Medizinrecht

Krankenversicherungsrecht: Kostenübernahme für eine Magenverkleinerung bei mangenden Erfolgsaussichten einer rein konservativen Therapie

Aktenzeichen  L 20 KR 191/16

Datum:
4.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 43372
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2, § 27 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 5, § 39 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

Zum Anspruch auf Kostenübernahme für einen bariatrischen Eingriff, auch wenn die hinreichend glaubhaften und ernsthaften eigeninitiativen Bemühungen des Versicherten zur Gewichtsreduktion nicht den strengen Vorgaben zu einem sechs- bis zwölfmonatigen multimodalen und ärztlich geleiteten bzw. überwachten Therapiekonzept entsprechen

Verfahrensgang

S 11 KR 356/15 2016-02-25 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 25.02.2016 dahingehend abgeändert, dass der Klägerin die Kosten der durchgeführten bariatrischen Operation in Höhe von 11.132,06 € anstelle von bisher 11.202,06 € zu erstatten sind.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist zulässig, jedoch weitgehend unbegründet. Denn die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der von ihr für die im November 2015 selbstbeschaffte bariatrische Operation verauslagten Kosten – abzüglich der gesetzlichen Zuzahlung für den Krankenhausaufenthalt von 10,- € je Behandlungstag.
Zulässige Klageart für einen auf Kostenerstattung gerichteten Anspruch ist die Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 SGG. Geht es – wie vorliegend – um Kostenerstattung für eine abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Behandlung, ist nicht die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, sondern diejenige zur Zeit der Behandlung maßgeblich (jurisPK, SGB V, 3. Aufl. 2016, § 13 Rn. 56).
Nach Durchführung der Operation während des Klageverfahrens im November 2015 hat die Klägerin ihren Antrag auf Sachleistung zulässigerweise in einen solchen auf Erstattung der ihr entstandenen Kosten umgestellt (§ 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG). Nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB V hat der Versicherte einen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihm durch rechtwidrige Ablehnung einer Leistung durch die Krankenkasse entstanden sind. Der Anspruch setzt voraus, dass die Krankenkasse verpflichtet gewesen ist, die selbstbeschaffte Leistung als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen. Dies ist nach Überzeugung des Senats zu bejahen, da im Zeitpunkt der Durchführung der Operation im November 2015 die Voraussetzungen für einen hierauf gerichteten Anspruch der Klägerin gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 5, § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V erfüllt waren.
Die grundsätzlich als Sach- oder Dienstleistung (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V) zu erbringende Krankenbehandlung, zu der auch die stationäre Behandlung in einem Krankenhaus zählt (§ 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 39 SGB V), setzt in grundlegender Weise voraus, dass eine behandlungsbedürftige Krankheit vorliegt. In allgemeiner Hinsicht sieht § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V vor, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Darüber hinaus stehen die Leistungen unter dem Vorbehalt des Wirtschaftlichkeitsgebotes (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Dies bedeutet, dass Versicherte nur die notwendigen bzw. ausreichenden Leistungen beanspruchen können. Diese müssen zweckmäßig und wirtschaftlich sein, sie dürfen das Maß des Notwendigen bzw. Ausreichenden nicht überschreiten (§ 12 Abs. 1 SGB V). Unter Beachtung dieser rechtlichen Rahmenbedingungen geht die Rechtsprechung im Allgemeinen davon aus, dass Behandlungsmaßnahmen, die in ein an sich gesundes Organ eingreifen, in der Regel ausgeschlossen sind. Daher kommen chirurgische Maßnahmen im Bereich des (eigentlich gesunden) Magens, die mittelbar auf eine Reduzierung der Adipositas zielen (Verfahren der bariatrischen Chirurgie), nur als Ultima Ratio und nur bei Patienten in Betracht, die eine Reihe weiterer Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllen. Die Rechtsprechung hat hierzu unter Bezugnahme auf einschlägige Leitlinien der Fachgesellschaften folgende Grundsätze entwickelt:
– Die Adipositas muss so gravierend sein, dass ihr Krankheitswert zukommt. Hiervon ist bei einem BMI von mindestens 40 stets auszugehen; wenn der BMI „lediglich“ 35 bis unter 40 beträgt, kann dies nur bei erheblichen Begleiterkrankungen angenommen werden.
