Medizinrecht

Leistungen, Krankenkasse, Eingliederungshilfe, Krankenpflege, Betreuung, Mietvertrag, Versorgung, Bescheid, Wohngemeinschaft, Berufung, Pflegedienst, Behandlungspflege, Sozialhilfe, Pflegeheim, Leistungen der Sozialhilfe, Leistungen der Eingliederungshilfe, Diabetes mellitus

Aktenzeichen  L 5 KR 402/19

Datum:
20.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 44517
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

S 4 KR 146/19 2019-06-18 Urt SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 18.06.2019 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch in der Berufung.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Die Klägerin hat, wie vom Sozialgericht zutreffend entschieden, einen Anspruch auf Kostenfreistellung für Leistungen der häuslichen Krankenpflege im streitgegenständlichen Zeitraum vom 23.01.2019 bis 31.03.2019.
Hinsichtlich der verweigerten Genehmigung von Leistungen der HKP in Gestalt von Verabreichen von Medikamenten 7 x täglich/7 x wöchentlich, Blutzuckermessung 3 x täglich/ 7 x wöchentlich und An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen 2 x täglich/7 x wöchentlich sind die angefochtenen Bescheide der Beklagten rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage der Kostenfreistellung sind sowohl § 37 Abs. 4 SGB als auch § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V. Diese Anspruchsgrundlagen können nebeneinander zur Anwendung kommen, da sie unterschiedliche Konstellationen betreffen (vgl. BSG, Urteil vom 30. November 2017 – B 3 KR 11/16 R, Rz. 14, zitiert nach juris). Beide setzen einen Sachleistungsanspruch auf häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V voraus.
1. Festzustellen ist zunächst in Auswertung der vorgelegten Verträge und Unterlagen, dass dem Aufenthalt der Klägerin in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft „K.“ folgende Verträge zugrunde liegen:
a) Der mit Herrn K. N. wirksam geschlossene Mietvertrag vom 15.02.2017 enthält u.a. folgende Regelungen:
„§ 1 Mietobjekt: Vermietet werden in der Demenzwohngemeinschaft „K.“ A-Straße Zimmer Nr. 6 Einzelzimmer mit 21m², Gemeinschaftsfläche mit 24m², insgesamt 46 m²
§ 3 Miete und Nebenkosten: Die Nettokaltmiete beträgt monatlich: 483,00 EUR Die Betriebskostenvorauszahlung monatlich: 120,00 EUR Insgesamt derzeit monatliche Miete: 603,00 EUR
§ 16 Besondere Vereinbarung zur Wohngemeinschaft/Bewohnergremium/Angehörigengremium: Die Wohngemeinschaft setzt sich in der Regel aus 10 – 12 Bewohner/Innen zusammen. Der Vertrag ist in seiner Wirksamkeit abhängig von einer Mitgliedschaft im Angehörigengremium, die Mitgliedschaft ist gesondert geregelt. Für den Mieter ist die vom Gremium festzusetzende Hausordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung bindend.“
b) Mit der R. GmbH sind folgende Verträge wirksam geschlossen:
aa) Vertrag über ambulante pflegerische Leistungen, der folgende Regelungen enthält:
„1. Inhalt und Umfang der Leistungen
Häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V gemäß ärztlicher Verordnung nach Genehmigungsbescheid der Krankenkasse Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI nach Kostenvoranschlag.
bb) Betreuungsvertrag für ambulant betreute Wohngemeinschaften ua mit folgendem Inhalt:
§ 2 Leistungsumfang
Der Dienstleistungsanbieter erbringt in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft im Rahmen einer ständigen Anwesenheit von einer geschulten Mitarbeiterin und Mitarbeitern Leistungen der psychosozialen Betreuung und Begleitung.
§ 4 Vergütung
Die monatlichen Aufwendungen werden als Pauschalleistung abgerechnet. Das Entgelt für psychosoziale Betreuung und Begleitung beträgt 730,00 EUR pro Monat.
cc) Hauswirtschaftsvertrag über Leistungen der Verpflegung ua mit folgenden Vereinbarungen:
§ 2 Abs. 1: Der Pflegedienst erbringt in der Wohngemeinschaft im Rahmen der 24-stündigen Anwesenheit eines Mitarbeiters des Pflegedienstes Leistungen der Verpflegung. Hauswirtschaftliche Leistungen im Sinne des SGB XI werden gesondert im Pflegevertrag vereinbart und entsprechend dieser Vereinbarung erbracht und vergütet.
