Medizinrecht

Vertrags(zahn) arztangelegenheiten

Aktenzeichen  S 38 KA 850/10, S 38 KA 851/10, S 38 KA 852/10

Datum:
30.4.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 10691
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
AMG § 13 Abs. 2b

 

Leitsatz

1. Das Gebrauchsfertigmachen von Calciumfolinat ist nicht in einer Arztpraxis darstellbar und deshalb für den Vertragsarzt unzumutbar. Es kann nicht mehr von einer geradezu selbstverständlichen notwendigen Vorbereitungshandlung im Sinne der BSGRechtsprechung ausgegangen werden. (Rn. 32)
2. Maßgeblich kommt es auf den mit dem Gebrauchsfertigmachen verbundenen notwendigen räumlich-apparativen, personellen und zeitlichen Aufwand sowie auf die Patientenvulnerabilität an. (Rn. 26 – 33)
3. Das Gebrauchsfertigmachen von Calciumfolinat ist der Risikoklasse „Mittel“ zuzuordnen. Deshalb sind an den Vorgang des Gebrauchsfertigmachens hohe Anforderungen insbesondere, was die Sterilität betrifft, zu stellen. Als Orientierungsmaßstab kann die „Auslegungshilfe für die Überwachung der erlaubnisfreien Herstellung von sterilen Arzneimitteln, insbesondere Parenteralia durch Ärzte oder sonst zur Heilkunde befugte Personen gemäß § 13 Abs. 2b Arzneimittelgesetz (AMG)“ dienen. (Rn. 29 – 31)

