Sozialrecht

Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung

Aktenzeichen  S 3 U 291/18

Datum:
28.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 53480
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
StVO § 14
SGB VII § 8 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 07.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2018 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass das Ereignis vom 11.07.2018 als Versicherungsfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt wird.
Nach § 8 Absatz 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Zu den versicherten Tätigkeiten zählt gemäß § 8 Absatz 2 Nummer 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Dabei ist nicht der Weg als solcher, sondern dessen Zurücklegen versichert, also der Vorgang des Sichfortbewegens auf einer Strecke, die durch einen Ausgangs- und einen Zielpunkt begrenzt ist. Der Versicherungsschutz besteht, wenn der Weg erkennbar zu dem Zweck zurückgelegt wird, den Ort der Tätigkeit – oder nach deren Beendigung im typischen Fall die eigene Wohnung – zu erreichen. Maßgebliches Kriterium für den sachlichen Zusammenhang ist, ob die anhand objektiver Umstände zu beurteilende Handlungstendenz des Versicherten beim Zurücklegen des Weges darauf gerichtet war, eine dem Beschäftigungsunternehmen dienende Verrichtung auszuüben, d. h. ob sein Handeln auf das Zurücklegen des direkten Weges zu oder von der Arbeitsstätte gerichtet ist (BSG, Urteil vom 07.05.2019, B 2 U 31/17 R Rn. 13 m. w. N.; BSG, Urteil vom 31.08.2017, B 2 U 11/16 R Rn. 12 m. w. N.).
Wie sich aus dem Wortlaut des § 8 Absatz 2 Nummer 1 SGB VII und dem dort verwendeten Begriff „unmittelbar“ ergibt, steht grundsätzlich nur das Zurücklegen des direkten Weges nach und von der versicherten Tätigkeit unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Maßgebend für die Beurteilung, ob eine konkrete Verrichtung noch der Fortbewegung auf das ursprüngliche Ziel hin – hier: der Arbeitsstätte der Klägerin – dient, ist die Handlungstendenz der Versicherten. Wird der Weg zum oder vom Ort der versicherten Tätigkeit aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen, entfällt der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und damit der Versicherungsschutz. Dabei kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob der Versicherte lediglich seine Fortbewegung beendet, um sich an Ort und Stelle einer anderen, nicht nur geringfügigen Tätigkeit zuzuwenden, oder ob er den eingeschlagenen Weg verlässt, um an anderer Stelle einer privaten Verrichtung nachzugehen und erst danach wieder auf den ursprünglichen Weg zurückzukehren (BSG, Urteil vom 23.01.2018, B 2 U 3/16 R Rn. 15 m. w. N.).
Nach Auffassung der Kammer befand sich die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls vom 11.07.2018 nicht auf einem nach § 8 Absatz 2 Nummer 1 SGB VII versicherten unmittelbaren Weg nach dem Ort der Tätigkeit.
Zwar bewegte sich die Klägerin zunächst mit ihrem Pkw und anschließend nach Verlassen des Pkw auf dem Firmenparkplatz zu Fuß mit der Handlungstendenz, ihre Arbeitsstätte zu erreichen. Solange sich die Klägerin auf ihren Arbeitsplatz zubewegte, stand sie unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der Unfallversicherungsschutz wurde jedoch in dem Moment unterbrochen, in dem sich die Klägerin in Richtung ihres Pkw umdrehte, um sich zu vergewissern, dass sie die Tür ihres Pkw verschlossen hatte. Dass sich die Klägerin vergewisserte, dass sie die Tür ihres Pkw verschlossen hatte, stellte eine rein privatwirtschaftliche Handlung der Klägerin dar, welche vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht erfasst ist. Denn hierbei handelte es sich nicht um eine dienstlich veranlasste Verrichtung, mit der die Klägerin zumindest glaubte, eine im Rahmen ihrer Beschäftigung geschuldete Tätigkeit zu erbringen.
Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung besteht auch nicht deshalb, weil die Klägerin mit der Prüfung, ob sie die Tür ihres Pkw verschlossen hatte, ihrer Verpflichtung nach § 14 Absatz 2 Satz 2 StVO nachkam, Kraftfahrzeuge gegen unbefugte Benutzung zu sichern. Zwar hat das BSG in seinem Urteil vom 23.01.2018 (a. a. O. Rn. 21) den Versicherungsschutz des dortigen Klägers, der vor Antritt des Weges zur Arbeit den Fahrbahnbelag auf Glatteis prüfte, auch mit der Begründung verneint, dass der Kläger mit der Fahrbahnprüfung keiner rechtlichen Verpflichtung nachgekommen sei, insbesondere keiner straßenverkehrsrechtlichen Pflicht, die vor Antritt der Fahrt zu erfüllen gewesen sei. Diskutiert hat das BSG diese Frage aber in dem Zusammenhang, dass nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung bestimmte Vorbereitungshandlungen oder vorbereitende Tätigkeiten, also Maßnahmen, die einer versicherten Tätigkeit vorangehen und ihre Durchführung erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen, in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen werden (vgl. BSG, Urteil vom 07.05.2019, a. a. O. Rn. 17 m. w. N.; BSG, Urteil vom 23.01.2018, a. a. O. Rn. 19 m. w. N.). Hieraus kann aber nicht verallgemeinernd abgeleitet werden, dass die Erfüllung jeglicher straßenverkehrsrechtlichen Pflichten vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung umfasst ist. Vielmehr beschränkt sich der unfallversicherungsrechtliche Schutz grundsätzlich allein auf den Fortbewegungsvorgang (s. o.). Die Erfüllung etwaiger straßenverkehrsrechtlicher Pflichten, welche nicht mit der Fortbewegung im Zusammenhang stehen oder diese erst ermöglichen, stellt demgegenüber eine grundsätzlich nicht vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung umfasste privatwirtschaftliche Handlung der Klägerin dar. Die Prüfung, ob die Tür des Pkw verschlossen war, stellte vorliegend gerade keine Verrichtung dar, welche erforderlich war, um weiterhin den Arbeitsweg am Morgen des 11.07.2018 zurücklegen zu können. Vielmehr hatte die Klägerin den Firmenparkplatz und damit den Ort, bis zu dem sie den Arbeitsweg mit dem Pkw zurückgelegt hat, zum Zeitpunkt dieser Verrichtung bereits erreicht.
Dass sich der Unfall auf dem Firmenparkplatz ereignete, begründet den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung vorliegend ebenfalls nicht. Wie die Beklagte im angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 16.10.2018 zutreffend ausgeführt hat, gibt es nach der neuesten höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich keinen „Bann“ mehr, somit auch keinen Straßen- oder gar Pkw-Bann, in dessen Reichweite noch Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung gegeben wäre (so ausdrücklich für den Straßenbann unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung BSG, Urteil vom 23.01.2018, a. a. O. Rn. 25).
Es lag hier auch keine grundsätzlich den Versicherungsschutz unberührt lassende, lediglich geringfügige Unterbrechung des Weges vor.
Eine Unterbrechung ist nur dann geringfügig, wenn sie auf einer Verrichtung beruht, die bei natürlicher Betrachtungsweise zeitlich und räumlich noch als Teil des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit anzusehen ist. Das ist der Fall, wenn sie nicht zu einer erheblichen Zäsur in der Fortbewegung in Richtung auf das ursprünglich geplante Ziel führt, weil sie ohne nennenswerte zeitliche Verzögerung „im Vorbeigehen“ oder „ganz nebenher“ erledigt werden kann (BSG, Urteil vom 23.01.2018, a. a. O. Rn. 16 m. w. N.).
Dies war hier nicht der Fall, weil das geplante Handeln in seiner Gesamtheit von der Klägerin gerade nicht „nur nebenbei“ erledigt werden konnte. Vielmehr setzte der subjektive Wille der Klägerin zu prüfen, ob sie die Tür ihres Kfz verschlossen hatte, eine neue objektiv beobachtbare Handlungssequenz in Gang, die sich auch äußerlich klar von dem versicherten Vorgang des Fußweges vom Firmenparkplatz zur Arbeitsstätte abgrenzen lässt. Auch wenn der Zeitaufwand eher gering und die Distanz, welche die Klägerin auf das Fahrzeug zuging, nur kurz gewesen sein mag, so führte dennoch der Richtungswechsel der Klägerin von der Arbeitsstätte weg in Richtung des Pkw zu einer erheblichen und klar abgrenzbaren Zäsur (vgl. BSG, Urteil vom 07.05.2019, a. a. O. Rn. 23, wonach bei Fußgängern der Richtungswechsel eine äußere, objektiv wahrnehmbare Grenze darstellt).
Der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit war auch bereits mit dem ersten Schritt in entgegengesetzter Richtung zu einer nicht nur geringfügigen Unterbrechung gelöst (BSG, Urteil vom 05.07.2016, B 2 U 16/14 R Rn. 21 m. w. N.).
Die nicht versicherte Unterbrechung des Weges war im Zeitpunkt des Unfalls auch noch nicht beendet und der Versicherungsschutz neu entstanden. Erst wenn die eigenwirtschaftliche Tätigkeit erkennbar beendet ist und der ursprüngliche Weg wiederaufgenommen wird, setzt der Versicherungsschutz wieder ein (BSG, Urteil vom 07.05.2019, a. a. O. Rn. 27 m. w. N.). Dies war hier im Zeitpunkt des Unfalls noch nicht der Fall.
Daher hat die Beklagte im angegriffenen Bescheid vom 07.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2018 zu Recht die Anerkennung des Ereignisses vom 11.07.2018 als Wegeunfall abgelehnt. Die Klage dagegen war somit abzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).


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