§ 3 Abs. 1: Die Leistungen der Verpflegung werden im Rahmen der 24-stündigen Anwesenheit eines Mitarbeiters des Pflegedienstes täglich erbracht. Die Vergütung für die in diesem Vertrag festgelegten Leistungen beträgt monatlich 180,00 EUR (Verpflegungspauschale)
c) Gemeinschaftsvereinbarung der Mitglieder der Demenz Wohngemeinschaft ua mit folgendem Inhalt:
1. Zweck der Vereinbarung:
Als von Leistungsanbietern strukturell unabhängig gelten die Mitglieder dann, wenn die Inanspruchnahme von Leistungen eines Pflegedienstes unabhängig von der Inanspruchnahme von Wohnraum erfolgt. Zudem ist der Pflegedienst frei gewählt.
2. Neben § 37 Abs. 4 SGB V und § 13 Abs. 3 SGB V scheidet als Rechtsgrundlage § 6 Abs. 6 der Richtlinie über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege aus (HKP-RL vom 17.9.2009, BAnz vom 9.2.2010 bzw. vom 21.10.2010, BAnz vom 14.1.2011, 339, Stand: 17. Januar 2019). Nach dieser Vorschrift hat die Krankenkasse zwar bis zur Entscheidung über die Genehmigung die Kosten für die vertragsärztlich verordneten und vom Pflegedienst erbrachten Leistungen entsprechend der vereinbarten Vergütung nach § 132a Abs. 2 SGB V zu tragen, wenn die Verordnung spätestens an dem dritten der Ausstellung folgenden Arbeitstag der Krankenkasse vorgelegt wird. Der Pflegedienst hatte aber im hier streitigen Fall bis zum Zeitpunkt der Ablehnungsentscheidung (18.01.2019) noch nicht die hier streitgegenständlichen Leistungen der häuslichen Krankenpflege erbracht.
a) Nach § 37 Abs. 4 SGB V (idF des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen vom 20.12.1988, BGBl I 2477) sind den Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft in angemessener Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse keine Kraft für die häusliche Krankenpflege stellen kann (Alt. 1) oder Grund besteht, davon abzusehen (Alt. 2). Die Klägerin hat am 11.01.2019 einen Antrag auf die hier streitgegenständlichen Leistungen der HKP gestellt. Nach der glaubhaften Aussage der Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 20.08.2019 steht fest, dass diese selbst keine Kraft für die häusliche Krankenpflege stellen kann. Im Übrigen lässt die Beklagte auch durch sie bewilligte HKP-Leistungen, die hier nicht streitgegenständlich sind, durch die R. GmbH ausführen. Da somit Alt. 1 erfüllt ist, wandelt sich der die häusliche Krankenpflege betreffende Sachleistungsanspruch in einen Kostenerstattungsanspruch um (st. Rspr, vgl. BSG, Urt. v. 26.03.1980 – 3 RK 47/79).
Die Angemessenheit der Leistung in Höhe und Umfang (Rechnungen des Pflegedienstes vom 05.03.2019 in Höhe von insgesamt 1.061,90 EUR) ist mangels Anhaltspunkt nicht anzuzweifeln und zwischen den Beteiligten nicht streitig. Die Klägerin ist von der Zuzahlung nach § 62 SGB V befreit.