Tenor

I. Die Bescheide der Beklagten, betreffend die Quartale 3/04, 4/2004 und 1/2005 werden, soweit sie sich auf Folinsäuere und Bisphosphonate beziehen, aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, insoweit über die Widersprüche der Klägerin erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
Die Bescheide des Beklagten, betreffend die Quartale, 4/2004 und 1/2005 werden aufgehoben, soweit sie sich auf MAK`s beziehen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig, und erweist sich auch als begründet.
Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für die Prüfung der ärztlichen Verordnungsweise in Einzelfällen ist § 14 Prüfvereinbarung. Die Prüfung kann sich auch auf Einzelposten des Sprechstundenbedarfs erstrecken. Der Beklagte ist offensichtlich von einer Verordnung nach Maßgabe der Vereinbarung über die ärztliche Verordnung von Sprechstundenbedarf (PC-Vereinbarung vom 1.4.1999) ausgegangen. Dabei ist es aber fraglich, ob die strittige Verordnung von Calciumfolinat als Sprechstundenbedarf nach der PC-Vereinbarung einzustufen ist. Denn nach III.1. der PCVereinbarung gelten als Sprechstundenbedarf nur solche Mittel, die ihrer Art nach bei mehr als einen Berechtigten im Rahmen der vertragsärztlichen Behandlung angewendet werden oder bei Notfällen für mehr als einen Berechtigten zur Verfügung stehen müssen. Es ist fraglich, ob es sich um eine Behandlung von mehr als einem Berechtigten mit dem gleichen Arzneimittel, also um eine Serienbehandlung handelt, wie vom Sozialgericht München in seiner Entscheidung vom 19.10.2016 (Az S 21 KA 665/13) angenommen, wenn zwar die Ausgangsprodukte für einen größeren Personenkreis verwendbar sind, jedoch das Gebrauchsfertigmachen individuell und patientenbezogen geschieht.
Letztendlich kommt es darauf aber nicht an. Unbestritten unterliegt die Verordnungsweise, unabhängig davon, ob es sich um eine Verordnung nach Maßgabe der Sprechstundenvereinbarung oder um eine Einzelverordnung auf den Patienten handelt, dem Wirtschaftlichkeitsgebot nach §§ 12 Abs. 1, 70 Abs. 1 S. 2 SGB V.
Grundsätzlich wäre eine Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise mit der Rechtsfolge eines Regresses dann gegeben, wenn das Gebrauchsfertigmachen in der Arztpraxis und in der Apotheke gleichwertig und die erforderlichen Verfahrensschritte in der Arztpraxis neben den dort stattfindenden Diagnoseund Therapieverfahren zumutbar wären.
Beim Gebrauchsfertigmachen von Zytostatika und Monoklonalen Antikörpern (MAK) geht die Rechtsprechung der Sozialgerichte in mehreren Entscheidungen (vgl. BSG, Urteil vom 17.2.2016, Az B 6 KA 3/15; BayLSG, Urteil vom 26.07.2017; Az L 12 KA 57/16 ZVW), betreffend MAK davon aus, unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten sei es nicht zu beanstanden, wenn das Gebrauchsfertigmachen in der Apotheke erfolge und nicht in der Arztpraxis. Im Zusammenhang mit der Frage der Zumutbarkeit wurde insbesondere auf den zeitlichen und logistischen Aufwand für das Gebrauchsfertigmachen abgestellt. Zusätzlich wurden auch Gesichtspunkte des Personenschutzes berücksichtigt. So wurde das Gebrauchsfertigmachen von MAK in der Apotheke deshalb bejaht, weil es sich um sogenannte CMR-Wirkstoffe (carzinogen, mutagen, reproduktionstoxisch) handle.
Deshalb sei bei dem Gebrauchsfertigmachen von Calciumfolinat – da nicht toxisch -ein besonderer Personenschutz nicht notwendig.
Was die Ausführungen des Sozialgerichts München, der 21. Kammer und des Bayerischen Landessozialgerichts zum Gebrauchsfertigmachen von Calciumfolinat (aaO) betrifft, ist allerdings festzustellen, dass zur Frage des zeitlichen Aufwandes für das Gebrauchsfertigmachen – es wurden zwar die Arbeitsschritte aufgezeigt – keinerlei konkrete Ausführungen gemacht wurden. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 17.2.2016, Az B 6 KA 3/15) zu MAK kann jedoch nach Ansicht der 38. Kammer des Sozialgerichts München nicht auf Ermittlungen zum benötigten räumlich-apparativen, personellen und zeitlichen Aufwand mit konkreten Zeitangaben verzichtet werden. Ist ein räumlich-apparativer, personeller und zeitlicher Aufwand für das Gebrauchsfertigmachen erforderlich, der über eine in einer Arztpraxis selbstverständliche notwendige Vorbereitungshandlung hinausgeht, ist es nicht zumutbar, dem Arzt das Gebrauchsfertigmachen in seiner Praxis abzuverlangen.
