Berufsbildungsbereich einer WfbM in Höhe von 16.626,31 € erbracht gem. §§ 5 Nr. 2, 6 Abs. 1 Nr. 2, 7, 14 Abs. 2, 33, 39, 40, 42 Abs. 1 Nr. 1, 136 SGB IX iVm. §§ 112ff SGB III.
Diese Leistungen sind auch vorläufig im Sinne des § 102 SGB X erfolgt: Hierbei reicht es nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 02.10.2009 – Az. B 5 R 44/08 R), dass im Lichte eines bekannten Kompetenzkonfliktes zwischen Trägern infolge des Beschleunigungsgedankens des § 14 SGB IX der erstangegangene Träger sich trotz des ihm eingeräumten Prüfungs- und Ablehnungsrechts einem Leistungszwang ausgesetzt sieht, der demjenigen des zweitangegangenen Trägers vergleichbar sei. Aufgrund des bekannten Kompetenzkonfliktes zwischen den Beteiligten und hinsichtlich des Beschleunigungsinteresses zugunsten der Z war dies vorliegend gegeben. Es würde gerade dem Beschleunigungszweck des § 14 SGB IX zuwiderlaufen, bei bekanntem Kompetenzkonflikt nur zur Erhaltung eines Erstattungsanspruches eine Weiterleitung vorzunehmen und dabei eine Verzögerung zu Lasten des Rehabilitanden in Kauf zu nehmen. Eine Pflicht zur Weiterleitung in derartigen Fällen besteht gerade nicht.
Infolge der fehlenden Weiterleitung ist die Klägerin nach § 14 Abs. 2 SGB IX im Außenverhältnis zu Z auch zuständig geworden, und zwar „vorläufig“ im Hinblick auf § 102 SGB X. Dies ergibt sich aus dem Beschleunigungsgedanken des § 14 SGB IX bzw. entsprechend § 43 SGB I. Insbesondere hat die Klägerin auch ihren Willen, nur vorläufig im Außenverhältnis zu leisten, ausdrücklich und unverzüglich der Beklagten angezeigt und zugleich den Erstattungsanspruch dem Grunde nach angemeldet.
Die Klägerin hat einen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte, weil diese – entgegen ihrer Auffassung – der für die Maßnahme nach materiellem Sozialrecht zuständige Leistungsträger ist, und zwar gem. §§ 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX i.V.m. § 11 Abs. 2a Nr. 2 SGB VI: Zum einzig hier relevanten Antragszeitpunkt hat die H. die hier streitbefangene Maßnahme der beruflichen Rehabilitation zur Sicherung des Rehabilitationserfolges der zuvor durchgeführten medizinischen Maßnahme der Rehabilitation für erforderlich erachtet.
Die von der Beklagten vorgetragene Argumentation, im Rahmen des § 11 Abs. 2a Nr. 2 SGB VI ergebe sich eine Zuständigkeit der Beklagten ausschließlich dann, wenn eine Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt voraussichtlich erfolgreich sein wird, teilt die Kammer nicht, und zwar aus folgenden Gründen:
Die von der Beklagten vertretene Auffassung bedeutet im Ergebnis eine entsprechende Anwendung der §§ 9 und 10 SGB VI in einem Kontext wie dem vorliegenden. § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX verweist aber ausdrücklich ausschließlich auf die §§ 11 bis 13 SGB VI.
Das bedeutet aus Sicht des Vorsitzenden, dass für Teilhabemaßnahmen in einer WfbM nach § 16 SGB VI i.V.m. § 40 SGB IX, anders als in anderen Rehabilitationsbereichen der Rentenversicherung, § 10 SGB VI gerade keine Anwendung findet. Demnach muss es während oder im Anschluss an eine medizinische Rehabilitation in Trägerschaft des Rentenversicherungsträgers bereits ausreichen, wenn zumindest Werkstattfähigkeit gegeben ist, was vorliegend der Fall ist, um den Rehabilitationserfolg zu sichern. Nach den Empfehlungen der H. werden zur Sicherung des Reha-Erfolges Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben empfohlen, und zwar im Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer WfbM.
Dem widerspricht aus Sicht der Kammer auch nicht der Hinweis der Beklagten, dass nach der Entscheidung des BSG vom 16.06.2015 (Az.: B 13 R 12/14 R) die Rentenversicherungsträger nur dann zu einer medizinischen Leistung der Rehabilitation verpflichtet werden können, um eine ursprünglich bestehende Werkstattfähigkeit zu erhalten oder nach zwischenzeitlicher Erkrankung wiederzuerlangen, nicht jedoch, um diese erstmals herzustellen.
Zum einen ist vorliegend die ursprünglich bestehende Werkstattfähigkeit der Z. überhaupt nicht in Frage zu stellen; die streitbefangene Maßnahme dient zum andern auch nicht der ursprünglichen Herstellung von Werkstattfähigkeit; darüber hinaus handelt es sich vorliegend wiederum nicht um eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation. Eine Übertragbarkeit der BSG-Entscheidung auf die vorliegende Konstellation ergibt sich daher aus Sicht der Kammer nicht.