3. Daneben besteht ein Kostenfreistellungsanspruch nach § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V (idF des Gesetzes vom 19.6.2001, BGBl I 1046). Der Sachleistungsanspruch wandelt sich in einen Kostenerstattungs- bzw. Kostenfreistellungsanspruch um, wenn eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig von der Krankenkasse erbracht werden konnte, d.h. wenn ein Fall vorliegt, der es dem Versicherten unmöglich macht, den mit der Antragstellung beginnenden regelmäßigen Beschaffungsweg zu beschreiten (Alt. 1, dazu a) oder wenn die Krankenkasse einen Antrag des Versicherten auf Gewährung der Sachleistung häusliche Krankenpflege „zu Unrecht abgelehnt“ hat (Alt. 2, dazu b) und dem Versicherten dadurch Kosten entstanden sind, weil er sich – hier – gezwungen sah, sich eine Krankenpflegeperson selbst zu beschaffen.
a) Ein Anspruch nach § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 SGB V scheidet aus, weil kein Fall der Unaufschiebbarkeit vorlag. Für die Versicherte wurden Leistungen bei der Beklagten am 11.01.2019 beantragt, die die Beklagte schon am 18.01.2019 hinsichtlich der hier streitgegenständlichen Maßnahmen abgelehnt hatte, allerdings mit der Maßgabe, dass die streitgegenständlichen Leistungen noch bis 22.01.2019 weiter gewährt werden.
b) Der klägerische Anspruch stützt sich auf § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V. Über den ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich der Kostenerstattung hinaus ist § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V auch auf Fälle der Kostenfreistellung anzuwenden (st. Rspr, vgl. nur BSG, Urt. v. 07.05.2013 – B 1 KR 44/12 R). Ein Anspruch besteht dann, wenn zwischen der rechtswidrigen Ablehnung der Sachleistung durch die Krankenkasse und dem Kostennachteil des Versicherten ein ursächlicher Zusammenhang besteht (st. Rspr, vgl. nur BSG, Urt. v. 04.04.2006 – B 1 KR 12/14 R). An einem solchen Ursachenzusammenhangwürde es fehlen, wenn die Versicherte sich unabhängig davon, wie die Entscheidung der Krankenkasse ausfällt, von vornherein auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung durch einen bestimmten Leistungserbringer festgelegt und fest entschlossen gewesen wäre, sich die Leistung selbst dann zu beschaffen, wenn die Krankenkasse den Antrag ablehnen sollte (st. Rspr, vgl. nur BSG, Urt. v. 11.09.2012 – B 1 KR 3/12 R). Anspruchshindernd wäre insofern bereits ein unbedingtes Verpflichtungsgeschäft im Verhältnis zwischen der Klägerin und der R. GmbH, denn die Krankenkasse muss zunächst die Möglichkeit haben, sich mit dem Leistungsbegehren zu befassen, es zu prüfen und ggf. Behandlungsalternativen aufzuzeigen, bevor eine Selbstbeschaffung mit Kostenerstattungsanspruch in Betracht kommt (vgl. nur BSG, Urt. v. 11.05.2017 – B 3 KR 30/15 R).
Im Vertrag zwischen der Klägerin und R. GmbH findet sich unter Ziffer 1 folgende Vereinbarung: „Häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V gemäß ärztlicher Verordnung nach Genehmigungsbescheid der Krankenkasse.“ Die vorliegende Vereinbarung setzt also gerade eine Prüfung durch die Beklagte voraus, damit es zur Erbringung der HKP kommt.
Weitere Vereinbarungen, die die Erbringung von Leistungen zur HKP und deren Vergütung regeln, sind nicht ersichtlich. Daher ist nach praktischer Anschauung davon auszugehen, dass ab dem in der jeweiligen ärztlichen Verordnung genannten Leistungsbeginn konkludent Einzelaufträge erteilt werden, deren Vergütungspflicht durch Annahme der Leistungen entsteht. Im Übrigen ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass im Vorfeld des Ablehnungsbescheids der Beklagten von der Klägerin keine verbindlichen Verpflichtungsgeschäfte mit einem bestimmten Pflegedienst zur Erbringung der HKP abgeschlossen worden sind und dass die Leistungen im streitgegenständlichen Zeitraum durch den Pflegedienst tatsächlich erbracht worden sind. In seiner Höhe entspricht der Freistellungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V vorliegend dem nach § 37 Abs. 4 SGB V. Der Vergütungsanspruch der R. GmbH war auch der Höhe nach notwendig, was von der Beklagten im Übrigen nicht bestritten wird.