– Darüber hinaus wird in der Regel verlangt, dass die konservativen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Davon kann ausgegangen werden, wenn der Versicherte über einen längeren Zeitraum (sechs bis zwölf Monate) an einem ärztlich überwachten bzw. koordinierten multimodalen Therapiekonzept, welches unter anderem Diätmaßnahmen, Schulungen, Bewegungs- und Psychotherapie umfasst, erfolglos teilgenommen hat.
– Schließlich dürfen keine wesentlichen medizinischen Kontraindikationen gegen die Durchführung dieser Operation bestehen. Dies beinhaltet unter anderem, dass manifeste psychiatrische Erkrankungen fehlen und eine lebenslange medizinische Nachbetreuung des Versicherten gewährleistet ist. Schließlich dürfen an der Motivation des Versicherten zur Einhaltung der ärztlichen Vorgaben für das Ernährungsverhalten nach Magenverkleinerung keine ernsthaften Zweifel bestehen (vgl. insg. BSG, Urteil vom 19.02.2003, B 1 KR 1/02 R; BSG, Urteil vom 16.12.2008, B 1 KR 2/08 R).)
Ausgehend von diesen Kriterien steht zur Überzeugung des Senats auf Grund der besonderen Umstände der Adipositaserkrankung der Klägerin fest, dass diese zum Zeitpunkt der streitbefangenen bariatrischen Operation die Voraussetzungen für die Selbstbeschaffung dieses Eingriffes erfüllte.
Dass bei der Klägerin eine Adipositas mit Krankheitswert i.S.d. Krankenversicherungsrechts vorlag, steht angesichts eines BMI von rund 60 kg/m² vor der bariatrischen Operation außer Zweifel. Die Klägerin wies vor der Operation einen BMI von 59,3 kg/m² auf, bei Aufnahme in Bad R. sogar von 62,8 kg/m², was jeweils einen BMI bedeutete, der massiv über dem Wert von 40 lag. Zudem litt sie bereits seit ihrer Kindheit an Adipositas. Hinzu kommt, dass dieses massive Übergewicht bereits zu Folgeerkrankung des Bewegungsapparates (insb. Gonarthrose beidseits) geführt hatte. Eine arthroskopische Sanierung des linken Knies war aufgrund der Adipositas per magna der Klägerin schwierig, letztlich wurde davon abgesehen. Eine Knie-TEP-Implantation wurde angesichts der Adipositas bis zum Erreichen einer dringend empfohlenen Gewichtsreduzierung zurückgestellt, um ein operativ zureichendes Ergebnis zu erzielen und die bei Adipositas erhöhte Gefahr einer Lockerung zu reduzieren.
