Medizinrecht

Zur Behandlung mit dendritischen Zellen im Recht der GKV

Aktenzeichen  L 4 KR 315/17

Datum:
8.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 41289
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3 S. 1, § 135, § 2 Abs. 1a

 

Leitsatz

1. Zur Frage der Unaufschiebbarkeit der streitgegenständlichen Leistung. (Rn. 49 – 51)
2. Die Behandlung einer Brustkrebserkrankung mit dendritischen Zellen stellt eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode dar, für die eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht vorliegt. (Rn. 59)
3. Es liegt kein Systemmangel und kein sog. Seltenheitsfall vor. (Rn. 60 – 62)
4. Hier: Kein Anspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V i.V.m. § 2 Abs. 1a SGB V, weil noch allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung standen. (Rn. 64 – 89)
Typische, regelmäßig auftretende Nebenwirkungen schließen die Anwendung allgemein anerkannter, dem medizinischen Standard entsprechender Therapien nicht aus.  (Rn. 87 – 89) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 2 KR 226/15 2017-04-05 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 05.04.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist sie ohne Zulassung statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) und wurde form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG).
Sie ist jedoch nicht begründet; das SG hat die Klage zutreffend abgewiesen. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger als (Sonder-)Rechtsnachfolger der Versicherten hat keinen Anspruch auf die geltend gemachten Kosten.
1. Eine Genehmigungsfiktion kommt nicht in Betracht. Der Antrag wurde nicht vor dem 03.12.2014 gestellt und am 19.12.2014 durch telefonischen Verwaltungsakt (dazu Pattar, in: jurisPK-SGB X, § 37 Rn. 40) abgelehnt. Damit wurde die Drei-Wochen-Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V eingehalten.
2. Auch ein Anspruch aus § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 1 SGB V („unaufschiebbare Leistung“) scheidet aus.
Unaufschiebbarkeit verlangt, dass die beantragte Leistung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr besteht, um vor der Beschaffung die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten. Ein Zuwarten darf dem Versicherten aus medizinischen Gründen nicht mehr zumutbar sein, weil der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder z.B. wegen der Intensität der Schmerzen ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist. Soweit der 1. Senat des BSG früher hierzu formuliert hat, dass der Kostenerstattungsanspruch mit dem Unvermögen der Krankenkasse zur rechtzeitigen Erbringung einer unaufschiebbaren Leistung nur begründet werden kann, wenn es dem Versicherten – aus medizinischen oder anderen Gründen – nicht möglich oder nicht zuzumuten war, vor der Beschaffung die Krankenkasse einzuschalten, hält er hieran nicht fest. Diese Sicht ist zu eng und vernachlässigt die Normstruktur des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Die Alternative zur rechtswidrigen Ablehnung des Antrags (§ 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V) besteht gerade, um Eilsituationen aufgrund der Unaufschiebbarkeit Rechnung zu tragen, bei denen der Versicherte die Entscheidung seiner Krankenkasse nicht mehr abwarten kann. Unaufschiebbar kann danach auch eine zunächst nicht eilbedürftige Behandlung werden, wenn der Versicherte mit der Ausführung so lange wartet, bis die Leistung zwingend erbracht werden muss, um den mit ihr angestrebten Erfolg noch zu erreichen oder um sicherzustellen, dass er noch innerhalb eines therapeutischen Zeitfensters die benötigte Behandlung erhalten wird. Dies gilt umso mehr, wenn der Beschaffungsvorgang aus der Natur der Sache heraus eines längeren zeitlichen Vorlaufs bedarf und der Zeitpunkt der Entscheidung der Krankenkasse nicht abzusehen ist. Es betrifft auch die Fälle, in denen der Versicherte zunächst einen Antrag bei der Krankenkasse stellte, aber wegen Unaufschiebbarkeit deren Entscheidung nicht mehr abwarten konnte (BSG, Urteil vom 08.09.2015, B 1 KR 14/14 R, Rn. 15 m.w.N.).
Die streitgegenständliche Leistung war nicht unaufschiebbar in diesem Sinne. Dies zeigt sich bereits daran, dass die Versicherte sich die Leistung erst nach der Entscheidung der Beklagten verschafft hat. Die Beklagte hat am 19.12.2014 mündlich und am 22.12.2014 schriftlich über den Antrag der Versicherten entschieden. Die streitgegenständliche Leistung wurde erst am 22.01.2015 erbracht und der Versicherten in Rechnung gestellt.