Der Kostenfreistellungsanspruch nach § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch und setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte HKP zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkasse allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen hat (st. Rspr, vgl. bspw. BSG Urt. v. 07.03.2012 – B 1 KR 6/11). L 5 KR 403/19).
4. Die Klägerin hat einen Primärleistungsanspruch gegen die Beklagte auf Leistungen der HKP in Form der medizinischen Behandlungspflege nach §§ 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 4, 37 Abs. 2 SGB V, § 2b Abs. 1 HKP-RL basierend auf der ärztlichen Verordnung vom 03.01.2019.
a) Fest steht, dass die betagte multimorbide Klägerin nach der medizinischen Dokumentation, insbesondere nach dem Pflegegutachten der Beigeladenen vom 31.10.2018, u.a. leidet an einer Demenz bei Alzheimer-Krankheit, an chronischer Niereninsuffizienz, einer Herzinsuffizienz, einem Zustand nach Herzschrittmacherimplantation und Diabetes mellitus. Sie steht unter der Betreuung ihres Sohnes. Zur Behandlung ihrer Erkrankungen ist sie laut ärztlichem Behandlungsplan mehrmals täglich auf mehrere Medikamente angewiesen. Diese einzunehmen ist sie bedingt durch Ihre fortgeschrittene Demenzerkrankung, der damit einhergehenden Aggressivität und Uneinsichtigkeit nicht in der Lage. Aus denselben Gründen kann sie auch die Blutzuckermessungen nicht selbst vornehmen, ebenso wenig wie das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
b) Die Klägerin lebt seit Februar 2017 dauerhaft zur Miete in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft „K.“ (WG) zusammen mit 8 weiteren hilfebedürftigen Personen. Dazu ist festzustellen, dass der Mietvertrag namentlich folgende Regelung enthält, welche auch erfüllt werden: „Vermietet werden in der Demenzwohngemeinschaft „K.“ A-Straße, Zimmer Nr. 6 Einzelzimmer mit 21 m², Gemeinschaftsfläche mit 25 m², insgesamt 46 m².
§ 3 Miete und Nebenkosten: Die Nettokaltmiete beträgt monatlich: 483,00 EUR Die Betriebskostenvorauszahlung monatlich: 120,00 EUR Insgesamt derzeit monatliche Miete: 603,00 EUR
§ 16 Besondere Vereinbarung zur Wohngemeinschaft/ Bewohnergremium/ Angehörigengremium: Die Wohngemeinschaft setzt sich in der Regel aus 10 – 12 Bewohner/Innen zusammen. Der Vertrag ist in seiner Wirksamkeit abhängig von einer Mitgliedschaft im Angehörigengremium, die Mitgliedschaft ist gesondert geregelt. Für den Mieter ist die vom Gremium festzusetzende Hausordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung bindend.“
Fest steht weiter, dass die WG und der Raum der Klägerin von Größe und Ausstattung her die Anforderungen und aktuellen Standards hinsichtlich der Raumgrößen, der hygienischen Bedürfnisse, der Beleuchtung und Belüftung, der Wahrung der Intimsphäre und zwar rund um die Uhr erfüllen. Die räumlichen Anforderungen des § 1 Abs. 2 HKP-RL sind deshalb tatbestandlich erfüllt. Es leben dort keine pflegebereiten Angehörigen der Klägerin, alle Mitbewohner sind ebenfalls pflegebedürftig. Dies ist unter den Beteiligten zudem nicht streitig, so dass sich insoweit nähere Prüfungen und Sachaufklärungsmaßnahmen erübrigen (vgl. zur Zulässigkeit dieses Vorgehens z.B. BSG, Urt. vom 21.4.2015 – B 1 KR 8/15 R; Bayer. LSG, Urteil vom 13. März 2018 – L 5 KR 504/15, Rn. 20 mwN – zitiert nach Juris).
c) Der zwischen der Klägerin und der R. GmbH wirksam abgeschlossene Betreuungsvertrag hat ua folgenden Inhalt:
„§ 2 Leistungsumfang Der Dienstleistungsanbieter erbringt in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft im Rahmen einer ständigen Anwesenheit von einer geschulten Mitarbeiterin und Mitarbeitern Leistungen der psychosozialen Betreuung und Begleitung.