Zwar hat die Klägerin unstreitig in den letzten sechs bis zwölf Monaten vor dem Eingriff im November 2015 nicht die klassischen konservativen Behandlungsmöglichkeiten in Form von ärztlich angeleiteter und begleiteter Ernährungs-, Bewegungs- und Psychotherapie in Anspruch genommen und intensiv durchgeführt. Nach der oben zitierten Rechtsprechung des BSG wird aber nur „in der Regel“ verlangt, dass die konservativen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Zur Überzeugung des Senats stand vorliegend die Nichtausschöpfung konservativer Therapieoptionen aufgrund der besonderen Umstände bei der Klägerin einem Anspruch auf Gewährung einer bariatrischen Operation als Voraussetzung des Kostenerstattungsanspruchs nicht entgegen. Zu Gunsten der Klägerin ist nämlich zu berücksichtigen, dass deren Adipositas bereits seit ihrer Kindheit bestand und sie – wenn auch erfolglos – in Eigeninitiative Bemühungen unternommen hat, ihr Körpergewicht zu reduzieren. Prof. Dr. T. bescheinigte der Klägerin auch exzellente Kenntnisse bzgl. einer gesunden Ernährung. Während der Kur in Bad R. ist es der Klägerin immerhin gelungen, ihr Gewicht um 9 kg zu reduzieren, eine weitere Reduktion gelang ihr jedoch im Folgenden allein mit konservativen Maßnahmen nicht mehr. Entscheidend für den Senat, vorliegend von den formalen Vorgaben einer mehrmonatigen mulitmodalen konservativen Therapie vor einem etwaigen bariatrischen Eingriff abzusehen, ist das Ausmaß der klägerischen Adipositas mit einem BMI von rund 60 kg/m² vor der Operation sowie die orthopädischen Beschwerden der Klägerin, was in Zusammenschau einer effizienten Bewegungstherapie zur Gewichtsreduktion entgegenstand. Angesichts des massiven Übergewichts konnte im Falle der Klägerin die praktisch allein noch mögliche Reduzierung der Kalorienzufuhr nicht als erfolgversprechend angesehen werden, zumal die Klägerin über sehr gute Kenntnisse über gesunde Ernährung verfügt und auch zahlreiche Diäten in Eigeninitiative ohne wesentlichen Erfolg durchgeführt hat.
Dass in Fällen wie dem der Klägerin ein bariatrischer Eingriff auch primär ohne eine präoperative konservative Therapie durchgeführt werden kann, legen auch die einschlägigen Leitlinien der Fachgesellschaften nahe, die den jeweils aktuellen Stand der wissenschaftlich-medizinischen Diskussion wiedergeben. Insbesondere S3-Leitlinien, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren beruhen und auf der Grundlage einer systematischen Evidenzrecherche erstellt wurden, stellen eine systematisch entwickelte Hilfe für Ärzte bei der Entscheidungsfindung in speziellen Situationen dar. Sie geben deshalb auch Verwaltung und Gerichten wichtige Entscheidungshilfen, auch wenn sie rechtlich nicht bindend sind (vgl. Hessisches LSG, Urteile vom 05.07.2016, L 1 KR 116/15, und vom 22.05.2014, L 8 KR 7/11).
Im Jahr 2015 existierten zwei S3-Leitlinien zur Chirurgie bzw. Therapie der Adipositas, die folgende Aussagen zur primären Operationsindikation enthielten:
– S3-Leitlinie „Chirurgie der Adipositas“ vom Juni 2010 (Chirurgische Arbeitsgemeinschaft für Adipositastherapie in Zusammenarbeit mit: Deutsche Adipositas-Gesellschaft – DAG, Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin) – Abschnitt 3.2 Unterpunkt 4:
„Primäre Indikation:
Lassen Art und/oder Schwere der Krankheit bzw. psychosoziale Gegebenheiten bei Erwachsenen annehmen, dass eine chirurgische Therapie nicht aufgeschoben werden kann oder die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist, kann in Ausnahmefällen auch primär eine chirurgische Therapie durchgeführt werden; die Indikation hierzu ist durch einen in der Adipositastherapie qualifizierten Arzt und einen bariatrischen Chirurgen gemeinsam zu stellen. Damit hat die Leitlinienkommission ein weiteres Beurteilungskriterium nach eingehender Diskussion präzisierend in die neuen Leitlinien aufgenommen, nämlich den Begriff der geringen Erfolgsaussicht der konservativen Therapie.“
– S3-Leitlinie „Prävention und Therapie der Adipositas“ vom April 2014 (Deutsche Adipositas-Gesellschaft, Deutsche Diabetes-Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V., Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. – DGEM) – Empfehlung 5.45:
„Eine chirurgische Therapie kann auch primär ohne eine präoperative konservative Therapie durchgeführt werden, wenn die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist oder der Gesundheitszustand des Patienten keinen Aufschub eines operativen Eingriffs zur Besserung durch Gewichtsreduktion erlaubt. Dies ist unter folgenden Umständen gegeben:
– Besondere Schwere von Begleit- und Folgekrankheiten der Adipositas
– BMI > 50 kg/m2
– Persönliche psychosoziale Umstände, die keinen Erfolg einer Lebensstiländerung in Aussicht stellen LoE (Anm.: = Level of Evidence) 4 (Expertenkonsens); Konsens; Empfehlungsgrad 0.
