Medizinrecht

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nur bei Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung und im Hinblick auf die letzte versicherungspflichtige Tätigkeit

Aktenzeichen  L 19 R 197/17

Datum:
19.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 29008
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
ALG § 13
SGB I § 16 Abs. 1 S. 2
SGB IV § 19 S. 1
SGB IX § 5 Nr. 2, § 6 Abs. 1 Nr. 4, § 14 Abs. 1, Abs. 5
SGB VI § 9 Abs. 1, § 10 Abs. 1, § 16
SGG § 69 Nr. 3, § 75 Abs. 2, § 141 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Bei der Beurteilung, ob die Erwerbsfähigkeit bedroht oder beeinträchtigt ist, ist ohne zeitliche Beschränkung regelmäßig an die letzte versicherungspflichtige Tätigkeit anzuknüpfen (BSG, Urteil vom 12.03.2019 – B 13 R 27/17 R). (Rn. 73 und 77)
2. Nicht maßgeblich sind aber Tätigkeiten, die nur verhältnismäßig kurze Zeit verrichtet oder nicht versicherungspflichtig ausgeübt worden sind. (Rn. 77)
3. Ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ist ausgeschlossen, wenn die erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, also die Unfähigkeit eines Versicherten, seinen bisherigen Beruf oder seine bisherige Tätigkeit weiter ausüben zu können, nicht auf Krankheit oder Behinderung beruht. (Rn. 77 – 78)
§ 14 Abs 1 SGB IX findet keine Anwendung auf Leistungsträger, die keine Rehabilitationsträger iSv § 6 SGB IX sind. (Rn. 58 – 63) (red. LS Christian König)

Verfahrensgang

S 16 R 345/15 2016-05-30 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Auf die Berufung der Beigeladenen hin wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 30.05.2016 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 25.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.03.2015 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG entscheiden, nachdem die Beteiligten ihre Zustimmung hierzu erteilt hatten.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beigeladenen ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG). Da die Beigeladene im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 75 Abs. 2 SGG notwendig beigeladen und verurteilt wurde, kann sie als Beteiligte im Sinne des § 69 Nr. 3 SGG auch Berufung einlegen, ohne dass es gleichzeitig eines Rechtsmittels der Hauptbeteiligten des Verfahrens bedarf. Gemäß § 141 Abs. 1 Nr. 1 SGG wäre die Beigeladene wie die weiteren Beteiligten an die Entscheidung des SG gebunden, sobald diese rechtskräftig wäre. Die Beigeladene ist durch die Entscheidung des SG auch in eigenen Rechten betroffen, so dass sie auch materiell durch die Entscheidung beschwert ist (Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl., 2020, § 75, Rdnr 19).
Die Berufung der Beigeladenen ist auch begründet. Das Urteil des SG vom 30.05.2016 ist rechtswidrig und deshalb aufzuheben.
Da der Kläger mit seiner Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 25.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.03.2015 vorgegangen war, diese Bescheide aber vom SG im Urteil vom 30.05.2016 aufgehoben wurden und stattdessen die Beigeladene zu einer Entscheidung über den Anspruch des Klägers auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilt wurde, hat der Senat vorliegend über alle in Frage kommenden Ansprüche des Klägers zu entscheiden, also auch über einen Anspruch des Klägers gegen die Beklagte und damit über die Rechtmäßigkeit des vom Kläger angefochtenen Bescheids der Beklagten vom 25.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.03.2015. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist eine Verurteilung des im sozialgerichtlichen Verfahren erstmals Beigeladenen stets subsidiär zur Verurteilung des Beklagten (BSGE, 49, 143; BSG, Urteil vom 28.03.2017 – B 1 KR 15/16 R -, juris; Schmidt, a.a.O., § 75 SGG, Rdnr 18c m.w.N.).