§ 4 Vergütung Die monatlichen Aufwendungen werden als Pauschalleistung abgerechnet. Das Entgelt für psychosoziale Betreuung und Begleitung beträgt 730,00 EUR pro Monat.“
d) Der zwischen der Klägerin und der R. GmbH geschlossene Vertrag über ambulante pflegerische Leistungen vom 15.02.2017 (Pflegevertrag enthält ua folgende Regelungen:
„2. Inhalt und Umfang der Leistungen Häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V gemäß ärztlicher Verordnung nach Genehmigungsbescheid der Krankenkasse.
Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI nach Kostenvoranschlag.
e) Für alle Mitglieder der WG ist wirksam bestimmt:
Die Wahl eines Pflegedienstes für die pflegerische Versorgung bleibt jedem Bewohner selbst überlassen.
f) Das Bewohnergremium hat seinerzeit zu Beginn der Wohngemeinschaft im Rahmen des Betreuungsvertrages den Pflegedienst damit beauftragt, eine Präsenzkraft zu stellen, die verwaltende und organisatorische Tätigkeiten für die Wohngemeinschaft übernimmt. Hiermit hat der Pflegedienst Frau S. D. beauftragt, die diese Aufgabe ohne besondere schriftliche Vereinbarung nach wie vor wahrnimmt.
5. Basierend auf diesen Feststellungen steht der Klägerin der begehrte Anspruch auf HKP-Leistungen in Form der Medikamentengabe gegen die Beklagte zu, denn die Klägerin benötigt diese Leistungen. Die ambulante Wohngruppe „K.“ ist grundsätzlich ein geeigneter Ort zur Erbringung der HKP. Es bestehen auch keine Leistungsausschlüsse.
a) Die Klägerin benötigt Leistungen der HKP in Form der Medikamentengabe, Blutzuckermessung sowie An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen zur Behandlungssicherung. Leistungen der HKP bleiben gemäß § 13 Abs. 2 SGB XI grundsätzlich unberührt von Ansprüchen gegen die Beigeladene. Diese hat, ausweislich des Pflegevertrags, Behandlungssicherungsleistungen auch nicht erbracht. Dies wird von der Beklagten nicht bestritten. Die Medikamentengabe ist als HKP-Leistung in Anlage zur HKP-RL (dort Nr. 26) bei Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit vorgesehen, ebenso wie die Blutzuckermessung (Nr. 11 der Anlage zur HKP-RL) und das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen (Nr. 31 der Anlage zur HKP-RL). Krankheitsbedingt reicht das von der Beklagten bewilligte Herrichten der Medikamente im Dispenser und Insulininjektionen nicht zur Versorgung der Klägerin aus, wie die Würdigung der ärztlichen Dokumentation ergibt.
b) Die Wohngruppe „K.“ (WG) ist grundsätzlich ein geeigneter Ort zur Erbringung von HKP-Leistungen durch die Beklagte (§ 37 Abs. 2 S. 1 SGB V).
Hinsichtlich der Gesetzesentwicklung zu den „sonstigen geeigneten Orten“ in § 37 SGB V wird auf die Ausführungen des BSG verwiesen (Urt. v. 25.02.2015- B 3 KR 11/14 R, Rz. 12-21 zitiert nach juris), die sich der Senat zu eigen macht. An der grundsätzlichen Eignung der WG besteht im Hinblick auf die ausdrückliche Nennung von „betreuten Wohnformen“ im Gesetz und in § 1 Abs. 2 S. 3 HKP-RL kein Zweifel. Der Begriff der betreuten Wohnform ist zwar gesetzlich nicht definiert, (vgl. BSG, Urt. v. 18.02.2016 – B 3 P 5/14 R, Rz. 8 nach juris, BT-Drs- 17/9369 S. 41), anerkannt sind jedoch – unter Berücksichtigung fließender Übergänge und dynamischer Entwicklung – sinnvolle Zwischenformen zwischen Pflege in häuslicher Umgebung und vollstationärer Pflege (LSG NRW, Urt. v. 20.09.2018 – L 5 P 97/17).
c) Es besteht kein Leistungsausschluss nach § 37 Abs. 3 SGB V.
