Sozialrecht

Doppelleistungen, Erfüllungsfiktion, Erstattungsanspruch, Erwerbsminderungsrente, Übergangsgeld

Aktenzeichen  L 19 R 410/21 NZB

Datum:
11.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 30390
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 72 Abs. 1 Nr. 4
SGB IX § 72 Abs. 3 Hs. 2
SGB VI § 116 Abs. 3 S. 1
SGB X § 104 Abs. 1 S. 1
SGB X § 107 Abs. 1
SGG § 144 Abs. 2 S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Die Erfüllungsfiktion des § 116 Abs. 3 SGB VI bezieht sich nur auf den Anspruch des Versicherten und entfaltet auch nur diesem gegenüber Wirkung.
2. Einem Rentenversicherungsträger ist es nicht möglich, sich gegenüber dem Erstattungsanspruch eines anderen Sozialleistungsträgers auf die Erfüllungsfiktion des § 116 Abs. 3 SGB VI zu berufen.
3. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass die Streitsache eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwirft und diese Rechtsfrage klärungsbedürftig ist.
4. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage dann nicht mehr, wenn sie schon entschieden ist oder durch Auslegung des Gesetzes eindeutig beantwortet werden kann (BSG, Beschluss vom 30.09.1992 – 11 BAr 47/92).