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Kläger bei der Beigeladenen am 16.06.2010 einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung gestellt hatte, der mit Bescheid der Beigeladenen (und dortigen Beklagten) vom 30.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.10.2010 abgelehnt wurde. Im Rahmen des hiergegen vor dem SG geführten Klageverfahrens gegen die Beigeladene, die unter dem Aktenzeichen S 15 LW 9/11 geführt wurde, wurden mehrere Gutachten eingeholt, die – mit Ausnahme des Gutachtens von Dr. S nach § 109 SGG – alle ein mindestens 6-stündiges Leistungsvermögen des Klägers für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Einschränkungen festgestellt hatten. Prüfungsmaßstab für einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente aus der für den Kläger leistungszuständigen LAK ist gemäß § 13 des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte (GAL), ob der Kläger Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes entsprechend § 43 SGB VI noch mindestens 6 Stunden täglich verrichten konnte bzw. kann.
Die beauftragten Sachverständigen Dr. L im Verwaltungsverfahren, Dr. G auf internistisch/sozialmedizinischem Fachgebiet (Gutachten vom 08.09.2011), Dr. B auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet (Gutachten vom 18.01.2013), Dr. S1 auf chirurgischem Fachgebiet (Gutachten vom 15.10.2013) waren übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangt, dass eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens des Klägers für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auf unter 6 Stunden oder sogar auf unter 3 Stunden täglich nicht gegeben war. Vielmehr seien Tätigkeiten im Umfang von mindestens 6 Stunden täglich möglich unter Beachtung sog. qualitativer Einschränkungen bezüglich der Schwere der Arbeitsleistung und der möglichen Arbeitshaltungen. Allein der nach § 109 SGG tätig gewordene nervenärztliche Sachverständige Dr. S kam zu einem unter dreistündigen Leistungsvermögen und zwar bereits aus der Zeit vor Antragstellung. Er nahm eine posttraumatische Belastungsstörung sowie neuropathische Schmerzen infolge eines Motorradunfalls 1983 mit Verletzung der linken Hand und daraus folgenden Bewegungseinschränkungen an sowie eine massive soziale Phobie infolge der 2003 erlebten Schlägerei vor einer Disco. In dem nachfolgenden nervenärztlichen Gutachten von Dr. B wurde dieser Einschätzung nicht gefolgt und zutreffend darauf hingewiesen, dass der Kläger nie in nervenärztlicher Behandlung war und im gesamten Verfahren nie über eine psychische oder psychiatrische Erkrankung berichtet hatte. Vielmehr wurde erst nach dem Gutachten von Dr. G ein Attest des behandelnden Hausarztes Dr. M vorgelegt, wonach der Kläger psychische Probleme habe, nachdem er erheblichen Ärger mit seiner Krankenkasse (LKK) und auch mit der Veterinärärztin habe.
Mit Urteil vom 28.05.2014 wurde die Klage gegen die Beigeladene und dortige Beklagte auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung als unbegründet abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung zum Bayer. LSG (L 1 LW 9/14) war ebenso erfolglos wie die hiergegen zum BSG eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde.
Der Kläger hat weder gegen die Beigeladene noch gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
I. Kein Anspruch des Klägers gegen die Beigeladene auf Erbringung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auf der Grundlage des § 14 SGB IX.
Gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX stellt der Rehabilitationsträger innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags bei ihm fest, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist. Falls nein, leitet er den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu (§ 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX). Wird der Antrag nicht weitergeleitet, stellt der Rehabilitationsträger den Rehabilitationsbedarf unverzüglich fest. Bei der in § 14 Abs. 1 SGB IX genannten Zwei-Wochen-Frist handelt es sich um eine gesetzliche Ausschlussfrist, deren Ablauf eine umfassende Leistungszuständigkeit des erstangegangenen Rehabilitationsträgers nach allen denkbaren sozialrechtlichen Regelungen begründet und gleichzeitig den Ausschluss des gegebenenfalls eigentlich zuständigen Rehabilitationsträgers für eine Sachentscheidung (BSG, Urteil vom 18.05.2011 – B 3 KR 10/10 R -; BSG, Urteil vom 20.11.2008 – B 3 KN 4/07 R – jeweils zitiert nach juris; Joussen, in Dau/Düwell/Joussen, Sozialgesetzbuch IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, 5. Aufl, 2019, § 14 SGB IX, Rdnr 11 m.w. N.).