Dieser im Konsens erstellten Empfehlung konnte sich die DGEM nicht anschließen und formulierte folgendes Sondervotum: Diese Empfehlung wird nicht durch die zitierte Literatur gestützt, in der allein Patienten eingeschlossen wurden, die sich einer bariatrischen Chirurgie unterzogen. Somit wurde nicht berücksichtigt, dass es zahlreiche Patienten gibt, die von konservativen Therapieprogrammen profitieren, welche präoperativ durchgeführt werden mit dem Resultat, dass keine chirurgische Therapie mehr benötigt wird. Dennoch kann eine chirurgische Therapie auch primär ohne eine präoperative konservative Therapie in Ausnahmefällen durchgeführt werden, wenn die konservative Therapie ohne Aussicht auf Erfolg ist (KKP). Kriterien für solche Ausnahmefälle sind nicht der BMI oder die Schwere der Begleiterkrankungen, sondern Immobilität des Patienten oder andere Umstände, die eine erfolgreiche diätetische Therapie praktisch nicht ermöglichen, wie beispielsweise extrem hoher Insulinbedarf.“
Zu berücksichtigen ist, dass die Erfolgsaussichten einer rein konservativen Therapie mit dem Ausmaß der Adipositas in einer Wechselbeziehung stehen. Somit sind daher bei einer vergleichsweise geringen Adipositas an die Durchführung einer vorherigen konservativen Therapie strenge Anforderungen zu stellen. Je höher aber der BMI ist, desto schwieriger wird es erfahrungsgemäß, allein durch eine Umstellung der Ernährung, Bewegungs- und Psychotherapie sowie sonstige konservative Maßnahmen eine ausreichende Gewichtsreduktion in angemessener Zeit zu bewerkstelligen. Daher ist es angemessen, wenigstens in den Sonderfällen, in denen der BMI im oberen Bereich liegt und den Wert von 40 deutlich überschreitet, eine Magenverkleinerungsoperation krankenversicherungsrechtlich auch dann zu bewilligen, wenn die hinreichend glaubhaften und ernsthaften eigeninitiativen Bemühungen des Versicherten zur Gewichtsreduktion nicht den strengen Vorgaben zu einem sechs- bis zwölfmonatigen multimodalen und ärztlich geleiteten bzw. überwachten Therapiekonzept entsprechen (vgl. Hessisches LSG, Urteile vom 05.07.2016, L 1 KR 116/15, und vom 22.05.2014, L 8 KR 7/11).
Im hiesigen Fall hat der Senat keine Veranlassung, die Angaben der Klägerin über ihre langjährigen erfolglos gebliebenen Bemühungen zur Gewichtsreduktion in Zweifel zu ziehen. Es erscheint auch plausibel, dass es bei dem überaus hohen Körpergewicht der Klägerin nahezu aussichtslos gewesen wäre, weiterhin alleine auf konservative Maßnahmen wie Diäten oder eine – der orthopädischerseits zusätzlich eingeschränkten Klägerin nur bedingt mögliche – Bewegungstherapie zu setzen. Aus Sicht des Senats waren konservative Therapiemöglichkeiten für die Klägerin damit ohne Aussicht auf Erfolg aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung bzw. Adipositas, so dass nach der S3-Leitlinie „Chirurgie der Adipositas“ (2010) eine primäre Indikation zur operativen Therapie bei der Klägerin gegeben war. Auch die Maßgaben der S3-Leitlinie „Prävention und Therapie der Adipositas“ (2014) – inklusive Sondervotum der DGEM – stehen diesem Ergebnis nicht entgegen. Denn bei der Klägerin lag ein BMI von deutlich über 50 kg/m² vor (wobei nicht ganz klar ist, ob die in der S3-Leitlinie „Prävention und Therapie der Adipositas“ unter Punkt 5.45 genannten Voraussetzungen alternativ oder kumulativ vorliegen müssen), der zusammen mit den orthopädischen Einschränkungen der Klägerin praktisch eine weitgehende Immobilität der Klägerin bedeutete, so dass mangels ausreichend möglicher Bewegung eine Gewichtsreduzierung in dem bei der Klägerin erforderlichen Umfang auf konservativem Weg nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg möglich war.