Die 38. Kammer des Sozialgerichts München hat in Parallelverfahren (Az S 38 KA 213/11 und andere), in denen ebenfalls Gegenstand die Verordnung von Calciumfolinat war und die noch anhängig sind, einen Apotheker als sachverständigen Zeugen in einem Erörterungstermin einvernommen. Dieser schilderte ausführlich und zeigte anhand mitgebrachter Materialien die Arbeitsschritte, die in seiner Apotheke für das Gebrauchsfertigmachen von Calciumfolinat stattfinden. Das Gebrauchsfertigmachen geschieht in einem Sterillabor. Es gibt eine Personenschleuse und eine Materialschleuse, einen Isolator und einen Laminar-Air-Flow (LAF). Es gilt das Vieraugenprinzip mit zwei anwesenden und den Vorgängen befassten Personen. Nach Ende findet eine Dokumentation statt.
Für die 38. Kammer des Sozialgerichts München steht fest, dass dieser räumlich-apparative Aufwand nicht in einer Arztpraxis darstellbar ist.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob dieser Aufwand notwendig ist. Zwischen den Beteiligten ist unstrittig, dass Sterilität zu gewährleisten ist und diese Arbeitsweise auch zum Berufsbild des Arztes gehört. Dies gilt insbesondere für das Applizieren von Medikamenten, das vom Gebrauchsfertigmachen von Medikamenten zu unterscheiden ist. Was die Anforderungen an die Sterilität betrifft, hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin auf die „Auslegungshilfe für die Überwachung der erlaubnisfreien Herstellung von sterilen Arzneimitteln, insbesondere Parenteralia durch Ärzte oder sonst zur Heilkunde befugte Personen gemäß § 13 Abs. 2b Arzneimittelgesetz (AMG) hingewiesen. Nach 1.1 (Grundsätze) sind an die Qualität von Arzneimitteln zum Schutz des Patienten höchste Ansprüche zu stellen. Die Maßnahmen zur Risikominimierung (2.2.) orientieren sich an der Risikobewertung und der Einstufung in die Risikoklassen Niedrig, Mittel und Hoch (2.1.). In Tab. 1 zu 2.1. (Risikobewertung) wird beispielhaft als Risikoklasse Mittel die Herstellung aus sterilen Fertigarzneimitteln mit bekannter Kompatibilität bei hoher Patientenvulnerabilität (z. B. Intensivstation, Neonatologie, Pädiatrie, Onkologie), unmittelbar vor der Anwendung und Applikation intravasal“ genannt. Bei dieser Risikoklasse wird unter Tab. 3 (Maßnahmenkatalog zur Risikominimierung) unter 3.4. (Räume und Einrichtungen) eine Laminar-Air Flow Bank/Isolator genannt. Des Weiteren werden eine Personalschleuse und eine Materialschleuse empfohlen.
Nachdem das Patientenklientel ausschließlich aus onkologischen Patienten besteht, bei denen die Immunabwehr stark herabgesetzt ist, besteht eine hohe Patientenvulnerabilität, so dass zumindest eine Einordnung in die Risikoklasse Mittel vorzunehmen ist. Dies bedeutet, dass – legt man die „Auslegungshilfe für die Überwachung der erlaubnisfreien Herstellung von sterilen Arzneimitteln, insbesondere Parenteralia durch Ärzte oder sonst zur Heilkunde befugte Personen gemäß § 13 Abs. 2b Arzneimittelgesetz (AMG)“ zu Grunde, die Anforderungen an die Sterilität sehr hoch sind und genau die räumlich-apparative Ausstattung und Vorgehensweise erforderlich ist, wie sie in der Apotheke stattfindet. Die Notwendigkeit eines solchen räumlich-apparativen Aufwandes ist somit zu bejahen. Ein solcher Standard ist nicht in einer Arztpraxis zu gewährleisten, sondern in der Apotheke. Hinzu kommt auch der personelle Aufwand, wenn, wie bei der Klägerin, jährlich 12.000 Zytostatika-Behandlungen stattfinden. Der personelle Aufwand, der für das Gebrauchsfertigmachen von Calciumfolinat zusätzlich notwendig ist, ließe sich nur mit erheblichen finanziellen Mitteln bewerkstelligen.
Dagegen kann nicht eingewandt werden, die Auslegungshilfe habe den Stand 03.07.2018. Denn Grundlage dieser Auslegungshilfe ist das Arzneimittelgesetz (AMG), das seit 1976 in Kraft ist und mehrfach novelliert wurde.