3. Schließlich kann der Kläger den geltend gemachten Anspruch auch nicht auf § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V („zu Unrecht abgelehnt“) stützen.
a) Zwar hat die Versicherte den Beschaffungsweg eingehalten, weil die Leistungsablehnung kausal für das Entstehen der streitgegenständlichen Kosten war („und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden“).
Ein Kausalzusammenhang und damit eine Kostenerstattung scheiden aus, wenn der Versicherte sich die streitige Behandlung außerhalb des vorgeschriebenen Beschaffungsweges selbst besorgt, ohne sich vorher mit seiner Krankenkasse ins Benehmen zu setzen und deren Entscheidung abzuwarten (Helbig, in: jurisPK-SGB V, Stand 9/2020, § 13 Rn. 75). An einem Ursachenzusammenhang fehlt es auch dann, wenn der Versicherte sich unabhängig davon, wie die Entscheidung der Krankenkasse ausfällt, von vornherein auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung durch einen bestimmten Leistungserbringer festgelegt hat und fest entschlossen ist, sich die Leistung selbst dann zu beschaffen, wenn die Krankenkasse den Antrag ablehnen sollte. Eine derartige Vorfestlegung ist beispielsweise gegeben, wenn schon vor der Bekanntgabe der Entscheidung die Rechnung des Leistungserbringers im Wege der Vorkasse bezahlt und die Reise zum Behandlungsort fest gebucht wird (BSG, Urteil vom 08.09.2015, B 1 KR 14/14 R, Rn. 9; Helbig, a.a.O., Rn. 77).
So liegt der Fall hier nicht. Die Versicherte hat sich die streitgegenständliche Leistung erst nach der Entscheidung der Beklagten beschafft. Wie bereits dargelegt, hat die Beklagte am 19.12.2014 mündlich und am 22.12.2014 schriftlich über den Antrag der Versicherten entschieden. Die streitgegenständliche Leistung wurde erst am 22.01.2015 erbracht und der Versicherten in Rechnung gestellt. Die Versicherte hatte sich auch nicht unabhängig von der Entscheidung der Beklagten auf die streitgegenständliche Behandlung bei Dr. G. festgelegt. Zwar hatte die Versicherte bereits am 03.12.2014 einen „Auftrag zur Herstellung dendritischer Zellen und Einwilligungserklärung“ unterzeichnet. Damit ist sie allerdings keine bindende rechtliche Verpflichtung, insbesondere zur Zahlung des streitgegenständlichen Geldbetrages, eingegangen. Es handelt sich weitgehend um einen Informations- und Aufklärungstext. Dem entspricht, dass Dr. G. vor dem SG ausgesagt hat, am 03.12.2014 habe nur ein „Beratungsgespräch zum Antrag für die Krankenkasse“ stattgefunden. Die Versicherte hat also keine Vorkasse geleistet; eine Rechnung wurde erst am 22.01.2015 erstellt. Die Versicherte hätte sich von dem „Auftrag“ ohne negative Rechtsfolgen distanzieren können.
b) Die Beklagte hat die streitgegenständliche Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt.
aa) Ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V hat in beiden Regelungsalternativen einen Sach- oder Dienstleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse (Primäranspruch) zur Grundvoraussetzung. Das war schon unter Geltung der Reichsversicherungsordnung (RVO) für den richterrechtlichen Anspruch auf Kostenerstattung anerkannt und ist seit der positivrechtlichen Normierung unbestritten, weil der Erstattungsanspruch den durch Zweckerreichung erloschenen (primären) Sach- und Dienstleistungsanspruch ersetzt bzw. an dessen Stelle tritt. Der Primäranspruch ergibt sich grundsätzlich aus dem materiellen Leistungs- und Leistungserbringungsrecht des SGB V, kann aber auch auf verwaltungsrechtlichem Vertrag oder Verwaltungsakt beruhen (Helbig, a.a.O., Rn. 52).