In der WG wohnen keine Personen, die im Rahmen der Laienpflege die HKP übernehmen können, da dort keine pflegebereiten Angehörigen der Klägerin leben und alle Mitbewohner ebenfalls pflegebedürftig sind. Betreuer und Pflegepersonen, die sich zur Erfüllung ihrer vertraglichen Pflichten in der WG aufhalten, sind nicht kontinuierlich in den Wohn- und Lebensbereich eingebunden, insbesondere wohnen sie dort nicht und können daher nicht mit Haushaltsangehörigen gleichgestellt werden. Aufgrund des Ausnahmecharakters verbietet sich eine extensive Auslegung der Vorschrift. Dies folgt auch aus § 2 Abs. 2 SGB I (vgl. BSG, Urt. v. 30.03.2000 – B 3 KR 23/99, Rz. 16f. nach juris).
d) Es besteht kein vorrangiger Anspruch auf Erbringung von HKP-Leistungen gegenüber der WG, der einen Anspruch gegen die Beklagte ausschließen würde (§ 1 Abs. 6 HKP-RL, vgl. auch BSG, Urt. v. 28.05.2003 – B 3 KR 32/902 R).
aa) Die WG ist keine zugelassene stationäre Einrichtung nach § 71 Abs. 2 SGB XI, in welcher die Erbringung von Leistungen der medizinischen Behandlungspflege bereits im Leistungsspektrum enthalten ist, soweit – wie vorliegend – kein besonders hoher Bedarf besteht (§ 37 Abs. 2 S. 3 SGB V, § 1 Abs. 6 S. 2 HKP-RL). Die Beigeladene hat die WG heimrechtlich als ambulant betreute Wohngemeinschaft anerkannt (§§ 2 Abs. 3, 18 ff. PfleWoqG) und gewährt den Bewohnern den Wohngruppenzuschlag nach § 38a SGB XI sowie den Entlastungsbetrag nach § 45b SGB XI. Dem hat sich die Beklagte in den letzten Jahren zu keinem Zeitpunkt entgegengestellt.
Das bundesrechtliche Heimgesetz (§ 1 Abs. 2 S. 3 HeimG) ist nicht anwendbar, da die Klägerin, ausweislich der vorliegenden Verträge, durch Abschluss des Mietvertrages nicht verpflichtet wird, Pflegeleistungen von einem bestimmten Anbieter anzunehmen.
bb) Die Prüfung im Einzelfall führt zu dem Ergebnis, dass die Klägerin weder einen gesetzlichen noch privatrechtlichen Anspruch auf HKP in Form der Medikamentengabe gegen die WG hat, die im Verhältnis zu einem Anspruch gegen die Beklagte vorrangig sind. Streitgegenständliche HKP-Leistungen sind vorliegend die Medikamentengabe, die Blutzuckermessung und das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen, die in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des 3. Senats des BSG als einfachste Leistung der HKP und nicht als qualifizierte Leistungen einzuordnen sind. In Anknüpfung an § 37 Abs. 3 SGB V können einfachste Leistungen praktisch von jedem erwachsenen Haushaltsangehörigen erbracht werden. Sie erfordere keine medizinische Sachkunde. Dazu zählen neben der Medikamentengabe nach ärztlicher Anweisung, die Blutdruck- und Blutzuckermessung, das An- und Ausziehen von Thrombosestrümpfen, das An- und Ablegen von Stützverbänden, das Einreiben mit Salben oder die Verabreichung von Bädern (BSG, Urt. v. 25.02.2015 – B 3 KR 11/14 R, Rz. 28 nach juris).
