Sozialrecht

Anerkennung Fahrradunfall als Arbeitsunfall

Aktenzeichen  S 9 U 45/15

Datum:
6.12.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 135952
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 2 Abs. 1 Nr. 14 a, § 3, § 6, § 8 Abs. 1
SGB X § 34

 

Leitsatz

Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung besteht für Leistungsberechtigte nach dem SGB II auf dem Weg zum Jobcenter nur, wenn der kürzeste Weg eingehalten wird. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 14.07.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.02.2015 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, in der Sache aber nicht erfolgreich. Die angefochtenen Verwaltungsakte der Beklagten sind rechtmäßig, denn die Klägerin hat am 06.12.2013 keinen in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Arbeitsunfall erlitten.
Gemäß § 8 Abs. 1 Sozialgesetzbuch VII (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle, die ein Versicherter in Folge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 und 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherten Tätigkeit) erleidet. Für einen Arbeitsunfall ist in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu einem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität), und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität).
Zu den versicherten Tätigkeiten zählt nach § 8 Abs. 2 Nr.1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Für Unfälle auf Wegen gilt, dass das Zurücklegen von Wegen in aller Regel nicht die Ausübung der versicherten Tätigkeit selbst darstellt, sondern eine der versicherten Tätigkeit vor- oder nachgelagerte Tätigkeit ist, die zu der eigentlichen Tätigkeit, weswegen das Beschäftigungsverhältnis eingegangen wurde, in einer mehr (z. B. Betriebsweg) oder weniger engen Beziehung (z. B. Weg zur Arbeit) steht.
Der Gesetzgeber hat, wie sich aus dem Wortlaut der Norm bereits ergibt, nicht schlechthin jeden Weg unter Versicherungsschutz gestellt, der zur Arbeitsstätte hinführt oder von ihr aus angetreten wird. Es muss sich zwar nicht notwendiger Weise um den kürzesten handeln. Erforderlich ist aber, dass der Weg mit der versicherten Tätigkeit rechtlich zusammenhängt, d. h. dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Weg und der Tätigkeit besteht. Dieser innere Zusammenhang setzt voraus, dass das Zurücklegen des Weges wesentlich dazu dient, den Ort der Tätigkeit oder nach deren Beendigung – in der Regel – die eigene Wohnung oder einen anderen Endpunkt des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu erreichen. Maßgebliches Kriterium für die wertende Entscheidung über diesen inneren Zusammenhang ist die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch objektive Umstände des Einzelfalls bestätigt wird. Sobald allein eigenwirtschaftliche (private) Zwecke verfolgt werden, wird der Versicherungsschutz unterbrochen, bis die Fortbewegung auf das ursprüngliche Ziel hin wieder aufgenommen wird. Bei einer gemischten Tätigkeit, d. h. wenn die Fortbewegung betriebsdienlichen und eigenwirtschaftlichen Zwecken zugleich dient, ist maßgeblich, ob die Tätigkeit so auch ohne die eigenwirtschaftlichen Zwecke durchgeführt worden wäre (vgl. BSG Urteil vom 09.12.2003, B 2 U 23/03 R; BSG Urteil vom 09.11.2010, B 2 U 14/10 R).
Hinsichtlich des Beweismaßstabs gilt, dass die versicherte Tätigkeit, der Unfall und die Gesundheitsschädigung im Sinn des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein müssen. Bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985 – 2 RU 43/84). Der ursächliche Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, muss dagegen grundsätzlich nur mit „hinreichender Wahrscheinlichkeit“ – nicht allerdings als bloße Möglichkeit – feststehen. Eine solche Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Faktoren ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gestützt werden kann (BSG, BSGE 45, 285; 60, 58). Hierbei trägt die Klägerin die objektive Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen, d.h. deren etwaige Nichterweislichkeit geht zu ihren Lasten (vgl. BSG, Urteil vom 5. Februar 2008, B 2 U 10/07 R).
Unter Anwendung dieser Grundsätze geht die Kammer zweifelsfrei davon aus, dass die Beklagte zu Recht die Anerkennung eines Arbeitsunfalls abgelehnt hat. Die Klägerin gehörte zwar zum Unfallzeitpunkt am 06.12.2013 gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 14 a SGB VII zum Kreis der unfallversicherten Personen. Zudem steht fest, dass sie sich bei dem Unfall einen Gesundheitsschaden zugezogen hat, nämlich einen proximalen Oberarmbruch rechts. Allerdings ist der Weg, auf dem die Klägerin im Unfallzeitpunkt fuhr, als nicht versicherter Abweg in entgegengesetzter Richtung zum Ziel (hier: ihre Wohnung) zu qualifizieren, d. h. als Unterbrechung des versicherten Rückwegs mit anderer Zielrichtung. Auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid vom 14.07.2014 und im Widerspruchsbescheid vom 18.02.2015 wird verwiesen. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird diesbezüglich abgesehen, da die Kammer die Klage aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 136 Abs. 3 SGG).
