Medizinrecht

Verkürzung des Genesenenstatus, feststellungsfähiges Rechtsverhältnis zum Rechtsträger der Kreisverwaltungsbehörde auch im Falle einer bundesgesetzlichen Regelung bejaht, bisherige verfassungsrechtliche Bedenken durch Einführung von § 22a IfSG ausgeräumt, kein Fall des Rückwirkungsverbots

Aktenzeichen  AN 18 E 22.00682

Datum:
6.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 6986
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
VwGO § 43
§§ 2 Nr. 5 SchAusnahmV a.F., 22a IfSG
IfSG § 20a
IfSG § 4

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Verkürzung ihres Genesenenstatus in Folge der am 15. Januar 2022 in Kraft getretenen Änderung des § 2 Nr. 5 COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung (SchAusnahmV).
1. § 2 Nr. 5 SchAusnahmV lautete i.d.F. v. 8. Mai 2021, gültig bis einschließlich 14. Januar 2022:
„Im Sinne dieser Verordnung ist (…)
5. ein Genesenennachweis ein Nachweis hinsichtlich des Vorliegens einer vorherigen Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 in deutscher, englischer, französischer, italienischer oder spanischer Sprache in verkörperter oder digitaler Form, wenn die zugrundeliegende Testung durch eine Labordiagnostik mittels Nukleinsäurenachweis (PCR, PoC-PCR oder weitere Methoden der Nukleinsäureamplifikationstechnik) erfolgt ist und mindestens 28 Tage sowie maximal sechs Monate zurückliegt, (…)“
Durch Art. 1 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung zur Änderung der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung und der Coronavirus-Einreiseverordnung vom 14. Januar 2022 (BAnz AT 14.01.2022 V1) erhielt § 2 Nr. 5 SchAusnahmV mit Wirkung vom 15. Januar 2022 folgende Fassung:
„Im Sinne dieser Verordnung ist (…)
5. ein Genesenennachweis ein Nachweis hinsichtlich des Vorliegens eines durch vorherige Infektion erworbenen Immunschutzes gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 in deutscher, englischer, französischer, italienischer oder spanischer Sprache in verkörperter oder digitaler Form, wenn der Nachweis den vom Robert Koch-Institut im Internet unter der Adresse www.rki.de/covid-19-genesenennachweis unter Berücksichtigung des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft veröffentlichten Vorgaben hinsichtlich folgender Kriterien entspricht:
a) Art der Testung zum Nachweis der vorherigen Infektion,
b) Zeit, die nach der Testung zum Nachweis der vorherigen Infektion vergangen sein muss, oder Nachweis zur Aufhebung der aufgrund der vorherigen Infektion erfolgten Absonderung,
c) Zeit, die die Testung zum Nachweis der vorherigen Infektion höchstens zurückliegen darf, (…)“
Die Internetseite des Robert Koch-Instituts sah unter www.rki.de/covid-19-genesenennachweis veröffentlicht bei ihren fachlichen Vorgaben für Genesenennachweise unter c, mit Wirkung vom 15. Januar 2022, folgendes vor:
„[D]as Datum der Abnahme des positiven Tests darf höchstens 90 Tage zurückliegen.“
Mit der Zweiten Verordnung zur Änderung der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung vom 18. März 2022 (BGBl. 2022, Teil I, Nr. 10 v. 18.3.2022) wurde § 2 Nr. 5 SchAusnahmV aufgehoben und in § 2 Nr. 4 SchAusnahmV folgendes bestimmt:
„Im Sinne dieser Verordnung ist (…)
4. eine genesene Person eine asymptomatische Person, die im Besitz eines auf sie ausgestellten Genesenennachweises im Sinne von § 22a Absatz 2 des Infektionsschutzgesetzes ist, (…)“
Durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und anderer Vorschriften vom 18. März 2022 (BGBl. 2022, Teil I, Nr. 10 v.18.3.2022) wurde in § 22a Abs. 2 IfSG mit Wirkung ab dem 19. März 2022 folgendes bestimmt:
„(…)
(2) Ein Genesenennachweis ist ein Nachweis hinsichtlich des Vorliegens eines durch vorherige Infektion erworbenen Immunschutzes gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 in deutscher, englischer, französischer, italienischer oder spanischer Sprache in verkörperter oder digitaler Form, wenn
1. die vorherige Infektion durch einen Nukleinsäurenachweis (PCR, PoC-NAAT oder weitere Methoden der Nukleinsäureamplifikationstechnik) nachgewiesen wurde und
2. die Testung zum Nachweis der vorherigen Infektion mindestens 28 Tage und höchstens 90 Tage zurückliegt.“
2. Die nicht gegen das Coronavirus geimpfte Antragstellerin hatte sich mit dem Coronavirus infiziert, was durch Testung am 7. Januar 2022 durch eine Labordiagnostik mittels Nukleinsäure-Nachweis festgestellt worden war.