aaa) In Abgrenzung zur Rechtsprechung des 3. Senats aus 2015 (Urt. v. 25.02.2015 – B 3KR 10/14 und 11/14 R, v. 22.04.2015 – B 3 KR 16/16 R), die Einrichtungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII betraf, sind vorliegend keine gesetzlichen Ansprüche auf die Erbringung einfachster Leistungen der HKP gegen die WG ersichtlich. Im Bereich des ambulanten Wohnens gibt es weder ein Dreiecksverhältnis Nutzer – Einrichtung – Sozialhilfeträger noch gesetzliche Regelungen, die den Schluss zulassen, dass die Erbringung einfachster medizinischer Leistungen nach der Natur der Sache zum Aufgabenbereich der WG gehören. Einrichtungen zur Eingliederungshilfe haben den gesetzlichen Auftrag, Menschen Hilfe zur Wiedererlangung von Selbständigkeit zu gewähren. Erbringt der Träger der Sozialhilfe die Leistungen der Eingliederungshilfe in einer vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen, wird grundsätzlich der gesamte Bedarf des Hilfebedürftigen nach § 9 Abs. 1 SGB XII in der Einrichtung in einrichtungsspezifischer Weise befriedigt. Die Einrichtung übernimmt für den Hilfebedürftigen von dessen Aufnahme bis zur Entlassung die Gesamtverantwortung für seine tägliche Lebensführung (BSG, Urt.v. 22.04.2015 – B 3 KR 16/14 R, Rz. 27 zitiert nach juris). Darunter fallen auch Gesundheitsbelange wie Medikamenteneinnahme, deren Übernahme durch die Einrichtung gemäß §§ 55 S. 1, 75 ff. SGB XII vereinbart werden kann (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 24.02.2010 – L 9 KR 23/10 B ER). Ob eine WG für demente, alte Menschen, deren Gesundheitszustand sich naturgemäß progredient verschlechtert, „vergleichbare Eingliederungsleistungen“ (BSG, Urt. v. 25.02.2015 – B 3 KR 11/14 R, Rz. 28 nach juris) erbringen kann, darf offenbleiben, denn es fehlt bei dem hier vorliegenden selbstbestimmten Zusammenschluss von Pflegebedürftigen auf der Basis zivilrechtlicher Verträge an gesetzlichen Regelungen und Aufgabenzuweisungen, die dem SGB XII entsprechen.
bbb) Ebenso wenig bestehen vorrangige zivilrechtliche Ansprüche der Klägerin gegen die WG. Weder aus einem der von der Klägerin abgeschlossenen Verträge, noch aus dem Gedanken der Gesamtverantwortung können Ansprüche gegen die WG hergeleitet werden. * Der Mietvertrag vom 15.02.2017 hat die Überlassung von Wohnraum zum Gegenstand. * Der Pflegevertrag vom 15.02.2017 beinhaltet nur Leistungen der ambulanten Pflege nach §§ 120 SGB, 36, 38 SGB XI und keine Leistungen der Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 SGB V. * Der Betreuungsvertrag vom 16.03.2015 regelt in § 2 Nr. 2 Leistungen der psychosozialen Betreuung und Begleitung. Diese werden mit einer Pauschale von 730 EUR mtl. bei 24-Stunden-Präsenz abgerechnet. Der Leistungsinhalt ist vertraglich beschränkt auf Leistungen der psychosozialen Betreuung, die nicht näher bestimmt sind. Behandlungspflegerische Maßnahmen nach § 37 SGB V und Pflegeleistungen nach dem SGB XI sind nach dem Wortlaut des Vertrages (§ 2 Nr. 1) nichtvereinbart. Damit hat die Klägerin gerade keinen umfassenden Wohn- und Betreuungsvertrag abgeschlossen.