Die Zielsetzung des § 14 SGB IX ist ein abschließend geregeltes Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit der Träger für Leistungen zur Teilhabe oder zur medizinischen Rehabilitation im gegliederten System der sozialen Sicherung, um eine möglichst schnelle Leistungserbringung sicherstellen zu können (Joussen, a.a.O., § 14 SGB IX, Rdnr 2). Dazu ist grundsätzlich vorgesehen, dass eine Weiterleitung des Antrags nur einmal erfolgen darf und dass diese Weiterleitung innerhalb der Frist von 14 Tagen nach Eingang des Antrags (Ausnahme: Erforderlichkeit einer medizinischen Feststellung der Ursache der Behinderung im Sinne des § 14 Abs. 1 S. 3 SGB IX) zu erfolgen hat, um eine möglichst schnelle Bereitstellung der benötigten Rehabilitationsleistungen zu gewährleisten. Voraussetzung für diese Entscheidung ist grundsätzlich, dass der Antrag beim Rehabilitationsträger eingegangen ist und auf eine konkrete Leistung zur Teilhabe gerichtet ist, über die der Rehabilitationsträger positiv oder negativ entscheiden kann; hierbei müssen grundsätzlich noch nicht alle Unterlagen vorliegen, die zur Bearbeitung des Antrags erforderlich wären, jedoch muss grundsätzlich erkennbar sein, auf welche Leistungen sich der Antrag bezieht.
Zwar hat vorliegend der Prozessbevollmächtigte des Klägers zu Protokoll des SG in einem anderen Verfahren „Leistungen zur beruflichen Rehabilitation“ beantragt, so dass bei sehr weiter Auslegung bereits ein Antrag im Sinne des § 19 S. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch – SGB IV – auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben darin gesehen werden kann. Dabei wurden im gerichtlichen Protokoll aber unterschiedliche Formulierungen verwendet: Hinsichtlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation war ausdrücklich der Antrag bei der dortigen Beklagten gestellt worden. Bezüglich der Leistungen zur beruflichen Rehabilitation wurden diese lediglich beantragt, ohne einen Rehabilitationsträger zu benennen. Weiter war „für den Fall der sachlichen Unzuständigkeit“ beantragt, „dieses Verfahren an den zuständigen Rentenversicherungsträger weiterzuleiten“. Das SG ist aber kein Rehabilitationsträger, bei dem ein Antrag auf Rehabilitation rechtswirksam gestellt werden kann.
Soweit das SG in seinem Urteil vom 30.05.2016 davon ausgeht, dass der Antrag wirksam in der mündlichen Verhandlung vom 28.05.2014 gestellt wurde, weil die Sitzungsvertreterin der Beigeladenen und dortigen Beklagten den Antrag „entgegengenommen“ habe – wie im Protokoll festgehalten -, kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden.
Die damalige Sitzungsvertreterin hatte ausdrücklich und zutreffend in dieser mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass die Beigeladene nicht Rehabilitationsträger im Sinne des § 6 SGB IX sein könne und dass bei ihr kein Reha-Antrag auf Leistungen zur beruflichen Rehabilitation gestellt werden könne. Nach § 6 SGB IX sind für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 5 Nr. 2 SGB IX) Rehabilitationsträger nur die Bundesagentur für Arbeit, die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung. Ausdrücklich ausgenommen sind in § 6 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX die Träger der Alterssicherung der Landwirte für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 5 Nr. 2 SGB IX. Die Vertreterin der Beigeladenen im damaligen Termin hatte also zu Recht darauf hingewiesen, dass die Beigeladene nicht Rehabilitationsträger für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sein kann, weil das GAL keine entsprechenden Leistungen vorsieht. Auch der Vorsitzende Richter hat dies wohl gegenüber dem Prozessbevollmächtigten des Klägers bestätigt. Der Kläger wiederum hat mit