Auch unter Berücksichtigung der einschlägigen Leitlinien bestand damit bei der Klägerin eine primäre Indikation zur chirurgischen Therapie.
Lediglich ergänzend wird auf die neue S3-Leitlinie „Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen“ vom Februar 2018 hingewiesen, wo als Empfehlung 4.9, Unterpunkt 3., Folgendes zur primären Indikation einer operativen Therapie nunmehr ausgeführt wird:
„Unter bestimmten Umständen kann eine Primärindikation zu einem adipositaschirurgischen Eingriff gestellt werden, ohne dass vorher ein konservativer Therapieversuch erfolgte. Die Primärindikation kann gestellt werden, wenn eine der folgenden Bedingungen gegeben ist:
– bei Patienten mit einem BMI ≥ 50 kg/m2
– bei Patienten, bei denen ein konservativer Therapieversuch durch das multidisziplinäre Team als nicht erfolgsversprechend bzw. aussichtslos eingestuft wurde
– bei Patienten mit besonderer Schwere von Begleit- und Folgeerkrankungen, die keinen Aufschub eines operativen Eingriffs erlauben Expertenkonsens *; starker Konsens**
– Auf Seite 18 der Leitlinie wird erläuternd ausgeführt: „Als Expertenkonsens werden Empfehlungen bezeichnet, zu denen keine Studien verfügbar waren. Diese Empfehlungen sind als gute klinische Praxis zu sehen, zu der noch ein Bedarf an wissenschaftlichen Studien besteht oder zu der aus ethischen Gründen keine wissenschaftlichen Studien erwartet werden können.“

Weiter wird auf Seite 18 klargestellt, dass „starker Konsens“ eine Zustimmung von über 90% bedeutet.
Damit ist nunmehr präzisierend zur Vorgänger-Leitlinie aus dem Jahr 2010 ein starker Expertenkonsens dahingehend formuliert, dass nach den Regeln ärztlicher Kunst auf einen konservativen Therapieversuch verzichtet werden und damit eine Primärindikation für einen operativen Eingriff gestellt werden kann, wenn – wie im Falle der Klägerin – allein ein BMI von über 50 kg/m² vorliegt (vgl. nunmehr den klaren Wortlaut: … wenn eine der folgenden Bedingungen gegeben ist“).
Aus Sicht des Senats bestanden gegen den bariatrischen Eingriff bei der Klägerin auch keine Kontraindikationen. Insbesondere lagen keine manifesten psychiatrischen Erkrankungen der Klägerin vor. Zwar ist auf dem Antrag des S. Klinikums O-Stadt die (übernommene) Nebendiagnose „Depression“ ohne jegliche weitere Ausführungen verzeichnet. Laut Entlassungsbericht der Klinik T. Bad R. war bei der Klägerin aber überhaupt keine psychiatrische Diagnose zu stellen und man sah dort auch keine Notwendigkeit für eine psychotherapeutische Behandlung nach Entlassung. Trotz der klägerischen Angabe von Naschen bzw. Frustessen hat man in der Reha-Klinik keine verhaltensbedingte Essstörung bei der Klägerin festgestellt. Auch Prof. Dr. T. sah keine psychischen Auffälligkeiten bei der Klägerin. Dass sie nach ihren eigenen Angaben durch den Tod zweier naher Angehöriger (vorübergehend) psychisch belastet war und, bedingt durch Übergewicht und Schmerzen, sich sozial zurückzog, erscheint nachvollziehbar und rechtfertigt es nicht, von einer „manifesten psychischen Erkrankung“ der Klägerin zu sprechen, die einem bariatrischen Eingriff entgegenstehen könnte.