Mit Schriftsatz vom 3. März 2022, beim Verwaltungsgericht Ansbach am 4. März 2022 eingegangen, begehrte die Antragstellerin durch ihre Prozessbevollmächtigte einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 VwGO und ließ zuletzt beantragen,
vorläufig festzustellen, dass der Genesenenstatus der am 7. Januar 2022 mittels Nukleinsäurenachweis (PCR) positiv auf COVID-19 getesteten Antragstellerin bis 6. Juli 2022 fortbesteht.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Verkürzung des Genesenenstatus für Ungeimpfte von ursprünglich sechs Monaten auf nunmehr 90 Tage durch die Änderung in § 2 Nr. 5 SchAusnahmV ab 15. Januar 2022 verfassungswidrig gewesen sei. Die Antragstellerin sei in einem Klinikum beschäftigt, weshalb sie ab dem 8. April 2022 einem Beschäftigungsverbot ausgesetzt sei.
Nach gerichtlichem Hinweis vom 29. März 2022 auf die ab dem 19. März 2022 gültige Rechtslage erklärte die Antragstellerin, ihren Antrag aufrecht erhalten zu wollen, und begründete dies im Wesentlichen damit, dass die nunmehr in § 22a Abs. 2 IfSG enthaltene Verkürzung des Genesenenstatus auch materiell unwirksam sei.
Der Antragsgegner äußerte sich in vorliegendem Verfahren nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Die Antragstellerin strebt nach Auslegung des gestellten Antrags (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO) mit ihrem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Aufrechterhaltung ihres Status als Genesene an, wie dieser zunächst in § 2 Nr. 5 SchAusnahmV i.d.F.v. 8. Mai 2021 geregelt war, jedoch zunächst mit der Verordnung zur Änderung der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung und der Coronavirus-Einreiseverordnung vom 14. Januar 2022 und schließlich auch mit Einführung des § 22a Abs. 2 IfSG eingeschränkt wurde.
Dieser Antrag ist zwar zulässig (1.), erweist sich jedoch als unbegründet (2.).
1. Ein Rechtsschutzbegehren, wie es vorliegend geltend gemacht wird, ist mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO gerichtet auf eine vorläufige Feststellung zwar grundsätzlich erreichbar, weil diesem Begehren insbesondere ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne von § 43 VwGO zugrunde liegt.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden.
Inmitten steht vorliegend ein in diesem Sinne streitiges Rechtsverhältnis, da es entscheidungserheblich um die Frage geht, ob die Antragstellerin auch nach Ablauf von 90 Tagen seit der zu Grunde liegenden Testung als genesen gemäß § 22a Abs. 2 IfSG gilt. Dabei handelt es sich um ein (auch) zwischen der Antragstellerin und dem Antragsgegner streitiges Rechtsverhältnis, auch wenn es sich bei der nunmehr in § 22a Abs. 2 IfSG enthaltenen und hier in Frage stehenden Regelung um ein parlamentarisches Gesetz des Bundes handelt.