Schreiben vom 23.12.2014 im Rahmen des Widerspruchsverfahrens des jetzigen Verfahrens ausgeführt, dass das Gericht (damals) gemeint habe, dass die Rentenversicherung zuständig sei. Es war deshalb für alle an der mündlichen Verhandlung vom 28.05.2014 Beteiligten von Anfang an klar, dass die Beigeladene nicht Rehabilitationsträger sein konnte und damit auch keine Klärung der Leistungszuständigkeit durch das Verfahren nach § 14 SGB IX erforderlich war. Insoweit wurde vom damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers zwar ein Antrag auf Leistungen zur beruflichen Rehabilitation in der mündlichen Verhandlung formuliert, aber allein der Umstand, dass das Gericht dies dann auch zu Protokoll genommen hatte, nachdem der Prozessbevollmächtigte des Klägers in Kenntnis der Unzuständigkeit der Beigeladenen und dortigen Beklagten darauf bestanden hatte, bedeutet nicht, dass in diesem Augenblick der Antrag auch bei einem Rehabilitationsträger nach § 6 SGB IX eingegangen und das Verfahren nach § 14 SGB IX eingeleitet worden ist. Vielmehr ist ein Eingang bei einem für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach zuständigen Rehabilitationsträger erst am 17.07.2014 mit Eingang des Schreibens der Beigeladenen vom 16.07.2014 mit beigefügtem Protokoll des SG vom 28.05.2014 und der Abschrift des Urteils vom 28.05.2014 bei der Beklagten anzunehmen. Die Beklagte hat sich aufgrund der von der Beigeladenen hierbei übersandten Unterlagen für grundsätzlich leistungszuständig angesehen und hat dem Kläger die Formblattunterlagen übersandt, die dieser im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 ff. Erstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB I – ausfüllen sollte. Dies hat er getan und die ausgefüllten Unterlagen am 11.09.2014 an die Beklagte zurückgereicht. Diese hat anschließend in der Sache auch entschieden.
Ein rechtlich bindender Eingang des Antrags bei der Beigeladenen im Sinne des § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX bereits am 28.05.2014 in der mündlichen Verhandlung mit der Folge des Eintritts der Bindungswirkung zur Entscheidung über diesen Antrag nach Ablauf von 2 Wochen kann entgegen der Ansicht des SG auch nicht dadurch begründet werden, dass laut Protokoll die Sitzungsvertreterin der Beigeladenen die Anträge entgegengenommen und baldige Bearbeitung zugesichert hatte. Im Protokoll ist bereits zuvor festgehalten worden, dass im Falle der sachlichen Unzuständigkeit der Beigeladenen der Antrag an die zuständige Rentenversicherung weitergeleitet werden solle. Die Sitzungsvertreterin der Beigeladenen und dortigen Beklagten hatte keinerlei rechtliche Ermächtigung für die hiesige Beklagte Anträge im Rechtssinne entgegenzunehmen. Eine entsprechende Vollmacht lag nicht vor. Die Sitzungsvertreterin war auch kein Empfangsbote im rechtlichen Sinne. Empfangsbote ist, wer vom Empfänger zur Entgegennahme von Erklärungen bestellt worden ist oder nach der Verkehrsanschauung als bestellt anzusehen ist (Ellenberger, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 78. Aufl., 2019, § 130 BGB Rdnr 9 ff. m. w. N.). Die Beklagte hatte mit der damaligen Sitzungsvertreterin der Beigeladenen nichts zu tun, diese war sicherlich nicht zur Entgegennahme einer Erklärung oder einer Antragstellung für die hiesige Beklagte bestellt worden. Sie ist auch nicht nach der Verkehrsauffassung als bestellt anzusehen, weil aufgrund des gegliederten Sozialversicherungssystems ein benannter Sitzungsvertreter jeweils nur für seinen Dienstherrn auftritt und für eine Weiterung einer entsprechenden Terminsvollmacht des anderen Trägers bedürfte. Eine solche lag aber nicht vor. Dies war dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers auch bekannt.