Anhaltspunkte für sonstige medizinische Kontraindikationen, etwa eine endokrinologische Ursache der Adipositas, sind nicht ersichtlich.
Eine lebenslange medizinische Nachbetreuung der Klägerin ist durch das Follow-up-Verfahren des S. Klinikums O-Stadt gewährleistet. Die Kontrolluntersuchungen und die weitere Betreuung der Klägerin erfolgen in einem engen schematischen Programm mit dem Hausarzt.
Schließlich ergeben sich für den Senat auch keine ernsthaften Zweifel an der Motivation der Klägerin vor dem bariatrischen Eingriff, die ärztlichen Vorgaben für das Ernährungsverhalten nach der Magenverkleinerung einzuhalten. Die Klägerin verfügte über sehr gute Kenntnisse einer gesunden Ernährung, hat während der Reha-Maßnahme in Bad R. immerhin 9 kg abgenommen und dieses Gewicht bis zur streitgegenständlichen Operation auch annähernd beibehalten, was gegen eine willentlich nicht steuerbare Essstörung der Klägerin spricht.
Insgesamt ergibt sich damit, dass die Beklagte rechtlich verpflichtet war, die bariatrische Operation als Sachleistung zu gewähren. Der entsprechende Ablehnungsbescheid vom 05.02.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.07.2015 war rechtswidrig.
Auch die weiteren Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB V sind erfüllt. Die Klägerin verschaffte sich aufgrund der Ablehnung ihres Antrags selbst eine Leistung, die der beantragten bariatrischen Operation entsprach. Versicherte, denen ihre Krankenkasse rechtswidrig Leistungen verwehrt, sind nicht prinzipiell auf die Selbstbeschaffung der Leistungen bei zugelassenen Leistungserbringern beschränkt. Sie müssen sich eine der vorenthaltenen Naturalleistung entsprechende Leistung verschaffen, dies aber von vorneherein privatärztlich außerhalb des Leistungssystems. Erzwingt die rechtswidrige Leistungsablehnung der Krankenkasse eine privatärztliche Selbstverschaffung des Versicherten, ziehen die Bestimmungen für privatärztliche Leistungen und nicht diejenigen für das Naturalleistungssystem die Grenzen für die Verschaffung einer entsprechenden Leistung (vgl. BSG, Urteil vom 11.09.2012, B 1 KR 3/12 R).
