Medizinrecht

Vertragsarztrecht: kein Ausschluss der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei geringem Regressbetrag

Aktenzeichen  L 12 KA 79/18 NZB

Datum:
12.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 26978
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 12, § 106
SGG § 144 Abs. 2

 

Leitsatz

Das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) steht der Durchführung einer Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise des Vertragsarztes auch bei zu erwartenden geringen Regressbeträgen nicht entgegen, denn die Wirtschaftlichkeitsprüfung nach §§ 106 ff. SGB V bezweckt nicht die Erzielung von Einnahme, sondern die Vertragsärzte zur Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes anzuhalten. (Rn. 25)

Verfahrensgang

S 43 KA 938/16 2018-09-27 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts München vom 27.09.2018, Az. S 43 KA 938/16, wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte und Beschwerdeführer trägt auch die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde.
III. Der Streitwert wird auf 322,92 € festgesetzt.

Gründe

I.
Gegenstand des Klageverfahrens war die Rechtmäßigkeit eines Arzneimittelregresses für das Quartal 2/2012.
Der Kläger und Beschwerdeführer (nachfolgend nur Kläger) war im streitgegenständlichen Quartal als Nervenarzt in überörtlicher Gemeinschaftspraxis in A-Stadt zur vertragsärztlichen Versorgung niedergelassen. Er verordnete bezüglich eines Patienten am 14.05.2012 und am 29.05.2012 Solvex Tabletten.
Mit Bescheid vom 31.10.2016 setzte die beklagte Prüfungsstelle Ärzte Bayern auf Antrag der beigeladenen Krankenkasse einen Regress in Höhe von insgesamt 322,92 € zu Lasten des Klägers fest. Sie begründete ihre Entscheidung mit dem Ausschluss des Wirkstoffes Reboxetin von der Versorgung. Inhaltliche Ausführungen, warum für den Patienten gerade Solvex Tabletten verordnet wurden, würden weder aus der Stellungnahme des Klägers noch aus dem Schreiben seines Prozessbevollmächtigten hervorgehen.
Dagegen richtete sich die Klage. Sie wurde im Wesentlichen damit begründet, dass das Bundessozialgericht den Rang des Wirtschaftlichkeitsgebotes besonders hervorhebe und ein Regressierungsverfahren allenfalls dann mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V übereinstimme, wenn die Verfahrenskosten den beizubringenden Zielbetrag nicht überstiegen. Der Verwirkungseinwand werde mit Verweis auf Urteil des BSG vom 05.07.2016 (vorbehaltlose Erteilung einer nicht offensichtlich unschlüssigen Schlussrechnung eines Krankenhauses, B 1 KR 40/15 R) ausdrücklich erhoben, die Kassenärztliche Vereinigung habe die streitgegenständliche Teilforderung des Klägers vorbehaltlos als nicht offensichtlich unschlüssig beglichen. Sogar die Zehn-Monats-Frist sei abgelaufen gewesen.
Die Zweifel an der demokratischen Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts mache sich der Kläger zu eigen. Auch für die Beurteilung pauschalisierter Nutzenbelege für Depressionserkrankungen verfüge der GBA nicht über die hinlängliche demokratische Legitimation. Jedenfalls sei der Regress in seinem medizinischen Kern unbegründet. Denn das verordnete Präparat habe dem behandelten Patienten jenseits aller statistisch und stochastisch algorithmisierten Hypothesen geholfen.
Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (nachfolgend nur Beklagte) verwies in ihrer Erwiderung unter anderem bezüglich des Verstreichens der Zehn-Monats-Frist auf die Rechtsprechung des BSG. Die Einhaltung der Vier-Jahres-Frist stehe außer Frage. Der Kläger habe im Verwaltungsverfahren nicht einmal allgemein auf Umstände zur Begründung eines medizinisch begründeten Einzelfalls hingewiesen.
Das Sozialgericht München hat die Klage mit Urteil vom 27.09.2018 abgewiesen.