Die „Entgegennahme“ des Antrags durch die Sitzungsvertreterin der Beigeladenen und dortigen Beklagten – so wie dies im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28.05.2014 festgehalten ist – könnte deshalb allenfalls im Sinne einer „Entgegennahme“ nach § 16 Abs. 1 S. 2 SGB I zu verstehen sein. Gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 SGB I sind Anträge auf Sozialleistungen beim zuständigen Leistungsträger zu stellen. Der Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben hätte deshalb vom Prozessbevollmächtigten des Klägers bzw. vom Kläger selbst bei der hiesigen Beklagten gestellt werden müssen. Zugunsten des Klägers könnte aber entsprechend der Regelung des § 16 Abs. 1 S. 2 SGB I davon ausgegangen werden, dass der in der mündlichen Verhandlung vor dem SG im Verfahren S 15 LW 9/11 durch die Aufnahme in das Sitzungsprotokoll „gestellte“ Antrag vor einer unzuständigen Stelle gestellt wurde, dort von der Vertreterin eines anderen – unzuständigen – Leistungsträgers entgegengenommen wurde und dann nach Zugang des Sitzungsprotokolls und der Abschrift des Urteils – und damit mit den Unterlagen, die eine Zuständigkeitsprüfung durch die hiesige Beklagte zugelassen haben – den Antrag an die Beklagte als dem Grunde nach zuständigen Leistungsträger weitergeleitet wurde. Dieses Vorgehen, das in § 16 SGB I für alle Arten von Anträgen geregelt ist, ist Ausdruck des kläger- bzw. versichertenfreundlichen Verfahrens und soll Nachteile vermeiden, die sich aus Unkenntnis über die Zuständigkeiten im gegliederten System der gesetzlichen Sozialversicherung oder sonstiger Leistungsträger ergeben könnten. § 14 Abs. 5 SGB IX, der eine Anwendung des § 16 Abs. 2 S. 1 SGB I ausschließen würde, greift insoweit nicht ein, weil es sich vorliegend gerade nicht um einen Leistungsantrag handelte, der bei einem Rehabilitationsträger eingegangen war (Joussen, a.a.O., § 14 SGB IX, Rdnr 22).
Die an sich nicht unübliche Praxis, dass bei erfolglosen Klageverfahren auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung versucht wird, wenigstens Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben für den Versicherten zu erreichen und dass dies der Einfachheit halber zu Protokoll in der mündlichen Verhandlung gestellt wird, wobei dies in der Regel gegenüber dem gleichen Sozialleistungsträger erfolgt, würde bei einer Leistungszuständigkeit eines anderen Leistungsträgers – wie vorliegend -, die Sichtweise des SG unterstellt, zu dem „fatalen“ Ergebnis führen, dass infolge einer Anwendung des § 14 SGB IX eine Leistungszuständigkeit mit der entsprechenden Verpflichtung zur Kostenträgerschaft zu Lasten des Sozialleistungsträgers eintreten könnte, gegen den gegebenenfalls ein Reha-Anspruch nicht bestehen würde, und zwar aufgrund des reinen Zeitablaufs zwischen der Erstellung des Protokolls und gegebenenfalls der Entscheidung und der Zustellung der Unterlagen an die Prozessbeteiligten. Dies ist von der Zielsetzung des § 14 SGB IX nicht gewollt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers und der Kläger wussten aufgrund der Hinweise in der mündlichen Verhandlung schon vor „Antragstellung“ um die sachliche Unzuständigkeit der Beigeladenen und dortigen Beklagten, so dass ein Zuständigkeitsstreit möglicher Träger von vorneherein ausgeschlossen war.
Das Urteil des SG ist auch insoweit fehlerhaft, als es die Beigeladene zum Erlass eines Bescheides unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet hatte. Ein sog. Verbescheidungsurteil ist nur dann zulässig, wenn der Adressat aufgrund gesetzlicher Regelungen einen Ermessensspielraum inne hat oder untergesetzliche Normen (z. B. eine Satzung oder Beurteilungsgrundsätze) nichtig sind, auf die die bisherige Entscheidung gestützt wurde (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., § 131 SGG Rdnr 12c m. w. N.). Das Gericht muss die Sache vielmehr spruchreif machen und den Sachverhalt vollständig ermitteln und gegebenenfalls auch andere Ablehnungsgründe prüfen. Ausgehend von seiner Prämisse, dass die Beigeladene über § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX als erstangegangener Leistungsträger zuständig sei, hätte es die Beigeladene verurteilen müssen, dem Grunde nach Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben an den Kläger zu erbringen. Zuvor hätte das SG aber klären müssen, nach welchen sozialrechtlichen Vorschriften überhaupt Rehaleistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für den Kläger in Betracht gekommen wären. Dies hat das SG aber nicht getan. Bei der Frage, „ob“ Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu erbringen sind, handelt es sich um eine gebundene Entscheidung, lediglich die Ausgestaltung, also das „Wie“ der Leistung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Sozialleistungsträgers.