Nicht erstattungsfähig sind mithin Kosten für ausgeschlossene Leistungserbringer (z.B. Heilpraktiker) und für ausgeschlossene Leistungen (z.B. nicht zugelassene Arzneimittel). Die Grenzen des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben auch bei ärztlichen Aufklärungsmängeln maßgeblich. Grundsätzlich besteht auch keine (primäre) Leistungspflicht der Krankenversicherung bei einem zulassungsüberschreitenden Einsatz (sog. off-label-Gebrauch) von Arzneimitteln. Das Gleiche gilt bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, für die noch keine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gemäß § 135 SGB V vorliegt (Helbig, a.a.O., Rn. 53).
bb) Die streitgegenständliche Behandlung einer Brustkrebserkrankung mit dendritischen Zellen stellt eine solche neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode dar. Eine Empfehlung des G-BA nach § 135 SGB V lag im Zeitpunkt der Behandlung nicht vor.
cc) Ein Primäranspruch ergibt sich nicht aus einem Systemmangel. Die Besonderheit neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Rahmen von § 13 Abs. 3 SGB V liegt darin, dass – nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des BSG – für diesen Bereich eine spezifische Form des Systemmangels anerkannt ist. Ein Kostenerstattungsanspruch kommt danach in Betracht, wenn die fehlende Anerkennung der neuen Methode auf einem Mangel des gesetzlichen Leistungssystems beruht. Das ist (abstrakt) der Fall bei einer unsachgemäßen Behandlung durch den Ausschuss oder die antragsberechtigten Stellen. Ein Systemmangel liegt beispielsweise vor, wenn das Anerkennungsverfahren trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wird. Hat der G-BA eine (negative) Entscheidung getroffen, kann sich ein Systemversagen aus der Verletzung der ihm obliegenden Beobachtungspflicht ergeben (Helbig, a.a.O., Rn. 55).
Anhaltspunkte für eine solche Fallkonstellation sieht der Senat vorliegend nicht.
dd) Auch eine seltene Erkrankung liegt nicht vor (sog. Seltenheitsfall). Bei sehr seltenen Krankheiten, die weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden können, darf für die Leistungsgewährung keine vorherige Anerkennung in den Richtlinien zur Anspruchsvoraussetzung erhoben werden (Helbig, a.a.O., Rn. 56).
Dies trifft auf die Erkrankung der Versicherten nicht zu. Brustkrebs ist mit etwa 30,5 Prozent die häufigste Krebserkrankung bei Frauen in allen Staaten der industrialisierten Welt. (www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal).
ee) Schließlich kann der Kläger einen Primäranspruch nicht auf § 2 Abs. 1a SGB V stützen.
Ein Kostenerstattungsanspruch kann sich bei neuen Behandlungsmethoden schließlich wegen Vorliegens einer notstandsähnlichen Krankheitssituation ausnahmsweise unter Berücksichtigung grundrechtlicher Belange ergeben. Das BVerfG hat mit Beschluss vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98) zu einer ärztlichen Behandlungsmethode entschieden, dass es mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, generell von der Gewährung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Eine Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der GKV ausgeschlossen, weil der zuständige Bundesausschuss diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt hat, verstößt nach dieser Rechtsprechung des BVerfG gegen das GG, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:
a) Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vor.
b) Bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung.
c) Bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine „auf Indizien gestützte“, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
Durch das GKV-VStG sind die vom BVerfG entwickelten Grundsätze ab 01.01.2012 in Gesetzesrang (§ 2 Abs. 1a SGB V) erhoben worden.
§ 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V lautet:
Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
(1) Der Senat lässt offen, ob die Versicherte an einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Sinne der Rechtsprechung des BSG litt.
Danach ist eine Erkrankung lebensbedrohlich, wenn sie in überschaubarer Zeit das Leben beenden kann, und dies eine notstandsähnliche Situation herbeiführt, in der Versicherte nach allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen müssen. Es genügt hierfür nicht, dass die Erkrankung unbehandelt zum Tode führt. Dies trifft auf nahezu jede schwere Erkrankung ohne therapeutische Einwirkung zu. Die Erkrankung muss trotz des Behandlungsangebots mit vom Leistungskatalog der GKV regulär umfassten Mitteln lebensbedrohlich sein. Kann einer Lebensgefahr mit diesen Mitteln hinreichend sicher begegnet werden, besteht kein Anspruch aus grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts. Die notstandsähnliche Situation muss sich nach den konkreten Umständen des einzelnen Falles ergeben. Ein nur allgemeines mit einer Erkrankung verbundenes Risiko eines lebensgefährlichen Verlaufs genügt hierfür nicht. So reicht es z.B. nicht aus, dass allgemein Pneumonien unter den Infektionskrankheiten in den industrialisierten Ländern die häufigste Todesursache darstellen (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 266. Aufl. 2014, Stichwort Pneumonie). Die notstandsähnliche Situation muss im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegen, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (BSG, Urteil vom 20.03.2018, B 1 KR 4/17 R, Rn. 21 mit zahlreichen Nachweisen).