1.1 Die erkennende Kammer bezieht sich dabei auf die aktuelle Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes unter Geltung des § 2 Nr. 5 SchAusnahmV mit Wirkung vom 15. Januar 2022 durch Entscheidung jeweils vom 3. März 2022 (20 CE 22.525 und 20 CE 22.536), wonach zwischen der örtlich zuständigen Kreisverwaltungsbehörde als Normanwenderin und dem Normadressaten ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne von § 43 VwGO besteht (so bereits VG Ansbach, B.v. 11.2.2022 und 24.2.2022 – AN 18 E 22.00234 und AN 18 E 22.00402; ebenso VG München, B.v. 22.2.2022 – M 26a E 22.662, M 26a E 22.663, M 26b E 22.730; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 1.3.2022 – OVG 9 S 5/22, OVG 9 S 6/22, OVG 9 S 7/22, OVG 9 S 9/22). Das Rechtsverhältnis besteht dabei zum Antragsgegner als dem Träger der sachlich und örtlich für die Überwachung und Durchsetzung des Infektionsschutzgesetzes und der darauf beruhenden Verordnungen des Bundes und des Freistaats Bayern zuständigen Kreisverwaltungsbehörde, § 54 IfSG i.V.m. § 65 ZustV. Daran ändert sich auch nichts durch die Tatsache, dass die vorstehend genannten, ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis bejahenden Entscheidungen auf § 2 Nr. 5 SchAusnahmV a. F. und damit auf einer (Bundes-)Verordnung beruhten und nunmehr ein parlamentarisches (Bundes-)Gesetz in Streit steht. Zwar kommt für die generelle, d.h. allgemeingültige Klärung der Frage, ob die Neuregelung des Genesenenstatus durch § 22a IfSG verfassungsgemäß ist, eine prinzipale Normenkontrolle in Form der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht in Betracht. Dies schließt aber – auch vor dem Hintergrund der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und der erforderlichen Erschöpfung des Rechtsweges – nicht aus, dass ein Rechtsschutzbedürfnis für einen Feststellungsantrag gemäß § 43 VwGO im Verhältnis des Normadressaten zum Normanwender besteht und gerichtlich eingeklagt werden kann. Die Entscheidungswirkung aufgrund eines solchen Feststellungsantrages ist jedoch auf die Parteien des Rechtsstreits begrenzt.
1.2 Dies zugrunde gelegt ergibt sich auch kein Widerspruch zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. Juni 2020 (BayVGH, B.v. 18.6.2020 – 20 CE 1388 – juris). Dort hatte der BayVGH ausgeführt, dass für einen Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO mit dem Inhalt, vorläufig festzustellen, dass die zugrundeliegenden Normen (der damals gültigen Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung) dem begehrten Verhalten nicht entgegenstehen, dann kein Raum sei, wenn dies zu einer Umgehung der besonderen Voraussetzungen und Wirkungen des Rechtsschutzverfahrens nach § 47 Abs. 6 VwGO führen würde (BayVGH, aaO, Rn. 2, juris). Vorliegend ist, anders als in der vom BayVGH entschiedenen Konstellation, in Ermangelung einer untergesetzlichen landesrechtlichen Norm der Anwendungsbereich des § 47 VwGO schon nicht eröffnet, so dass es zu einer Umgehung der Voraussetzungen von § 47 VwGO nicht kommt. Im Verhältnis zur Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, die – neben der Richtervorlage gemäß Art. 100 GG – für Bundesgesetze die einzige prinzipielle Normenkontrollmöglichkeit darstellt, bestehen indes keine Bedenken im Hinblick auf eine Umgehung von deren Voraussetzungen. Die Verfassungsbeschwerde ist als außerordentlicher Rechtsbehelf ultima ratio und greift nur und erst dann ein, wenn Rechtschutz auf eine andere Weise nicht erreichbar bzw. gescheitert ist (Zulässigkeitsvoraussetzung der Rechtswegerschöpfung). Die vorausgehende Inzidentkontrolle ist damit die gesetzliche Regel und keine Umgehung der Verfassungsbeschwerde. Zudem ist das vorliegende Rechtsschutzbegehren gerade nicht auf eine vorläufige Außervollzugsetzung der bundesgesetzlichen Regelung in § 22a IfSG gerichtet. Vielmehr geht es der Antragstellerin nach Auslegung des gestellten Antrags darum, die Rechtswirkungen, welche mit der Verkürzung ihres Genesenenstatus einhergehen, vorläufig außer Vollzug zu setzen, um auf diese Weise der einrichtungsbezogenen Impfpflicht aufgrund von § 20a IfSG, deren Umsetzung seit dem 16. März 2022 gesetzlich angeordnet ist und deren Umsetzung für die Antragstellerin zu einer konkreten, sie belastenden Rechtsfolge führt, zumindest vorläufig zu entgehen. In diesem Zusammenhang wäre dem Begehren der Antragstellerin zwar auch abgeholfen, wenn die zugrundeliegende Norm außer Vollzug gesetzt würde. Daraus allein erwächst jedoch noch keine Unzulässigkeit des hier zur Entscheidung gestellten Antrags. Vielmehr steht es der Antragstellerin frei bzw. ist ihr wahrscheinlich im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes sogar anzuraten, sich in erster Linie im Verhältnis zum Normanwender, also der gemäß § 54 IfSG i.V.m. § 65 ZuStV zuständigen Kreisverwaltungsbehörde, gegen die ihr drohenden bzw. bereits aus der Norm resultierenden Vollzugsfolgen zur Wehr zu setzen. In Ermangelung eines Verwaltungsaktes steht insoweit nur ein Feststellungsantrag zur Verfügung.