Die Beklagte gehe in ihrem Bescheid vom 31.10.2016 zutreffend davon aus, dass die Verordnung von Reboxetin (Solvex, Edronax) gemäß der Anlage III Nr. 51 AMRL von der Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen ist. Die Richtlinien des GBA, aus denen sich im Zusammenhang mit dem SGB V der Ausschluss der Verordnung ergibt, seien nicht zu beanstanden (vgl. Urteil des SG Marburg vom 16.05.2018, S 12 KA 593/16, dokumentiert bei juris, RN 46).
Ein Schaden der Krankenkasse sei nach ständiger Rechtsprechung des BSG für die Rechtmäßigkeit eines Regresses wegen unzulässiger Verordnung nicht erforderlich. Der Kläger trage ansonsten keinerlei Umstände vor, aus denen sich ergeben könnte, dass hier im Einzelfall eine medizinisch begründete Ausnahmeverordnung vorliegt.
Was die vom Prozessbevollmächtigten vorgetragenen Zweifel an der demokratischen Legitimation des GBA angeht, so sei hier mit der Erwiderung der Beklagten im Schriftsatz vom 15.03.2017 auf die Rechtsprechung des BSG zu verweisen, das diese für ausreichend hält. Das Bundesverfassungsgericht habe die Frage offengelassen und die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Unstreitig sei die generell für vertragsärztliche Prüf- und Regressverfahrens bestehende Vier-Jahres-Frist bei der Festsetzung des Regresses eingehalten. Das Ablaufen der Zehn-Monats-Frist sei nach BSG kein Verfahrenshindernis (Urteil des BSG vom 18.08.2012, B 6 KA 14/09 R).
Zuletzt sei die Geringfügigkeitsgrenze eingehalten bei einem Regress in Höhe von 322,92 €.
Die Berufung wurde nicht zugelassen.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 19.12.2018 eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde. Das Vorgehen der Prüfungsstelle verstoße gegen das sozialversicherungsrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot, wie es vom BSG im Urteil vom 10.03.2015, Az. B 1 KR 3/15 R, definiert worden sei. Die Entscheidung des Sozialgerichts weiche daher von der Rechtsauffassung des BSG ab, weswegen die Berufung zuzulassen sei. Mit der genannten Entscheidung habe das BSG das Wirtschaftlichkeitsgebot dahingehend konkretisiert, dass alle Beteiligten des gesetzlichen Krankenversicherungssystems bei ihrem Handeln stets die Möglichkeit wirtschaftlichen Alternativverhaltens zu prüfen und gegebenenfalls zu nutzen hätten. Die Beklagte habe daher darlegen müssen, warum es der geringfügige Betrag rechtfertige, ein Regressverfahren gegen den Beklagten einzuleiten und durchzuführen. Hierzu fehle jeglicher Vortrag.
Der Beklagte stellte mit dem Beschwerdeschriftsatz vom 19.12.2018 den Antrag zu erkennen:
Auf die Beschwerde des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil SG München S 43 KA 938/16 vom 27. September 2018 – dem Beklagten zu Händen seiner Prozessbevollmächtigten in Schriftform zugestellt am 14. Dezember 2018 – zugelassen.
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 09.01.2019,
den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung abzulehnen.
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung seien nicht erfüllt. Eine grundsätzliche Bedeutung sei weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch sei ein Abweichen von einer höchstrichterlichen Entscheidung nicht ersichtlich.
Die Beigeladene zu 1) hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Die Beigeladene zu 2) hat ausgeführt, dass eine grundsätzliche Bedeutung weder vorgetragen noch ersichtlich sei.
Dem Senat lagen die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, die Akten des Sozialgerichts München zum Verfahren S 43 KA 938/16 sowie die Beschwerdeakte vor.
II.
Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist nicht begründet.
Das Rechtsmittel der Berufung, das nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG vorliegend ausgeschlossen ist, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 € nicht übersteigt, ist nicht nach § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen. Die in den Nrn. 1 bis 3 dieser Vorschrift normierten Zulassungsvoraussetzungen liegen nicht vor.
1. Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu. Sie wirft eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, nicht auf.