Das BVerfG hat es dabei ausreichen lassen, dass die Erkrankung voraussichtlich „erst“ in einigen Jahren zum Tod führt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.02.2007, 1 BvR 3101/06, Rn. 22, unter Bezugnahme auf den Beschluss vom 06.12.2005, 1 BvR 347/98).
Zwar hat vorliegend der MDK in seinem Gutachten vom 16.02.2015 ausgeführt, bei einem metastasierten Tumorleiden sei eine lebensbedrohliche Erkrankung belegt.
Dagegen hat der Sachverständige Prof. Dr. C. dargelegt, die Situation 2014/2015 sei keinesfalls akut lebensbedrohlich gewesen, da vital notwendige Organe noch nicht vom Tumor befallen gewesen seien. Bei Knochenmetastasen sei ein längeres Überleben, teilweise sogar über Jahre, durchaus möglich. Allerdings führten die Knochenmetastasen erfahrungsgemäß immer zu einem weiteren Progress der Tumorerkrankung in vital notwendige Organe wie Leber, Lunge, Gehirn und andere und seien daher regelmäßig tödlich.
Schließlich hat der Sachverständige Prof. Dr. F. ausgeführt, dass es sich bei einem metastasierten Mammakarzinom um eine Erkrankung handele, die als lebensbedrohlich oder als regelmäßig tödlich verlaufend zu bezeichnen sei. Allerdings gelte ein ausschließlich ossär metastasiertes Mammakarzinom als eine Erkrankung mit einer vergleichsweise günstigen Prognose. Eine Analyse von Briasoulis et al. (2004) zeige, dass nach der Diagnose von Knochenmetastasen die mittlere Überlebenszeit bei 72 Monaten liege. In manchen Fällen könnten Überlebenszeiten von 20 Jahren und mehr erreicht werden.
Danach ist für den Senat zweifelhaft, ob die Erkrankung der Versicherten im Dezember 2014 bzw. Januar 2015 bereits so weit fortgeschritten war, dass nach den konkreten Umständen des Falles die Gefahr bestand, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen würde. Angesichts der Tatsache, dass jedenfalls eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung noch zur Verfügung stand (siehe unten), kann dies aber letztlich dahinstehen.
(2) Für die Erkrankung der Versicherten stand eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung noch zur Verfügung. Der Sachverständige Prof. Dr. F. hat insoweit folgende Behandlungsoptionen genannt:
a) Antihormonelle Therapie: hoch dosierte Gestagene oder die Kombination von Exemestan und Everolimus
b) Chemotherapie: Monochemotherapie mit verschiedenen Substanzen wie Vinorelbin, Capecitabin, Gemcitabin, Carboplatin, Eribulin, NabPaclitaxel u.v.a.m.
c) Chemotherapie mit antiangiogenetischer Therapie: Die unter b) genannten in Kombination mit Bevacizumab.
Der Sachverständige Prof. Dr. F. verfügt über besondere Expertise im Bereich der alternativen und komplementären Therapien. Er hat hierzu bereits publiziert und steht als Ansprechpartner des Arbeitskreises Komplementäre Medizin im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Prävention und integrative Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft zur Verfügung.
Auch der Sachverständige Prof. Dr. H. hat bestätigt, dass eine dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung noch zur Verfügung stand. Er hat ausgeführt, dass bei einer erneuten Progression eine systemische Chemotherapie nach dem CMF-Schema oder dem „Gemcitabin / Carboplatin“ – Schema durchgeführt werden sollte. Auch andere Schemata hätten verwendet werden können.
Schließlich hat auch der Sachverständige Prof. Dr. C. bestätigt, dass die Leitlinientherapie dem medizinischen Standard entspricht und allgemein von allen Standesvertretern und Medizinfunktionären akzeptiert ist. Er hat die Vorgutachten des MDK und von Prof. Dr. H. insoweit als korrekt bezeichnet.
Die Ausführungen sind schlüssig und überzeugend. Die Einwendungen des Klägers greifen nicht durch.
(a) Der Kläger moniert, dass der Sachverständige Prof. Dr. F. lediglich abstrakt darlege, welche weiteren Therapieoptionen zum Zeitpunkt der Behandlung mit der streitgegenständlichen Therapie bestanden hätten. Es bleibe unklar, welche der vermeintlich mannigfaltigen Therapieangebote bei der Versicherten tatsächlich konkret indiziert und darüber hinaus im hier zu entscheidenden Einzelfall verträglich gewesen wären. Hierzu treffe der Sachverständige keine Aussage. Stattdessen sei den Ausführungen zu entnehmen, dass auch solchen (theoretischen) Behandlungsalternativen jedenfalls keine bessere Erfolgsaussicht als der dendritischen Zelltherapie zugesprochen werden könne.