Abgesehen von dem räumlich-apparativen und personellen Aufwand kommt der zeitlichen Komponente (zeitlicher Aufwand) für das Gebrauchsfertigmachen von Calciumfolinat unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten ebenfalls entscheidende Bedeutung zu. Das Bayerische Landessozialgericht hat in seiner Entscheidung zu MAK (BayLSG, Urteil vom 26.07.2017, Az L 12 KA 57/16 ZVW) ein Übersteigen der Zubereitungszeit von ca. 1 Minute für so erheblich erachtet, „dass nicht mehr von einer geradezu selbstverständlichen notwendigen Vorbereitungshandlung im Sinne der BSGRechtsprechung ausgegangen werden“ könne. Legt man diese Maßstäbe zu Grunde, so hat der in den Parallelverfahren (Az S 38 KA 213/11 und andere) einvernommene Apotheker als sachverständiger Zeuge einen zeitlichen Aufwand von bis zu 15 Minuten angegeben, allerdings sei dies der reine Herstellungsprozess ohne die notwendigen Vorarbeiten und Nacharbeiten. Die Beigeladene zu 1 geht von einem Gebrauchsfertigmachen von ca. 10 Minuten aus. Egal, welchen Wert man zu Grunde legt, ist auf jeden Fall eine Zubereitungszeit von ca. 1 Minute bei weitem überschritten. Von einer selbstverständlich notwendigen Vorbereitungshandlung in einer Arztpraxis kann deshalb keine Rede sein. Das Gebrauchsfertigmachen von Calciumfolinat ist somit als nicht zumutbar in einer Arztpraxis anzusehen.
Für das Ergebnis spricht auch die Arzneimittelpreisverordnung (AMRPreisVO). In § 5 Nr. 6 AMRPreisVO ist das Gebrauchsfertigmachen mit 51 € veranschlagt. Dies ist ein Indiz dafür, dass von einem nicht unerheblichen räumlich-apparativen, personellen und zeitlichen Aufwand auszugehen ist. Ansonsten wäre eine derart hohe Vergütung nicht vorgesehen.
Des Weiteren spricht für das Ergebnis, dass von den Kassen keine weiteren Prüfanträge für nachfolgende Quartale gestellt wurden.
Zu berücksichtigen ist nach Auffassung der 38. Kammer des Sozialgerichts München auch, dass es sich bei der Gabe von Calciumfolinat um eine Begleitmedikation handelt. Diese dient insbesondere der Vorbeugung von Vergiftungserscheinungen bei der (Mittel-) hoch dosierten MethodrexatTherapie. Würden geringere Anforderungen an die Keimfreiheit gestellt, hieße das, dass insgesamt die ZytostatikaTherapie gefährdet würde, was im Hinblick auf das Patientenklientel und die Schwere der Erkrankung nicht hinnehmbar erscheint.
Soweit sich im Urteil der 21. Kammer des Sozialgerichts München (Urteil vom 19.10.2016; Az S 21 KA 665/13) unter Bezugnahme auf Datenmaterial, übermittelt von den Beteiligten Zahlen über Praxen finden, die in ihrer Praxis Calciumfolinat und solchen, die Calciumfolinat in der Apotheke gebrauchsfertig machen bzw. machen lassen, können daraus keine Schlüsse weder für den einen, noch für den anderen Herstellungsort gezogen werden. Wenn der eine oder andere Vertragsarzt in seiner eigenen Praxis Calciumfolinat gebrauchsfertig macht, bedeutet dies nicht zwingend, dass dadurch von einer Zumutbarkeit auszugehen ist und die Anforderungen an die Sterilität erfüllt werden. Außerdem ist nicht bekannt, welche räumlichen, apparativen und personellen Voraussetzungen in diesen Praxen vorliegen. Abgesehen davon könnte auch aus den Zahlen geschlossen werden, dass das Gebrauchsfertigmachen von Calciumfolinat zumindest hauptsächlich nicht in Arztpraxen stattfindet, so dass von einem Regelfall nicht gesprochen werden kann.
Gleiches gilt für die Verordnung von Bisphosphonaten.
Soweit sich die Klage ursprünglich auch auf monoklonale Antikörper (MAK) bezog, hat der Beklagte darauf hingewiesen, die Antrag stellende Krankenkasse habe ihren Prüfantrag zurückgenommen. Diese Rücknahme geht offensichtlich auf die Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts (BayLSG, Urteil vom 26.07.2017, Az L 12 KA 57/16 ZVW) zurück. Vor diesem Hintergrund war dem Antrag der Prozessbevollmächtigten der Klägerin diesbezüglich stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. 154 VwGO.


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