Eine Rechtsfrage hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie bisher ungeklärt ist und ihre Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern (Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 145 Rn. 28). Die Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und klärungsfähig sein.
Der Kläger wirft sinngemäß die Frage auf, ob Wirtschaftlichkeitsprüfungen auch bei zu erwartenden geringen Regressbeträgen durchgeführt werden dürfen. Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig. Sie lässt sich ohne Weiteres aus dem Gesetz beantworten. Zweck des Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahrens ist, die Vertragsärzte zur Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots anzuhalten (Engelhard, in: Hauck/Noftz, SGB, 11/17, § 106 SGB V Rn. 37 mit Verweis auf BSG SozR 3-2500 § 87 Nr. 32, S. 180, 182/183 unter Hinweis auf BSGE 76, 53, 54 = SozR 3-2500 § 106 Nr. 26, S. 143, 145/146). Dem trägt auch die in § 106 Abs. 5 S. 2 SGB V (in der Fassung bis 31.12.2016) vorgesehene grundsätzliche Prüfung einer vorrangigen Beratung Rechnung. Ziel der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist damit nicht in erster Linie die Erzielung von Einnahmen, sondern die Sicherstellung der Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebotes durch die Leistungserbringer, so dass es auf einen Vergleich zwischen zu erwartendem Regressbetrag und Verfahrenskosten schon nicht ankommt. Damit steht auch § 4 Abs. 4 SGB V Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren nicht entgegen.
Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass eine Entscheidung des LSG zur Erhaltung der Rechtseinheit erforderlich wäre.
2. Das Sozialgericht weicht mit seiner Entscheidung auch nicht von der Rechtsprechung der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte ab (Divergenz). Divergenz ist anzunehmen, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das Sozialgericht einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz der in § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte aufgestellt hat. Solche Rechtssätze hat das Sozialgericht schon nicht aufgestellt. Unabhängig davon ist dem genannten Urteil des BSG bereits nicht zu entnehmen, dass alle Beteiligten des gesetzlichen Krankenversicherungssystems bei ihrem Handeln stets die „Möglichkeit wirtschaftlichen Alternativverhaltens zu prüfen und gegebenenfalls zu nutzen“ haben (so der Beschwerdeschriftsatz vom 19.12.2018). Das BSG hat in dem genannten Urteil vielmehr nur ausgeführt, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot für alle Leistungsbereiche des SGB V (Rn. 23, unter Verweis auf Urteil vom 17.02.2010, Az. B 1 KR 23/09 R = BSGE 105, 271 = SozR 4-2500 § 40 Nr. 5, RdNr. 27; Urteil vom 07.05.2013, Az. B 1 KR 12/12 R = BSGE 113, 231 = SozR 4-2500 § 40 Nr. 7, RdNr. 16) und uneingeschränkt im Leistungserbringungsrecht ohne Ausnahme für die Krankenhausbehandlung gilt (Rn. 23) und Versicherte keinen Anspruch auf unwirtschaftliche Leistungen haben (Rn. 24). Das Wirtschaftlichkeitsgebot zwinge auch Krankenhäuser bereits bei der Behandlungsplanung dazu, die Möglichkeit wirtschaftlichen Alternativverhaltens zu prüfen und ggf. zu nutzen (Rn. 28 unter Verweis auf BSG SozR 4-2500 § 12 Nr. 4 RdNr. 17, 25). Daraus ist für das Verwaltungshandeln der Leistungsträger und der Institutionen der vertragsärztlichen Versorgung nichts abzuleiten.
Die inhaltliche Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung ist im Rahmen der NZB nicht zu prüfen.
3. Schließlich hat der Beklagte mit seiner Beschwerde auch keinen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (vgl. § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG). Ein solcher Verfahrensmangel ist auch nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 197a Abs. 1 SGG iVm § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 197a Abs. 1 SGG iVm §§ 63 Abs. 2 S. 1, 52 Abs. 1 und Abs. 3 S. 1 GKG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).


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