Die Ablehnung des Antrags der Klägerin, ihr eine bariatrische Operation zu gewähren, war auch kausal für die Selbstbeschaffung. Insbesondere hatte sich die Klägerin nicht – unabhängig davon, wie eine Entscheidung der Beklagten ausfiel – von vornherein auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung bei einem nicht zugelassenen Leistungserbringer festgelegt. Indem die Klägerin sich die bariatrische Operation selbst verschaffte, entstanden ihr ausweislich der im Verfahren vor dem Sozialgericht vorgelegten Rechnungen für die stationäre Behandlung im S. Klinikum O-Stadt insgesamt Kosten in Höhe von 11.202,06 €. Dass diese Krankenhausrechnung auf diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG) beruhte und als Hauptdiagnose „Große Eingriffe bei Adipositas mit komplexem Eingriff“ auswies, bewirkte nicht, dass die weiteren Rechnungen unwirksam waren. Durch das DRG-Abrechnungssystem werden zwar die allgemeinen Krankenhausleistungen pauschal vergütet, vgl. § 17b Abs. 1 Satz 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG). Die Berechnung einer Fallpauschale als Krankenhausentgelt schließt aber nicht das Liquidationsrecht der leitenden Krankenhausärzte bei wahlärztlicher Behandlung aus. Die Leistungen eines Krankenhauses bei vollstationärer oder teilstationärer Aufnahme eines Patienten (§ 1 Abs. 1 Krankenhausentgeltgesetz – KHEntgG) umfassen allgemeine Krankenhausleistungen und Wahlleistungen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz KHEntgG). Allgemeine Krankenhausleistungen sind die Krankenhausleistungen, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Krankenhauses im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinisch zweckmäßige und ausreichende Versorgung der Patienten notwendig sind (§ 2 Abs. 2 Satz 1 KHEntgG). Wahlleistungen dürfen neben den Entgelten für die voll- und teilstationäre Behandlung gesondert berechnet werden, wenn die allgemeinen Krankenhausleistungen durch die Wahlleistungen nicht beeinträchtigt werden und die gesonderte Berechnung der Wahlleistungen mit dem Krankenhaus vor Erbringung schriftlich vereinbart ist, § 17 Abs. 1, 2 KHEntgG. Solche Wahlarztverträge im Rahmen von Krankenhausbehandlungen werden insbesondere im Hinblick auf eine Operationsdurchführung durch Chefärzte abgeschlossen.
Nach § 6a Abs. 1 Satz 1 Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) sind bei vollstationären, teilstationären sowie vor- und nachstationären privatärztlichen Leistungen die nach GOÄ berechneten Gebühren einschließlich der darauf entfallenden Zuschläge um 25 von Hundert zu mindern. Die vorlegten privatärztlichen Liquidationen entsprechen dieser Vorgabe. Anhaltspunkte für eine Unwirksamkeit der mit der Klägerin abgeschlossenen Wahlvereinbarungen sind nicht ersichtlich.
Versicherte, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, zahlen vom Beginn der vollstationären Krankenhausbehandlung an innerhalb eines Kalenderjahres für längstens 28 Tage den sich nach § 61 Satz 2 SGB V ergebenden Betrag je Kalendertag an das Krankenhaus, vgl. § 39 Abs. 4 Satz 1 SGB V. Die innerhalb des Kalenderjahres bereits an einen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung geleistete Zahlung nach § 32 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sowie die nach § 40 Abs. 6 Satz 1 SGB V geleistete Zahlung sind auf diese Zahlung anzurechnen, vgl. § 39 Abs. 4 Satz 2 SGB V. Die im Gesetz vorgesehene Zuzahlung zur stationären Krankenhaus- oder Reha-Behandlung ist für jeden angefangenen Behandlungstag, also auch für den Aufnahme- und den Entlassungstag, zu entrichten (BSG, Urteil vom 11.07.2017, B 1 KR 1/17 R). Die Regelung des § 62 SGB V begrenzt die Höhe der während jedes Kalenderjahres zu leistenden Zuzahlungen durch die Belastungsgrenze.
Da die Klägerin im Jahr 2015 noch nicht Zuzahlungen bis zur Belastungsgrenze nach § 62 Abs. 1 SGB V geleistet hatte, war sie an den Krankenhauskosten mit 10,- € je Behandlungstag gegenüber dem Krankenhaus zu beteiligen, § 61 Satz 2, § 39 Abs. 4 Satz 1 SGB V. Das Sozialgericht hätte deshalb der Klägerin Kostenerstattung nur abzüglich der gesetzlichen Zuzahlung nach § 39 Abs. 4 SGB V in Höhe von insgesamt 70,- € (für den stationärer Aufenthalt der Klägerin vom 09.11.2015 bis 15.11.2015) zusprechen dürfen. Nur insofern war die Berufung erfolgreich, im Übrigen war sie zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und trägt dem Umstand Rechnung, dass die Berufung der Beklagten nur zu einem ganz geringen Teil erfolgreich war.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

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