Aus Sicht der Kammer geht § 42 SGB IX als speziellere Norm hinsichtlich des für den jeweiligen Träger im Bereich der WfbM-Maßnahmen anwendbaren Rechts der Auffangnorm des § 7 SGB IX vor. Ansonsten wäre die gesamte Vorschrift des § 42 SGB IX widersinnig und überflüssig.
Danach wird aber gerade nicht auf § 10 SGB VI verwiesen, sondern nur auf die §§ 11 bis 13 SGB VI. Dies wäre bei einem zu weit verstandenen § 7 SGB IX daher völlig sinnlos.
Im Übrigen ist auch nicht § 10 SGB VI bzw. dessen Grundgedanke im Sinne einer einschränkenden Auslegung des hier anwendbaren § 11 Abs. 2a Nr. 2 SGB VI heranzuziehen. Im Vergleich zu § 10 SGB VI, aber auch im Vergleich zu § 11 Abs. 1 SGB VI geht § 11 Abs. 2a als die speziellere Norm vor, so dass die Vorschriften nicht etwa kumuliert erfüllt sein müssen, sondern § 11 Abs. 2a die anderen Voraussetzungen ersetzt. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut. Es ist daher ausreichend, wenn diese für eine erfolgreiche Rehabilitation erforderlich sind, was prognostisch aufgrund der Einschätzung der H. zu bejahen ist.
Doch selbst wenn man, wie die Beklagte, eine wie auch immer geartete Anlehnung an den Gedanken des § 10 SGB VI im Sinne einer teleologisch reduzierten Auslegung des § 11 Abs. 2a Nr. 2 SGB VI annehmen würde, wonach etwa Erfolgsaussichten für eine Eingliederung des Rehabilitanden in den ersten Arbeitsmarkt zur Zuständigkeitsbegründung der Rentenversicherung erforderlich sei, wäre aus Sicht der Kammer im vorliegenden Fall dies bei Z gegeben.
Die von der H. in P. mit Schreiben vom 28.06.2013 mitgeteilten Diagnosen der Versicherten sind grundsätzlich therapierbar und damit nicht grundsätzlich einer Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt entgegenstehend, wie dies etwa im Extremfall bei von Geburt an bestehenden, nicht behebbaren Behinderungen der Fall sein könnte.
Da § 42 SGB IX grundsätzlich eine vorrangige Zuständigkeit der Rentenversicherungsträger vor der der Bundesagentur für Arbeit anordnet, trifft für das Nichteingreifen des Zuständigkeitsvorrangs die Beweislast den Rentenversicherungsträger.
Aus den vorliegenden Unterlagen sind keine Umstände erkennbar, die eine Wiedereingliederung der Z in den ersten Arbeitsmarkt in jedem Falle ausschlössen.
Im Gegenteil: Mit der Bewilligung der Maßnahme der stationären Rehabilitation hat die Beklagte selbst prognostisch eine Rehabilitierbarkeit der Z im Sinne des § 10 SGB VI bejaht. Diese positive Prognose hat sich auch nicht durch die medizinische Rehabilitationsmaßnahe selbst verschlechtert: Es ist deutlich darauf hinzuweisen, dass im Entlassungsbericht sogar für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ein quantitatives Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich gesehen worden ist. Hieraus eine Negativprognose hinsichtlich der Integrierbarkeit der Z. in den ersten Arbeitsmarkt ableiten zu wollen, erschließt sich der Kammer nicht.
Dass aufgrund dieser medizinischen Reha-Maßnahme zur Sicherung des Rehabilitationserfolges im Anschluss daran im Hinblick auf die psychischen Erkrankungen und Behinderungen der Klägerin und den Abbruch ihrer Ausbildung eine Maßnahme im Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer WfbM empfohlen worden ist, ändert auch nichts daran und widerlegt insbesondere nicht die Aussicht auf Integration der Z in den ersten Arbeitsmarkt.
In diesem Zusammenhang ist deutlich darauf hinzuweisen, dass mögliches Ziel und Ergebnis einer Maßnahme im Berufsbildungsbereich einer WfbM nach § 136 Abs. 1 Satz 2 der Übertritt in den ersten Arbeitsmarkt ist, wobei der Übertritt in den ersten Arbeitsmarkt nach § 136 Abs. 1 Satz 3 SGB IX sogar ausdrückliches Ziel der WfbM-Maßnahme ist.
Aus dem vorstehenden ergibt sich, dass die Beklagte die materiell-rechtlich für die streitbefangene Maßnahme zuständige Klägerin ist.
Gegen sie ist daher der Erstattungsanspruch zu richten, der sich nach § 102 Abs. 2 SGB X inhaltlich nach den Leistungsvorschriften der Klägerin richtet.
Die Frist des § 111 SGB X ist eingehalten und der Anspruch nicht nach § 113 SGB X verjährt.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
IV.
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 197a SGG i.V.m. § 52 Abs. 3 GKG.


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