Medizinrecht

Verwaltungsverfahren: Sperrwirkung einer Antragstellung für weitere Verfahren desselben Antragsgegenstandes

Aktenzeichen  L 16 AS 697/17

Datum:
27.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 19480
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 37 Abs. 1
SGB X § 12, § 18
VwVfG § 22

 

Leitsatz

Mit der Antagstellung beginnt gemäß § 18 SGB X das Verwaltungsverfahren. Ab Anhängigkeit des Verfahrens sind weitere Anträge mit identischem Verfahrensgegenstand unzulässig. § 18 SGB X entfaltet insoweit eine Sperrwirkung. (Rn. 27)

Verfahrensgang

S 14 AS 831/17 2017-08-29 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 29. August 2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 153, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Die Berufung ist unbegründet.
Die Klägerin begehrt mit ihrer auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs. 1 SGG) gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 08.03.2015 bis zum 30.04.2015 vom zuständigen Leistungsträger.
Die Anfechtungsklage ist mit der Aufhebung des angefochtenen Bescheides vom 17.07.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2015 unzulässig geworden. Ihr fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, weil mit der vollumfänglichen Aufhebung des angefochtenen Bescheides dieser gemäß § 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) wirkungslos wurde. Das allgemeine Rechtsschutzinteresse für eine Anfechtungsklage ist nicht gegeben, wenn der Kläger mit der Klage eine Verbesserung seiner Rechtsstellung nicht erreichen kann. Dies ist stets der Fall, wenn sich der mit der Anfechtungsklage angefochtene Verwaltungsakt erledigt hat. Die Erledigung eines Verwaltungsakts bedeutet Wegfall seiner beschwerenden Regelung (BVerwG, Beschluss vom 27.07.2005 – 6 B 37/05 -, Rn. 6, juris).
Das Sozialgericht hat im Ergebnis zur Recht die von der Klägerin erhobene Leistungsklage abgewiesen. Durch den Leistungsantrag vom 17.03.2015 wurde, wegen der Sperrwirkung des bereits mit dem Antrag vom 28.01.2015 beim Beigeladenen zu 1) gemäß § 18 SGB X eröffneten Verwaltungsverfahrens, weder beim Beklagten noch bei dem Beigeladenen zu 1) ein weiteres, neues Verwaltungsverfahren eröffnet, mit dem die Klägerin für den streitigen Zeitraum Leistungen nach dem SGB II geltend machen kann.
Die Klägerin hat gemäß § 37 Abs. 1 SGB II am 17.03.2015 einen wiederholenden Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II beim zuständigen Leistungsträger gestellt. Dies ergibt sich durch Auslegung ihres Antrags nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz.
Ein Antrag im Sinne des § 37 Abs. 1 SGB II ist eine einseitige empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung, auf die die Vorschriften und allgemeinen Grundsätze des bürgerlichen Rechts entsprechend Anwendung finden. Er ist daher nach den Maßstäben der §§ 153, 157 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auslegungsfähig. Fehlt es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des wirklich Gewollten, muss bei der Beurteilung, ob, welche und von wem Leistungen beantragt werden sollen, der wirkliche Wille ermittelt werden. Die Auslegung hat sich danach zu richten, was als Leistung möglich ist, wenn ein verständiger Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe für ein anderes Verhalten vorliegen. Es ist davon auszugehen, dass der Antragsteller diejenige Leistung beantragt hat, die ihm zusteht, und zwar die für ihn günstigste (sog. Meistbegünstigungsgrundsatz). Es kommt insbesondere nicht darauf an, welchen Vordruck der Antragsteller benutzt oder welche Bezeichnung er gewählt hat, sofern keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass nur die ausdrücklich bezeichnete Leistung beantragt wurde (BSG, Urteil vom 28.10.2009 – B 14 AS 56/08 R -, SozR 4-4200 § 37 Nr. 1, Rn. 14; BSG, Urteil vom 10.03.1994 – 7 Rar 38/93 -, BSGE 74, 77-90, SozR 3-4100 § 104 Nr. 11, SozR 3-4100 § 107 Nr. 7, SozR-3-4100 § 249c Nr. 3, Rn. 15; Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 37, Rn. 21ff). Für die Auslegung des Antrags als empfangsbedürftiger Willenserklärung ist der objektive Empfängerhorizont maßgeblich (BSG, Urteil vom 28.03.2017 – B 1 KR 15/16 R -, BSGE 123, 10-15, SozR 4-1300 § 107 Nr. 7, Rn. 14). Ein Antrag kann nur bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens konkretisiert werden. Für die Beurteilung, ob die Behörde den Antrag ordnungsgemäß geprüft hat, ist auf die zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung vorliegenden Erkenntnisse, Umstände und Äußerungen des Antragstellers abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 13.02.2014 – B 4 AS 22/13 R -, BSGE 115, 126-131, SozR 4-1300 § 44 Nr. 28, Rn. 16).
Nach diesen Grundsätzen ist der Antrag der Klägerin dahingehend auszulegen, dass sie Leistungen nach dem SGB II vom zuständigen Leistungsträger beantragt hat. Trägt der Antragsteller, wie vorliegend die Klägerin, erst im anschließenden Gerichtsverfahren vor, dass sie Leistungen von einem bestimmten Leistungsträger unabhängig von der Zuständigkeit begehrt, so ist dies unbeachtlich, wenn durch Auslegung das Begehren der Klägerin ermittelt werden muss und es bis zu diesem Vortrag im Berufungsverfahren keine Anhaltspunkte dafür gab, dass sie ausdrücklich Leistungen von einem nicht zuständigen Leistungsträger beantragen wollte.
Zuständiger Leistungsträger für diesen Antrag ist der Beigeladene zu 1). Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB II bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit für Leistungen nach dem SGB II nach dem gewöhnlichen Aufenthaltsort der leistungsberechtigten Person. Nach § 30 Abs. 3 S. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an einem Ort nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Beantwortung der Frage, ob sich jemand nicht nur vorübergehend an einem Ort aufhält, kommt es maßgeblich auf die tatsächlichen Verhältnisse und auf eine vorausschauende Betrachtungsweise an. Dabei sind alle für die Beurteilung der künftigen Entwicklung bei Beginn eines streitigen Zeitraumes erkennbaren subjektiven und objektiven Umstände zu berücksichtigen. In erster Linie sind die objektiven Umstände und das zeitliche Moment – der Aufenthalt muss zukunftsoffen sein – zu berücksichtigen. Erst in zweiter Linie kommt es auf die subjektiven Vorstellungen des Hilfebedürftigen an. Generell muss der Schwerpunkt der persönlichen Lebensverhältnisse am gewöhnlichen Aufenthalt liegen (Böttiger in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 36 Rn. 30ff). Vorliegend hat sich die Klägerin im streitigen Zeitraum nur vorübergehend und damit nicht zukunftsoffen in A-Stadt zur medizinischen Behandlung aufgehalten. Damit hat sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht nach A-Stadt verlegt. Dieser war im streitigen Zeitraum (noch) in B-Stadt. Dies ergibt sich für den Senat aus den eigenen Angaben der Klägerin, die vorgetragen hat, dass sie sich in A-Stadt nur vorübergehend zur Krankenbehandlung aufgehalten hat. Bestätigt wird dies durch den befristeten Untermietvertrag und die Aussage des Vermieters vor dem Sozialgericht Augsburg.