Ergänzend wird lediglich ausgeführt, dass der Vortrag der Klägerseite im gerichtlichen Verfahren keine andere Bewertung rechtfertigt. Die Klägerin hat die Fahrstrecke für den Rückweg gegenüber dem Hinweg bewusst anders geplant, um ihrer Leidenschaft zum Fahrradfahren nachkommen zu können. Dieser sog. „Abweg“ diente allein privaten Zwecken. Dies steht zur Überzeugung der Kammer fest aufgrund der unmissverständlich und eindeutig Äußerungen der Klägerin gegenüber der Beklagten im Schriftsatz vom 23.05.2014. Zur Verdeutlichung hatte die Klägerin einen Stadtplan von S. beigelegt, auf dem die geplante Streckenführung für den Rückweg (W.höhe .., Dr.-O.-H.-Str., L. Straße in Richtung Bahnhof, Sch…straße, Äußere P. Straße, St..weg, A.-D.-Ring, L. Straße, F.-H.-Str. ..) eingetragen war. Aus den gemachten Angaben wird deutlich, dass gegenüber dem Hinweg ein deutlich längerer Rückweg geplant war, um nach einer krankheitsbedingten zweimonatigen Fahrradpause den Rückweg zu einer „Rad-Tour“ zu nutzen. Nach Routenplaner (vgl. GoogleAuskunft, ViaMichelin bzw. Falk) ist die Wegstrecke des Hinweg (F.-H.-Str. .., L. Straße, Dr. O.-H.-Straße zur W.höhe ..) mit 2 km und des geplanten Rückwegs mit 4,5 km zu beziffern.
Soweit von der Klägerseite im Rahmen des Widerspruchsverfahrens (vgl. Schriftsatz vom 21.07.2014) als auch im Rahmen des Klageverfahrens vorgetragen wird, dass – bedingt durch die vorangegangene Fahrradpause bzw. durch Schmerzen in der Wirbelsäule bei jeder Drehbewegung – der maßgebliche Grund für die Wahl der Wegstrecke die Verkehrssicherheit gewesen sei, kann diesen Ausführungen nicht gefolgt werden. Zwar kennen weder das SGG noch die Zivilprozessordnung (ZPO) eine Beweisregel in dem Sinne, dass frühere Aussagen oder Angaben grundsätzlich einen höheren Beweiswert besitzen als spätere. Da der objektive Beweis einer Erklärung nicht allein nach dem zeitlichen Abstand von dem Ereignis, auf das sie sich bezieht, bestimmt werden kann, sind vielmehr im Rahmen der freien Beweiswürdigung alle Aussagen, Angaben und alle Umstände des Einzelfalls zu würdigen. Die Kammer hat im Rahmen dieser Gesamtwürdigung den zeitlich früheren Aussagen aufgrund des Gesichtspunktes, dass sie von irgendwelchen versicherungsrechtlichen Überlegungen gegebenenfalls noch unbeeinflusst waren, einen höheren Beweiswert als den späteren Aussagen zugemessen (vgl. BSG Urteil vom 11.11.2003, B 2 U 41/02 R). Der Hinweis auf Gründe der Verkehrssicherheit kann auch deshalb nicht überzeugen, da, entgegen den Ausführungen des Prozessbevollmächtigten, die von der Klägerin bis zum Unfall befahrenen Straßen (Dr.-O.-H.-Straße, W.höhe und Sch…straße) nach Auskunft der Stadt S. stark frequentierte Nebenstraßen sind (vgl. Schreiben der Stadt S. an den Prozessbevollmächtigten vom 03.03.2015) und daher von einer besseren Verkehrssicherheit nicht ausgegangen werden kann. Unter Verweis auf die verlängerte Wegstrecke des geplanten Rückwegs um mehr als das Doppelte kann in diesem Zusammenhang auch nicht von einer unbedeutenden Abweichung des unmittelbaren Weges gesprochen werden. Denn der eingeschlagener Weg vom Jobcenter Richtung Bahnhof war weder weniger zeitaufwendig, sicherer, übersichtlicher noch besser ausgebaut als der entfernungsmäßig kürzeste Weg (vgl. BSG Urteil vom 11.09.2001, B 2 U 34/00 R).
Im Ergebnis steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Fahrradunfall vom 06.12.2013 nicht als entschädigungspflichtiger Versicherungsfall anerkannt werden kann, da sich die Klägerin zum Zeitpunkt des Unfalls auf einem nicht versicherten „Abweg“ befunden hat.
Im Übrigen liegt auch keine Zusicherung im Sinne von § 34 SGB X vor, aufgrund derer ein Arbeitsunfall von der Beklagten anzuerkennen wäre. Bei der Entscheidungsvorlage vom 07.05.2014 handelt es sich um einen internen Aktenvermerk der Beklagten ohne Außenwirkung, der dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin lediglich im Rahmen der Akteneinsicht zur Kenntnis gelangt ist. Dem darin gemachten Vorschlag wurde von Seiten des zuständigen Sachgebietsleiters im Übrigen erkennbar nicht zugestimmt.
Die angefochtenen Bescheide sind im Ergebnis nicht rechtswidrig und deshalb nicht zu beanstanden. Die Klage ist als unbegründet abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.


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