II. Kein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach §§ 9 ff. SGB VI iVm §§ 49 ff. SGB IX.
Gemäß § 9 Abs. 1 SGB VI erbringen die Träger der Rentenversicherung Leistungen zur Prävention, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Leistungen zur Nachsorge sowie ergänzende Leistungen, um
1. den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten vorzubeugen, entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und
2. dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern.
Gemäß § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VI haben die Leistungen zur Prävention Vorrang vor den Leistungen zur Teilhabe. Die Leistungen zur Teilhabe habe Vorrang vor Rentenleistungen, die bei erfolgreichen Leistungen zur Teilhabe nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (§ 9 Abs. 1 S. 3 SGB VI). Die Leistungen nach § 9 Abs. 1 SGB VI sind gemäß § 9 Abs. 2 SGB VI zu erbringen, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach §§ 10 und 11 SGB VI erfüllt sind.
Die Beklagte hat im Verfahren angegeben, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Klägers im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI erfüllt sind. Der Kläger hat in der gesetzlichen Rentenversicherung die sog. große Wartezeit von 15 Jahren erfüllt.
Der Kläger erfüllt aber nicht die notwendigen persönlichen Voraussetzungen nach § 10 SGB VI.
Gemäß § 10 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen erfüllt,
1.deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und
2.bei denen voraussichtlich
a. bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann,
b. bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch diese Leistungen wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann
c. bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
aa. der bisherige Arbeitsplatz erhalten werden kann oder
bb. ein anderer in Aussicht stehender Arbeitsplatz erlangt werden kann, wenn die Erhaltung des bisherigen Arbeitsplatzes nach Feststellung des Trägers der Rentenversicherung nicht möglich ist.
Unter Berücksichtigung dieser gesetzlichen Voraussetzungen kommen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 16 SGB VI iVm §§ 49 bis 54 SGB IX für den Kläger zu Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung nicht in Betracht. Anknüpfungspunkt ist hierfür nicht die zuletzt (und immer noch) vom Kläger ausgeübte Tätigkeit eines selbständigen Landwirts. Vielmehr ist stets auf die zuletzt versicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit abzustellen, d.h. vorliegend die Tätigkeit als Maurer. Diese Tätigkeit hatte der Kläger aber aus freien Stücken im Jahr 2001 aufgegeben, um anschließend bis heute in selbständiger Tätigkeit die eigene Landwirtschaft zu betreiben. Im Zeitpunkt der Aufgabe der Tätigkeit als Maurer im Jahr 2001 hatte der Kläger keinerlei gesundheitliche Einschränkungen, die zu einer Gefährdung seiner Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit hätten führen können oder geführt haben. Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, dass im Versicherungsverlauf des Klägers keine Zeiten einer Arbeitsunfähigkeit mit entsprechendem Sozialleistungsbezug oder entsprechende Ausfallzeiten vermerkt wären. Der Kläger hat selbst angegeben, dass er im Jahr 2005 den Nabelbruch spontan erlitten hatte, als er einen Baumstamm hochheben wollte, so dass auch daraus keine länger zurückliegende – die Erwerbsfähigkeit im Beruf des Maurers beeinträchtigende – Erkrankung des Klägers gefolgert werden könnte. Die Anerkennung des Vorliegens eines Arbeitsunfalls ist rechtskräftig abgelehnt worden. Es handelte sich um eine sog. Gelegenheitsursache.
Darüber hinaus fehlt es auch an dem in § 10 SGB VI genannten Zweck der Leistungen zur beruflichen Rehabilitation, für die die Beklagte als Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zuständig sein könnte. § 10 SGB VI knüpft daran an, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers erheblich gefährdet war, eine Erwerbsminderung abgewendet werden könnte oder durch Rehaleistungen zumindest der bisherige Arbeitsplatz erhalten oder ein anderer in Aussicht stehender Arbeitsplatz erlangt werden könnte. Hierbei ist nicht auf die Besonderheiten des zuletzt inne gehabten Arbeitsplatzes abzustellen, sondern auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten für die typischen Anforderungen des zuletzt versicherungspflichtig ausgeübten Berufs und darauf, ob durch entsprechende Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben eine Wiedereingliederung in diesen Beruf erfolgen könnte.