Verfahrensgang

S 23 R 31/21 2021-07-07 GeB SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 07.07.2021 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.027,46 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
In dem Klageverfahren war die Erstattung von Übergangsgeld streitig.
Die Klägerin führte für den Versicherten G vom 04.03.2019 bis zum 03.09.2020 eine Maßnahme zur Förderung der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben durch (Lernort: Werkstatt für behinderte Menschen). Mit Bescheid vom 27.02.2019 bewilligte die Klägerin dem Versicherten Übergangsgeld für die Zeit der Maßnahme. Nach der Anpassungsmitteilung vom 03.02.2020 betrug das Übergangsgeld für die Zeit vom 05.11.2019 bis 03.09.2020 monatlich 1.652,70 EUR. Der Bemessung des Übergangsgeldes lag das Arbeitsentgelt der vorbezogenen Leistung (Krankengeld) zugrunde.
Mit Bescheid vom 09.09.2020 bewilligte die Beklagte dem Versicherten Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.05.2020 bis 30.04.2023. Auszuzahlen waren für Mai und Juni 2020 jeweils 1.204,93 EUR und ab Juli 2020 monatlich 1.246,48 EUR. Für die Zeit vom 01.05.2020 bis zum 03.09.2020 sei Rente nicht zu zahlen, weil der Anspruch auf die monatliche Rente durch das gezahlte Übergangsgeld als erfüllt gelte.
Die Klägerin machte bei der Beklagten mit Schreiben vom 24.09.2020 einen Erstattungsanspruch in Höhe des für die Zeit vom 01.05.2020 bis 03.09.2020 geleisteten Übergangsgeldes geltend.
Dies lehnte die Beklagte unter Hinweis auf die Erfüllungsfiktion des § 116 Abs. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) mit Schreiben vom 13.10.2020 ab.
Die Klägerin hat am 14.01.2021 Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben und sich auf das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 22.05.2014 (L 10 R 5615/11, juris) bezogen. Danach stehe ihr bei rückwirkender Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund der Anrechnungsregelung des § 52 Abs. 1 Nr. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung (a.F.) bzw. jetzt § 72 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX ein Erstattungsanspruch nach § 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu. Die Regelung des § 116 Abs. 3 Satz 1 SGB VI stehe nicht entgegen. Denn diese bewirke lediglich eine dem § 107 Abs. 1 SGB X entsprechende Erfüllungsfiktion und entfalte damit ausschließlich Wirkung gegenüber dem Versicherten und gerade nicht gegenüber dem nach § 104 SGB X erstattungsberechtigten Leistungsträger.
Nach Anhörung hat das Sozialgericht Nürnberg mit Gerichtsbescheid vom 07.07.2021 die Beklagte verurteilt, der Klägerin das für den Zeitraum vom 01.05.2020 bis 03.09.2020 gewährte Übergangsgeld, begrenzt auf den Zahlbetrag der Rente, in Höhe von 5.027,46 EUR zu erstatten. Es hat die Berufung nicht zugelassen. Die Voraussetzungen des Erstattungsanspruches nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X seien erfüllt. Denn die Klägerin sei im Verhältnis zur Beklagten nachrangig zur Leistung verpflichtet gewesen, weil bei rechtzeitiger Bewilligung (und Zahlung) der Rente wegen Erwerbsminderung von der Klägerin Übergangsgeld für den streitigen Zeitraum nur unter Anrechnung der Rente hätte gezahlt werden müssen. Gerade aus dem Regelungsgehalt des § 72 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX (Anrechnung bei rechtzeitiger Leistungsbewilligung und deshalb gleichzeitigen Bezuges) folge das Vorrang-/ Nachrangverhältnis zwischen den Leistungen Übergangsgeld und Erwerbsminderungsrente. Auf eine Erfüllungsfiktion nach § 116 Abs. 3 Satz 1 SGB VI könne sich die Beklagte im Verhältnis zur Klägerin nicht berufen. Diese Regelung bewirke lediglich eine dem § 107 Abs. 1 SGB X entsprechende Erfüllungsfiktion und entfaltet damit ausschließlich Wirkung gegenüber dem Versicherten. Hierfür spreche der Wortlaut des § 116 Abs. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz SGB VI. Der dort genannte Anspruch („dieser Anspruch“) beziehe sich nur auf den in § 116 Abs. 3 Satz 1 erster Halbsatz SGB VI genannten Anspruch des Versicherten auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und gerade nicht auf einen Erstattungsanspruch eines anderen Sozialleistungsträgers.
Gegen die Nichtzulassung der Berufung im Gerichtsbescheid vom 07.07.2021 richtet sich die Beschwerde der Beklagten vom 06.08.2021. Die Rechtssache habe gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) grundsätzliche Bedeutung. Die Rechtsfrage sei wie folgt zu bezeichnen: „Besteht bei Anwendung des § 116 Abs. 3 SGB VI eine Erfüllungsfiktion beim Zusammentreffen von Übergangsgeld, welches von der Beschwerdegegnerin geleistet wurde, und Rente wegen Erwerbsminderungsrente?“. Die Erfüllungsfiktion des § 116 Abs. 3 SGB VI trete auch dann ein, wenn das Übergangsgeld von einem anderen Rehabilitationsträger gezahlt worden sei. Die Regelung des § 116 Abs. 3 SGB VI solle sicherstellen, dass unbillige Doppelleistungen von Übergangsgeld und Rente vermieden werden. Nach der Entscheidung des Sozialgerichts trete aber genau die Konstellation ein, die eigentlich hätte vermieden werden sollten. Denn von den Sozialleistungsträgern würde der maßgebende Betrag zweimal geleistet. Nämlich einmal an den Versicherten in Form von Übergangsgeld und nochmals als Rentenleistung im Rahmen des Erstattungsanspruches.
Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beteiligten sowie auf die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
II.
Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht begründet.
Die Berufung bedarf nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG der Zulassung. Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht
3. oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Keiner dieser Zulassungsgründe ist vorliegend gegeben.
Insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Der von der Beklagten geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass die Streitsache eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwirft und diese Rechtsfrage klärungsbedürftig ist. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage dann nicht mehr, wenn sie schon entschieden ist oder durch Auslegung des Gesetzes eindeutig beantwortet werden kann (BSG, Beschluss vom 30.09.1992 – 11 BAr 47/92, juris).
Insoweit ist die aufgeworfene Rechtsfrage, ob bei Anwendung des § 116 Abs. 3 SGB VI eine Erfüllungsfiktion beim Zusammentreffen von Übergangsgeld und Erwerbsminderungsrente besteht, nicht klärungsbedürftig. Denn aus § 116 Abs. 3 SGB VI ergibt sich eindeutig, dass – hierauf bezieht sich wohl die Rechtsfrage – es einem Rentenversicherungsträger nicht möglich ist, sich gegenüber dem Erstattungsanspruch eines anderen Sozialleistungsträgers auf die Erfüllungsfiktion der Vorschrift zu berufen.
Zutreffend hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass sich § 116 Abs. 3 SGB VI nur auf den Anspruch des Versicherten bezieht und auch nur diesem gegenüber Wirkung entfaltet (vgl. auch LSG Baden-Württemberg vom 22.05.2014, a.a.O.). Die nachträgliche Feststellung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit führt dazu, dass der Rentenanspruch des Versicherten in Höhe des gezahlten Übergangsgeldes als erfüllt gilt. Der Übergangsgeldbescheid ist nicht nachträglich aufzuheben, sondern das bereits gezahlte Übergangsgeld ist auf die Rentennachzahlung anzurechnen.
Aber nicht nur der Wortlaut („dieser Anspruch“), sondern auch der Zweck des § 116 Abs. 3 SGB VI zeigt eindeutig, dass sich die Erfüllungswirkung nur auf den Anspruch des Versicherten bezieht. Der zum 01.01.2001 neu eingeführte § 116 Abs. 3 SGB VI soll nach der Gesetzesbegründung sicherstellen, dass für erfolglos erbrachte medizinische Leistungen zur Rehabilitation bereits gezahltes Übergangsgeld auf die nachträglich für diesen Zeitraum bewilligte Rente angerechnet wird und dadurch unbillige Doppelleistungen vermieden werden (BT-Drs. 14/4630 S. 50, zu Nr. 33). Dies gilt auch für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, da der Wortlaut der gesetzlichen Regelung eine Einschränkung nur auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht vornimmt. Beweggrund der Einführung des § 116 Abs. 3 SGB VI war die gleichzeitig erfolgte Aufhebung der Rentenausschlussregelungen des § 116 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB VI (idF bis zum 31.12.2000). Ab dem 01.01.2001 war es demnach nicht mehr ausgeschlossen, dass neben dem Anspruch auf Übergangsgeld auch ein Anspruch auf Rente bestand, so dass eine Doppelleistung nach § 116 Abs. 3 SGB VI zu unterbinden war.
Dagegen liegt in der Erfüllung des Erstattungsanspruches nach keine Doppelleistung an den Versicherten. Der Rentenversicherungsträger erstattet lediglich den Betrag des Übergangsgeldes, der mangels rechtzeitiger Bewilligung der Rente auf das Übergangsgeld nicht angerechnet wurde (§ 72 Abs. 3 2. Hs SGB IX, § 104 SGB X).
Nach § 145 Abs. 4 Satz 4 SGG wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts mit der Ablehnung der Beschwerde rechtskräftig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG, § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 3 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Gerichtskostengesetz.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar.


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