2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist jedoch unbegründet.
Die Begründetheit des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt voraus, dass ein Antragsteller sowohl das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. seine materielle Anspruchsberechtigung, als auch eines Anordnungsgrundes, d.h. eine besondere Dringlichkeit, glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO. Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht regelmäßig nur vorläufige Entscheidungen treffen und einem Antragsteller noch nicht in vollem Umfang das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erstreiten könnte. Im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache jedoch nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar und in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären sowie ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht, der Antragsteller dort also schon aufgrund der im Verfahren des vorläufi-gen Rechtsschutzes anzustellenden, bloß summarischen Prüfung des Sachverhalts erkennbar Erfolg haben würde (vgl. etwa BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3.13 – juris Rn. 5, 7).
Gemessen an diesen Voraussetzungen dringt die Antragstellerin vorliegend mit ihrem Begehren nicht durch:
Denn es besteht bereits kein Anordnungsanspruch.
2.1 Durch die Änderungen zur Regelung des Genesenennachweises bzw. -status im Rahmen von Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und anderer Vorschriften v.
18. März 2022 (BGBL. 2022, Teil I, Nr. 10) wurde zum einen § 2 Nr. 5 SchAusnahmV i.d.F.v. 15. Januar 2022 aufgehoben. Zum anderen wurden die Voraussetzungen für die Erteilung eines Genesenennachweises und die hier in Streit stehende Verkürzung des Genesenenstatus von sechs Monaten auf 90 Tage in § 22a Abs. 2 IfSG selbst festgeschrieben.
Diese Neuregelung des Genesenenstatus beseitigt die Bedenken verfassungsrechtlicher Art, welche bundesweit durch verschiedene Verwaltungsgerichte und auch durch die hier erkennende Kammer in mehreren Eilbeschlüssen geäußert wurden (so z.B. VG Ansbach, B.v 11.2.2022 und 24.2.2022 – AN 18 E 22.00234 und AN 18 E 22.00402; ebenso VG München, B.v. 22.2.2022 – M 26a E 22.662, M 26a E 22.663, M 26b E 22.730; bestätigend BayVGH, B.v. 3.3.2022 – 20 CE 22.525 und 20 CE 22.536; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 1.3.2022 – OVG 9 S 5/22, OVG 9 S 6/22, OVG 9 S 7/22, OVG 9 S 9/22):
So liegt aufgrund der Neuregelung in § 22a Abs. 2 Nr. 2 IfSG, worin die Dauer des Genesenenstatus mit 90 Tagen – unmittelbar und ohne Verweis auf die Homepage des Robert Koch-Instituts – festgeschrieben wurde, kein Verstoß mehr gegen den Wesentlichkeitsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG vor.
Auch ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Bestimmtheit und Normenklarheit als Teil des Rechtsstaatsgebotes, Art. 20 Abs. 3 GG, ist aufgrund der Neuregelung nicht mehr festzustellen, denn die Regelung in § 22a Abs. 2 IfSG ermöglicht es dem Betroffenen, klar und leicht zu erkennen, ab welchem Zeitpunkt und bis zu welchem Zeitpunkt er als genesen gilt. Dabei genügt die Vorschrift nach summarischer Prüfung den durch die erhebliche Grundrechtssensibilität im Hinblick auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gesteigerten Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit (BVerfG, B.v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92 – juris Rn.103).
Hier wirkt sich durchgreifend aus, dass sich der Inhalt einer Norm – im Gegensatz zu einer Internetseite – nicht jederzeit und ohne weiteres ändern kann, sondern insoweit ein – hier sogar parlamentarisches – Rechtssetzungsverfahren erforderlich ist.