Zum Zeitpunkt der Aufgabe der versicherungspflichtigen Tätigkeit als Maurer lag eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit des Klägers für die typischen Anforderungen dieses Berufs – wie oben ausgeführt – nicht vor. Die selbständige Tätigkeit als Landwirt ist in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht versichert und damit nicht maßgebend. Einen Arbeitsplatz in abhängiger Beschäftigung, der durch die Gefährdung der Erwerbsfähigkeit infolge einer Krankheit oder Behinderung erhalten oder erlangt werden könnte, hat der Kläger seit 2001 nicht mehr inne. Er könnte aufgrund seiner derzeitigen gesundheitlichen Situation die Tätigkeit eines Maurers nicht mehr vollschichtig verrichten, so zumindest die Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. S1 im Gutachten vom 24.11.2015. Infolge des massiven Nabelbruchs, der auch durch die Operation im Jahr 2015 nicht geheilt werden konnte, ist schweres Heben und Tragen, das zwingend mit einer Tätigkeit als Maurer verbunden ist, nicht mehr wettbewerbsfähig möglich.
Dem SG ist zuzustimmen, wenn es darauf hinweist, dass eine Zehnjahresfrist – wie von der Beklagten zunächst vorgetragen – in dieser generellen Form gesetzlich nicht geregelt ist. Das BSG hatte mit Urteil vom 29.03.2006 (B 13 RJ 37/05 R, juris) für Leistungen zur beruflichen Rehabilitation nach der bis zum 31.12.2000 geltenden Rechtslage entschieden, dass es auf eine Minderung des Leistungsvermögens des Versicherten in einer nicht nur kurzfristig ausgeübten Tätigkeit ankommt. Die bisherige Ausübung einer Beschäftigung, für die eine Ausbildung erforderlich sei und die Berufsschutz nach sich ziehe, werde nicht vorausgesetzt. Damit wurde klargestellt, dass im Rahmen der Leistungen zur Rehabilitation nicht auf den Prüfungsmaßstab für eine Erwerbsminderungsrente (§ 43 SGB VI) abzustellen ist, sondern auf die konkrete, nicht nur kurzfristig ausgeübte Tätigkeit, die zuletzt vor Eintritt der Gefährdung der Erwerbsfähigkeit infolge Krankheit oder Behinderung versicherungspflichtig ausgeübt wurde. Dabei kommt es auf die typischen Anforderungen dieser Tätigkeit an.
Mit Urteil vom 12.03.2019 hat das BSG ausdrücklich festgestellt, dass ohne zeitliche Begrenzung regelmäßig an die letzte versicherungspflichtige Tätigkeit anzuknüpfen ist (Az.: B 13 R 27/17 R, juris). Das BSG stellt aber auch in dieser Entscheidung darauf ab, ob Leistungen zur Teilhabe geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit des Versicherten in seinem letzten versicherungspflichtig ausgeübten Beruf wesentlich zu bessern oder wiederherzustellen oder ob hierdurch eine wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann. Erwerbsfähigkeit in diesem Sinne ist die Fähigkeit, den bisherigen Beruf – oder die bisherige Tätigkeit – weiter ausüben zu können. Zu prüfen sei demnach – so das BSG in diesem Urteil (Rn 20) -, ob der Versicherte unabhängig von den Besonderheiten des bisher bzw. gerade innegehabten Arbeitsplatzes den typischen Anforderungen des ausgeübten Berufs oder der ausgeübten Tätigkeit noch nachkommen kann. Nicht maßgeblich sind aber Tätigkeiten, die nur verhältnismäßig kurze Zeit verrichtet werden (so BSG, Urteil vom 06.09.2017 – B 13 R 20/14 R) oder nicht versicherungspflichtig ausgeübt worden sind. Das BSG weist weiter darauf hin, dass eine Minderung der Erwerbsfähigkeit „wegen“ Krankheit bzw. Behinderung des Versicherten eingetreten sein müsse. Ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sei ausgeschlossen, wenn die erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, also die Unfähigkeit eines Versicherten, seinen bisherigen Beruf oder seine bisherige Tätigkeit weiter ausüben zu können, nicht auf Krankheit oder Behinderung beruht. Dabei sei der Rentenversicherung zu folgen, wenn sie in einer solchen Konstellation die „Erwerbsfähigkeit“ nicht nur anhand des bisherigen Berufs bzw. der bisherigen Tätigkeit, sondern auch anhand der Fähigkeit des Versicherten prüft, eine Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes weiter ausüben zu können. Anspruchsbegründend sei aber auch im Rahmen dieser subsidiären