Der von der Klägerin am 17.03.2015 bei der Beigeladenen zu 2) gestellte Antrag ist zugleich als Antrag auf Leistungen nach dem SGB II anzusehen. Nach § 37 Abs. 1 SGB II werden die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf Antrag erbracht. Die Auslegung des Antrags auf Gewährung von Sozialleistungen folgt dem Grundsatz der Meistbegünstigung (s.o.). Sofern eine ausdrückliche Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, ist davon auszugehen, dass der Leistungsberechtigte die Leistungen begehrt, die nach Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommen (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 16/09 R -, Rn. 18 m.w.N.). Da die Klägerin geltend machte, ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten zu können, kamen für sie unterhaltssichernde Leistungen sowohl nach dem SGB II als auch nach dem SGB XII ernsthaft in Betracht. Der für die Sozialhilfe zuständige Senat des BSG entschied für eine derartige Situation (Urteil vom 26.08.2008 – B 8/9b SO 18/07 R), dass im Zweifel davon auszugehen ist, dass ein Antrag auf Leistungen nach dem einen Gesetz wegen der gleichen Ausgangslage (Bedürftigkeit und Bedarf) auch als Antrag nach dem anderen Gesetz zu werten ist (so auch Schoch in LPK-SGB II, § 37 Rn. 8; Link in Eicher/ Spellbrink, SGB II § 37 Rn. 33 b). Das BSG hat in diesem Zusammenhang maßgeblich auf Sinn und Zweck des § 16 SGB I abgestellt, wonach der Antragsteller mit seinem Begehren auf Sozialleistungen gerade nicht an Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten Sozialverwaltung scheitern soll. Dies gelte in besonderer Weise für das Verhältnis von Leistungen nach dem SGB II und SGB XII.
Mit der Antragstellung beginnt regelmäßig gemäß § 18 SGB X das Verwaltungsverfahren. Durch die Antragstellung wird das Verfahrensverhältnis zwischen Antragsteller und Behörde begründet. Dadurch werden beide zu Beteiligten des Verfahrens gemäß § 12 SGB X. Ab Anhängigkeit des Verfahrens sind weitere Anträge mit identischem Verfahrensgegenstand unzulässig, solange das erste Verfahren noch andauert (Pautsch in: Pautsch/Hoffmann, VwVfG, 1. Aufl. 2016, § 22 Beginn des Verfahrens, Rn. 45; zur identischen Vorschrift im VwVfG). Damit entfaltet § 18 SGB X eine Sperrwirkung dahingehend, dass über den identischen Verfahrensgegenstand kein weiteres Verwaltungsverfahren durchgeführt werden kann (Hissnauer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 18 SGB X, Rn. 21; OVG Sachsen, Urteil vom 07.04.2009, 4 A 415/08, Rn. 51, juris).
Der Beigeladene zu 1) hat am 28.01.2015 ein Verwaltungsverfahren zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an die Klägerin für die Zeit ab dem 01.02.2015 eröffnet. Dieses Verwaltungsverfahren war zum Zeitpunkt der hier streitgegenständlichen Antragstellung am 17.03.2015 noch nicht abgeschlossen. Der Beigeladene zu 1) hat erst mit Bescheid vom 25.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.09.2018 über diesen Antrag entschieden. Gegenstand des Verwaltungsverfahrens ist die Leistungsgewährung nach dem SGB II ab dem 01.02.2015. Der Bescheid vom 09.03.2015 wurde nicht wirksam, da er der Klägerin nicht gemäß § 39 Abs. 1 SGB X bekanntgegeben wurde.
Mit dem streitgegenständlichen Antrag vom 17.03.2015 begehrt die Klägerin Leistungen für die Zeit vom 08.03.2015 bis zum 30.04.2015. Damit ist der Gegenstand dieses Antrags mit dem des Antrags vom 28.01.2015 identisch. Der hier streitige Zeitraum ist vollständig in dem mit dem Antrag vom 28.01.2015 eröffneten Verwaltungsverfahren enthalten. Der Umstand, dass der Beigeladene zu 1) keine Kenntnis von dem Antrag der Klägerin hatte, steht der Sperrwirkung nicht entgegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG sind nicht ersichtlich.


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