Den Bedenken der bundesweit ergangenen, überwiegenden Rechtsprechung zu der Verkürzung des Genesenenstatus durch Änderung des § 2 Nr. 5 SchAunahmV zum 15. Januar 2022 wurde nach Auffassung der erkennenden Kammer durch die Einführung des § 22a Abs. 2 IfSG i.d.F.v. 18. März 2022 ausreichend Rechnung getragen (ebenso VG Würzburg, B.v. 25.3.2022 – W 8 E 22.456 – juris; VG Schwerin, B.v. 30.3.2022 – 7 B 421/22 SN – juris; VG Freiburg (Breisgau), B.v. 24.3.2022 – 10 K 703/22 – juris Rn. 16 ff.).
2.2 Die Neuregelung stellt sich darüber hinaus nicht als wahrscheinlich oder gar offensichtlich verfassungswidrig dar.
a) Ein Verstoß gegen das als Teil des Rechtsstaatsgebotes ebenfalls in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rückwirkungsverbot, welches verschiedentlich auf Antragstellerseite geltend gemacht wurde, liegt nicht vor. Das Rückwirkungsgebot verbietet es, eine erworbene Rechtsposition durch Gesetzesänderung – ohne dass ein gesetzlicher Tatbestand wie §§ 48, 49 VwVfG erfüllt ist – zu entziehen, also eine Begünstigung aufzuheben oder eine festgelegte Belastung zu verschärfen (vgl. zur Begrifflichkeit Voßkuhle/Kaufhold: Grundwissen – Öffentliches Recht: Vertrauensschutz, JuS 2011, 794 – beck-online). Hiervon ausgehend ist die Frage, ob durch die Änderung der Genesenendefinition eine einstmals erworbene Rechtsposition, welche möglicherweise sogar unter den Eigentumsschutz des Art. 14 GG fallen würde, aufgehoben wird, zu verneinen. Zwar wird die Änderung des Tatbestandes, wie lange eine Person als genesen gilt, umgangssprachlich, aber auch in Fachpublikationen und in der Rechtsprechung gemeinhin als „Verkürzung des Genesenenstatus“ bezeichnet. Ein Status im Sinne einer verliehenen Rechtsposition, wie dies durch die verwendete Begrifflichkeit suggeriert wird, auf deren Aufrechterhaltung vertraut werden kann, liegt jedoch nach Auffassung der Kammer nicht vor.
Der „Genesenenstatus“ als solcher räumt selbst und unmittelbar noch gar keine Rechtsposition ein, welche durch die Verkürzung der Dauer etwa nachträglich entzogen oder begrenzt würde. Gesetzlicher Ausgangspunkt ist von jeher, also bereits in der ursprünglichen Regelung des § 2 Nr. 5 SchAusnahmV i.d.F.v. 8. Mai 2021, die Definition desjenigen gewesen, der als genesen anzusehen ist. An den sich anhand der gesetzlichen Regelung zu definierenden „Genesenen“ knüpfen sich wiederum (gesetzlich) bestimmte Rechtsfolgen an. Welche das im Einzelfall sind, ergibt sich aus den weiteren infektionsschutzrechtlichen Bestimmungen, zum Großteil aus den Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen der Länder, z.B. der Zugang zu bestimmten Einrichtungen oder die Möglichkeit der Teilnahme an bestimmten Freizeitaktivitäten. Zwar führt die Verkürzung des „Genesenenstatus“ durch § 22a Abs. 2 IfSG von ursprünglich sechs Monaten in § 2 Nr. 5 SchAusnahmV in der bis zum 14. Januar 2022 gültigen Fassung dazu, dass der Betroffene in Lebensbereichen, in denen die sog. 2G-Regel gilt, wie dies im Rahmen der hier angeführten einrichtungsbezogenen Impflicht letztlich der Fall ist, mit Ablauf der nunmehr geltenden 90 Tage nach dem Nachweis der Infektion von der Teilhabe ausgeschlossen sind. Allerdings stellt der „Genesenenstatus“ keine Rechtsposition dar, auf deren – von vorneherein begrenzten – Fortbestand der Betroffene vertrauen darf. Vielmehr dient der „Genesenstatus“ der sicherheitsrechtlichen Konkretisierung der Gefahr, welche von einer ungeimpften Person ausgeht. Der Gesetzgeber, dem hinsichtlich der Gefahreneinschätzung ein weiter Einschätzungsspielraum zukommt, ist durch das hier nicht einschlägige Rückwirkungsverbot nicht gehindert, nachträgliche Änderungen der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Einschätzungen zu übernehmen. Unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr und des Bevölkerungsschutzes vor den Gefahren der Pandemie ist er sogar gehalten, etwaige neue Erkenntnisse nachzuvollziehen und gesetzlich abzubilden.