Gegen die Ableitung von Ansprüchen auf einfachste behandlungspflegerische Tätigkeiten aus dem Betreuungsvertrag nach der Natur der Sache spricht insbesondere die mangelnde wirtschaftliche Abbildung dieser Leistungen in der Vergütungspauschale wie auch die Pflegerealität. Die Erbringung von behandlungspflegerischen Leistungen wäre im Rahmen des Rechtsgedankens des § 37 Abs. 3 SGB V nicht zumutbar. Nicht vorstellbar ist, wie eine Betreuungsperson es faktisch leisten sollte, bei mehreren Demenzkranken ggf. gleichzeitig, bspw. vor den Mahlzeiten, und mehrmals pro Tag medizinisch erforderliche Maßnahmen wie vorliegend die Medikamentengabe, oder zusätzlich die Blutzuckermessen durchzuführen, auch wenn diese grundsätzlich einfach sind und keine medizinische Sachkunde erfordern. Dazu kommt, dass Demenzkranke pflegerische Maßnahmen zum Teil ablehnen, laut Pflegegutachten der Beigeladenen wird auch die Klägerin als teilweise aggressiv, uneinsichtig und unkooperativ eingestuft. Auch wehrt sie täglich pflegerische oder andere unterstützende Maßnahmen ab. Damit können und müssen die Pflegeleistungen im Rahmen der Leistungsverpflichtungen aus dem vorliegenden Betreuungsvertrag – anders als bei Einrichtungen nach dem SGB XII, vgl. B 3 KR 11/14, aaO, Rz. 28 zitiert nach juris – nicht erbracht werden Aus dem Präsenzkraftvertrag vom 26.09.2018 können keine Individualansprüche einzelner WG-Bewohner abgeleitet werden. Die Präsenzkraft wird durch den Wohngruppenzuschlag des § 38a SGB XI finanziert, den die Beigeladene den Bewohnern der WG gewährt, und übernimmt zusätzliche Aufgaben. Nach dem Willen des Gesetzgebers dient der Wohngruppenzuschlag der Abgeltung des zusätzlichen Aufwands, der durch die Selbstorganisation der Pflege mit Beiträgen der Bewohner oder ihres sozialen Umfelds (vgl. BT-Drs. 18/2909 S. 42) entsteht. Der Aufgabenbereich einer Präsenzkraft ist damit von der pflegerischen Versorgung der Bewohner abzugrenzen (BSG, Urt. v. 18.02.2016 – B 3 P 5/14 R). Eine Präsenzkraft wird von allen Bewohnern gemeinsam beauftragt und ist allen – im vorliegenden Fall insgesamt 9 Personen – gleichermaßen in der Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet. Unabhängig von einer tatsächlichen Überforderung einer Präsenzkraft mit der Erbringung von Leistungen der Behandlungspflege für 19 Personen, hat diese nach der gesetzlichen Aufgabenzuteilung keine der einer Sozialarbeiterin in einer Einrichtung nach dem SGB XII vergleichbare Pflichtenstellung. Aus der Konstruktion einer ambulanten Wohngruppe nach dem Baukastensystem unter (Aus-)Nutzung der gespaltenen Finanzierungsverantwortung und der unterschiedlichen Finanzierungsstrukturen der Beklagten und der Beigeladenen kann kein Anspruch der Bewohner auf Übernahme der HKP aus einer „Gesamtverantwortung“ der Wohngemeinschaft abgeleitet werden. Die Klägerin hat sich – basierend auf den Notwendigkeiten der Pflegebedürftigkeit und im Ergebnis tatsächlich ähnlich einem stationären Setting – Einzelleistungen durch privatrechtliche Verträge eingekauft, die teilweise durch die Sozialversicherungsträger finanziert werden. Dies mag dazu führen, dass aufgrund des Bedarfsdeckungsprinzips des SGB V durch die Beklagte und die Beigeladene höhere Leistungen zu gewähren sind als bei der Wahl einer vollstationären Einrichtung nach § 43 SGB XI. Die Wohnform der selbst organisierten pflegerischen Versorgung auf der Grundlage eines Baukastensystems ist jedoch nicht nur erlaubt, sondern gewünscht und durch den Gesetzgeber mit Zuschlägen nach dem SGB XI gefördert. Daher gibt es keine gesetzliche Grundlage, um die hier vorliegende Demenz-Wohngruppe als eine faktische Pflegeinrichtung zu qualifizieren (so auch BSG, Urt. v. 30.11.2017 – B 3 KR 11/16 R, Rz. 30f. zitiert nach juris; dazu näher Opolony, medizinische Behandlungspflege und Pflegebedürftigkeit, NZS 2017, 409 ff.) um sich auf diesem Wege seiner Leistungsverpflichtungen zu entledigen.
Damit bleibt die Berufung der Beklagten vollumfänglich ohne Erfolg.
Die Kostenerfolge ergibt sich aus §§ 193, 183 SGG.
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).


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