Prüfung nur eine auf Krankheit oder Behinderung beruhende erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Maßstab der Kausalitätsprüfung sei auch im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung die Lehre von der wesentlich mitwirkenden Bedingung. In diesem Sinne könne eine überragende Ursache im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI auch der Verlust verwertbarer Fähigkeiten im „bisherigen Beruf“ sein, sei es durch arbeitsmarktbedingte Berufs- oder Tätigkeitsentfremdung infolge eines grundlegenden Wandels der fachlichen Anforderungen oder durch individuelle Berufs- bzw. Tätigkeitsentfremdung aufgrund des Verlustes der notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten durch langfristige Nichtausübung. Diese Umstände gehörten nicht zur Risikosphäre der gesetzlichen Rentenversicherung. Eine individuelle Entfremdung komme regelmäßig erst nach einer längeren Zeit der Nichtausübung eines Berufes bzw. einer Tätigkeit in Betracht. In Anlehnung an die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Weiterbildungsbedarfes berufsentfremdeter Arbeitnehmer mit Berufsabschluss nach § 81 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), die auch den Fall einer 4-jährigen Arbeitslosigkeit erfasse, erschienen individuelle Ermittlungen frühestens nach Ablauf von vier Jahren nach letztmaliger Ausübung des Bezugsberufs notwendig.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist vorliegend davon auszugehen, dass eine individuelle Entscheidung des Klägers wesentlich mitwirkende Bedingung für die Leistungseinschränkungen für den Beruf des Maurers gewesen ist. Der Kläger hat ohne entsprechende gesundheitliche Einschränkungen, die Auswirkungen auf seine Erwerbsfähigkeit hätten haben können, die Entscheidung getroffen, die versicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit als Maurer aufzugeben und die eigene Landwirtschaft als Vollerwerbslandwirt selbständig auszuüben. Er hat unmittelbar nach dem erlittenen Nabelbruch bei der Beklagten keinerlei Leistungen beantragt gehabt. Bis zum Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Jahr 2014 hat der Kläger in dem Beruf als Maurer nicht mehr versicherungspflichtig gearbeitet. Ein Arbeitsplatz ist nicht mehr vorhanden gewesen, es stand auch kein entsprechender Arbeitsplatz in Aussicht. Der Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente bei der Beigeladenen von 2010 ist – entgegen der Ansicht des SG – nicht gleichzeitig als Reha-Antrag zu sehen. Es kommt auch nicht darauf an, dass der Nabelbruch sich im Jahr 2005 ereignet hatte, also – wie das SG fehlerhaft meint – innerhalb von 10 Jahren nach Aufgabe des Berufs. Allerdings war insoweit auch die Begründung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid fehlerhaft, weil der Kläger weder arbeitslos noch beschäftigungssuchend gewesen ist, sondern selbständig tätig gewesen ist.
Die Beklagte hat deshalb zu Recht im Rahmen der Prüfung der Frage, ob eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit des Klägers vorliegt, auf die Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes abgestellt, für die von den Sachverständigen im vorangegangenen Verfahren wegen Gewährung einer Erwerbsminderungsrente und zuletzt im SG-Verfahren durch das Gutachten von Dr. S1 ein mindestens 6-stündiges Leistungsvermögen unter Beachtung qualitativer Einschränkungen festgestellt wurde. Die Beklagte hat deshalb zu Recht mit streitgegenständlichem Bescheid vom 25.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.03.2015 einen Anspruch des Klägers auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben abgelehnt. Ob und in welcher Form eine berufliche Förderung des Klägers nach den Vorschriften der Arbeitsförderung in Betracht käme, war vorliegend nicht zu entscheiden.
Nach alledem war auf die Berufung der Beigeladenen hin das Urteil des SG vom 30.05.2016 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 25.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.03.2015 als unbegründet abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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