b) Die Regelung des § 22a Abs. 2 IfSG stellt sich zudem nicht als unverhältnismäßig dar, auch nicht unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des hier zu entscheidenden Einzelfalls. Zwar existiert keine Übergangsregelung, aufgrund derer aus Gründen der Verhältnismäßigkeit etwa bis zu einem bestimmten Zeitpunkt die alte, für die Antragstellerin günstigere Rechtslage fortgelten würde. Aber, wie bereits bezüglich des – hier nicht einschlägigen Rückwirkungsverbots – ausgeführt, ist dem „Genesenenstatus“ keine schutzwürdige Rechtsposition zu entnehmen, deren Verkürzung unter dem Gesichtspunkt des schutzwürdigen Vertrauens in ihren Fortbestand zu einem für den Betroffenen unzumutbaren Eingriff führen würde. Darüber hinaus wurden keine Umstände – hinreichend konkret und substantiiert – vorgetragen, die in dem vorliegenden Einzelfall ein anderes Ergebnis indizieren würden.
c) Auch ein Verstoß gegen höherrangiges Europarecht, wie dies gelegentlich seitens der Antragsteller vorgetragen wurde, ist aus Sicht der Kammer nicht erkennbar. Zwar gilt „in Europa“ für den Genesenenstatus eine Frist von 180 Tagen (bzw. 6 Monaten) ab der ersten positiven Testung auf eine COVID-19-Infektion. Insoweit wird wohl unter anderem auf die Verordnung (EU) 2021/953 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2021 „über einen Rahmen für die Ausstellung, Überprüfung und Anerkennung interoperabler Zertifikate zur Bescheinigung von COVID-19-Impfungen und -Tests sowie der Genesung von einer COVID-19-Infektion (digitales COVID-Zertifikat der EU) mit der Zielsetzung der Erleichterung der Freizügigkeit während der COVID-19-Pandemie (Text von Bedeutung für den EWR) PE/25/2021/REV/1“ (Verordnung (EU) 2021/953) Bezug genommen.
Aus deren Erwägungsgrund 7 ergibt sich folgendes:
„Bei geimpften Personen, Personen mit einem aktuellen negativen COVID-19-Testergebnis und Personen, die in den vergangenen sechs Monaten von COVID-19 genesen sind, ist nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die sich stetig weiterentwickeln, das Risiko, andere Personen mit SARS-CoV-2 zu infizieren, offenbar geringer.“ (Verordnung (EU) 2021/953).“
Bereits aus der Zielsetzung („Erleichterung der Freizügigkeit“) kann die Reichweite der in der Verordnung enthaltenen Bestimmungen entnommen werden. Sie dient der Erleichterung der Freizügigkeit innerhalb der EU und nicht etwa der Festschreibung innerstaatlicher Pandemiebekämpfung, wozu die EU wohl auch keine Regelungskompetenz besäße.