Dem ist entgegenzuhalten, dass der Sachverständige konkret angegeben hat, die von ihm genannten Therapieoptionen hätten „der Klägerin“ zur Verfügung gestanden. Es handelt sich also nicht um eine allgemeine, sondern um eine einzelfallbezogene Aussage. Dem Sachverständigen lagen alle verfügbaren medizinischen Informationen vor; der Senat sieht keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass er auf dieser Grundlage jeden der genannten Behandlungsansätze für die Versicherte in ihrer damaligen Situation als geeignet angesehen hat. Es muss nicht festgestellt werden, dass eine der genannten Optionen für die Versicherte am ehesten geeignet gewesen wäre; dementsprechend handelt es sich insoweit auch nicht um einen Mangel des Gutachtens.
Eine Verweisung der Versicherten auf die von den Sachverständigen genannten Therapieoptionen setzt nicht die Feststellung voraus, dass diese eine bessere Erfolgsaussicht gehabt hätten als die Therapie mit dendritischen Zellen. Wenn ein Vergleich der Erfolgsaussichten nicht sinnvoll möglich ist, weil es – wie der Sachverständige Prof. Dr. F. ausgeführt hat – an Informationen über die Erfolgsaussichten einer Behandlung mit dendritischen Zellen nach dem Konzept von Dr. G. fehlt, ist eine Verweisung auf zugelassene Therapien möglich.
(b) Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass drohende schwere Nebenwirkungen sämtliche von den Sachverständigen genannten allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Therapien im Fall der Versicherten ausgeschlossen hätten.
Nach der Rechtsprechung des BSG stehen Fälle, in denen überhaupt keine Behandlungsmethode zur Verfügung steht, jenen Fällen gleich, bei denen es zwar grundsätzlich eine solche anerkannte Methode gibt, diese aber bei dem konkreten Versicherten wegen des Bestehens gravierender gesundheitlicher Risiken nicht angewandt werden kann. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten, die eine weitere Anwendung der Standard-Arzneimitteltherapie ausschließen, und auch die Anwendung eines (weiteren) anderen anerkannten Arzneimittels ausscheidet (BSG, Urteil vom 04.04.2006, B 1 KR 7/05 R, Rn. 31 m.w.N.).
So liegt der Fall hier nicht. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sämtliche von den Sachverständigen genannten zugelassenen Therapien speziell im Einzelfall der Versicherten zu schwerwiegenden Nebenwirkungen geführt hätten. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass es sich um Nebenwirkungen handeln müsste, die deutlich über typische, regelmäßig auftretende Nebenwirkungen bestimmter Therapien hinausgehen. Denn typische, regelmäßig auftretende Nebenwirkungen sind in der Fachwelt bekannt; wenn sie dort als zu gravierend angesehen würden, wäre die entsprechende Therapie nicht allgemein anerkannt bzw. entspräche nicht dem medizinischen Standard. Daher schließen typische, regelmäßig auftretende Nebenwirkungen die Anwendung allgemein anerkannter, dem medizinischen Standard entsprechender Therapien nicht aus. Darin liegt – anders als dies der Sachverständige Prof. Dr. C. sieht – weder eine erzwungene Fremdbestimmung noch ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Dass entsprechende Therapien im vorliegenden Fall noch zur Verfügung standen, haben die Sachverständigen übereinstimmend bestätigt (s.o.).
(3) Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestand. Dies ist angesichts der Ausführungen unter (2) nicht mehr entscheidungserheblich.
Damit gehen auch die diesbezüglichen Einwände des Klägers gegen das Gutachten des Prof. Dr. F. ins Leere. Im Übrigen stellt die unterbliebene Beantwortung von Frage 7 keinen Mangel des Gutachtens von Prof. Dr. F. dar. Die Frage lautete: „Wenn Frage 4 verneint wird: Bestand bei einer Behandlung mittels dendritischer Zellen eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf?“. Da der Sachverständige Frage 4 nicht verneint hatte – er hatte vielmehr dargelegt, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung stand – war Frage 7 nicht mehr zu beantworten.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Kläger ist nach § 183 Satz 1 SGG kostenprivilegiert. Denn als Ehemann, der bis zum Tod der Versicherten mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat, ist er Sonderrechtsnachfolger im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I.
Gründe zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.


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