d) Die Regelung des Genesenennachweises bzw. -status in § 22a Abs. 2 IfSG stellt sich auch unter Berücksichtigung der dem Gesetzgebungsverfahren zugrundliegenden wissenschaftlichen Erwägungen nicht als offensichtlich verfassungswidrig dar. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der sachlich fundierte Umgang mit einer neuartigen globalen Pandemie wie der Corona-Pandemie gerade davon geprägt ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse, auf welche die erforderlichen – in der Regel auch grundrechtsrelevanten – Maßnahmen gestützt werden, fortlaufend gewonnen, aufbereitet und auch immer wieder korrigiert werden müssen (so BVerfG, B.v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21 – juris Rn. 178). Das Robert Koch-Institut hat hinsichtlich des Genesenenstatus zuletzt ausgeführt, dass die Gültigkeit des Genesenennachweises von sechs Monaten auf 90 Tage zu reduzieren sei, da die bisherige wissenschaftliche Evidenz darauf hindeute, dass Ungeimpfte nach einer durchgemachten Infektion mit der Deltavariante oder einer früheren Virusvariante einen im Vergleich zur Reinfektion mit der Deltavariante herabgesetzten und zeitlich noch stärker begrenzten Schutz vor einer SARS-CoV-2-Infektion mit der Omikronvariante hätten (vgl. hierzu https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Genesenennachweis-old.html). Auf der Grundlage dieser wissenschaftlichen Einschätzung des Robert Koch-Instituts durfte der Gesetzgeber bei summarischer Prüfung jedenfalls ohne offensichtlichen Verfassungsverstoß von einer Dauer des Genesenenstatus von 90 Tagen ausgehen. Der Gesetzgeber hat dem Robert Koch-Institut im Zusammenhang mit dem Infektionsschutz eine besondere Rolle eingeräumt. So ist dem Institut durch § 4 IfSG unter anderem die Aufgabe übertragen, Konzeptionen zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen zu entwickeln. Dies schließt die Entwicklung und Durchführung epidemiologischer und laborgestützter Analysen sowie die Forschung zu Ursache, Diagnostik und Prävention übertragbarer Krankheiten mit ein. Gemäß § 4 Abs. 2 IfSG erstellt das Institut u.a. im Benehmen mit den jeweils zuständigen Bundesbehörden für Fachkreise als Maßnahme des vorbeugenden Gesundheitsschutzes Richtlinien, Empfehlungen, Merkblätter und sonstige Informationen zur Vorbeugung, Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung übertragbarer Krankheiten, wertet Daten zu meldepflichtigen Krankheiten und meldepflichtigen Nachweisen von Krankheitserregern infektionsepidemiologisch aus und stellt die Ergebnisse Behörden und Institutionen zur Verfügung. Es unterstützt die Länder und sonstigen Beteiligten bei ihren Aufgaben im Rahmen der epidemiologischen Überwachung nach diesem Gesetz (§ 4 Abs. 2 Nr. 5 IfSG). Dabei arbeitet es mit ausländischen Stellen und supranationalen Organisationen sowie mit der Weltgesundheitsorganisation und anderen internationalen Organisationen zusammen (§ 4 Abs. 3 IfSG). Der Gesetzgeber bringt damit zum Ausdruck, dass den Einschätzungen des Robert Koch-Instituts im Bereich des Infektionsschutzes besonderes Gewicht zukommt (vgl. BayVerfGH, Entscheidung vom 9.2.2021 – Vf. 6-VII-20 – juris Rn. 95 f.). Vor diesem Hintergrund ist unter Berücksichtigung der Einschätzungen des Robert Koch-Instituts die Festsetzung einer Genesenendauer von 90 Tagen in § 22a Abs. 2 IfSG – selbst bei Vorliegen etwaiger anderer wissenschaftlicher Erkenntnisse – bei der im Rahmen des Eilverfahrens erforderlichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung jedenfalls nicht offensichtlich fehlerhaft.
3. Nach alledem besteht der Genesenenstatus nicht wie begehrt fort, weil gemäß § 22a Abs. 2 IfSG die Testung nicht mehr als 90 Tage zurückliegen darf. Daher erweist sich der gestellte Eilantrag mangels glaubhaft gemachten Anordnungsanspruches als unbegründet und war somit bereits aus diesem Grunde abzulehnen, ohne dass auf die weitere Frage des Bestehens eines Anordnungsgrundes einzugehen wäre.
Eine Interessen- oder Folgenabwägung findet vorliegend nicht statt, weil bereits ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht ist. Somit kommt es auf die – in Literatur und Rechtsprechung streitige – Frage, ob die Entscheidung über einen Antrag im Sinne von § 123 Abs. 1 VwGO überhaupt einer Interessen- oder Folgenabwägung zugänglich ist, nicht entscheidungserheblich an.
4. Die Kostenentscheidung folgt daher aus § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG. Das Gericht orientiert sich dabei am Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Nach dessen Ziffer 1.5 beträgt in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes der Streitwert in der Regel ½. Allerdings kann auch in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, welche die Entscheidung in der Sache ganz oder zum Teil vorwegnehmen, der Streitwert bis zur Höhe des für das Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts angehoben werden. Hiervon wurde vorliegend Gebrauch gemacht.


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