Sozialrecht

Eingliederungshilfe für temporäre Betreuung in einer Kindertagesstätte neben der vollstationären Förderung in einem Wohnheim

Aktenzeichen  S 20 SO 107/16

Datum:
22.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 17916
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 15 Abs. 1, § 18 Abs. 6, § 55 Abs. 2 Nr. 2, § 56, § 76 Abs. 2 Nr. 3, § 79
SGB XII § 9 Abs. 1, § 53 Abs. 1 S. 1, § 54 Abs. 1 S. 1
UN-BRK Art. 7
SGB VIII § 22a, § 24

 

Leitsatz

1 Ziel der Eingliederungshilfe ist es, neben dem persönlichen Umfeld einen zweiten Lebensbereich zu eröffnen; dies gilt auch dann, wenn das behinderte Kind anstelle in seinem Elternhaus in einem Wohnheim wohnt und dort betreut und gefördert wird. (Rn. 69 – 70) (Rn. 74) (redaktioneller Leitsatz)
2 §§ 22a und 24 SGB VIII sowie Art. 7 UN-BRK vermitteln allen Kindern einen Rechtsanspruch auf Förderung in einer Kindertagesstätte. (Rn. 69) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Eröffnung eines zweiten Lebensbereichs durch Inanspruchnahme eines vom Gesetzgeber eingeräumten Rechts ist eine zulässige Rechtsausübung, deren Bedarfszugehörigkeit bzw. Bedarfsvergrößerung hinzunehmen und zu decken ist; insoweit liegt auch keine Doppelförderung vor. Auf eine fehlende Pflicht zum Kindergartenbesuch kommt es nicht an. (Rn. 78 – 81) (redaktioneller Leitsatz)
4 Leistungsvereinbarungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern zur umfassenden Deckung des Inklusionsbedarfs betreffen lediglich das Abrechnungsverhältnis und definieren den individuellen Bedarf des behinderten Menschen nicht. (Rn. 82) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 11.01.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.04.2016 verurteilt, die Kosten für die Betreuung der Klägerin in der Kindertagesstätte “B.” in A-Stadt ab dem 01.02.2015 montags bis freitags in einem Umfang von täglich 5 Stunden zu übernehmen bzw. zu erstatten.
II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.
III. Gerichtskosten werden für das Verfahren nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige Klage erweist sich in vollem Umfang als begründet.
I.
Die statthafte kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist form- und fristgerecht erhoben worden. Das Sozialgericht Nürnberg ist örtlich und sachlich zuständig.
II.
Der Bescheid vom 11.01.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil der Beklagte darin zu Unrecht die Kostenübernahme für eine teilstationäre Betreuung der Klägerin in der Kindertagesstätte B. in N. abgelehnt hat (1.). Soweit der Leistungserbringer oder die Klägerin infolge der Ablehnung in Vorleistung gegangen sind, hat der Beklagte die entsprechenden Kosten zu erstatten (2.).
1. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil er zu Unrecht die von der Klägerin begehrte Kostenübernahme für die teilstationäre Betreuung der Klägerin in der Kindertagesstätte B. ab dem 01.02.2015 abgelehnt hat.
Gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) erhalten Personen, die durch Behinderung im Sinne des § Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Leistungen der Eingliederungshilfe sind nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII u.a. Leistungen nach § 55 SGB IX (in der bis 31.12.2017 geltenden Fassung, „a.F.“; ab 01.01.2018 § 76 SGB IX n.F.). Diese Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden erbracht, um behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen (§ 55 Abs. 1 SGB IX a.F. bzw. § 76 SGB IX n. F.). Leistungen in diesem Sinne sind insbesondere auch heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind (§§ 55 Abs. 2 Nr. 2, 56 SGB IX a.F. bzw. §§ 76 Abs. 2 Nr. 3, 79 SGB IX n.F.).
Die Klägerin gehört unstreitig zum Personenkreis der nach den §§ 53ff SGB XII i.V.m. § 2 SGB IX Leistungsberechtigten der Eingliederungshilfe.
Zur Überzeugung der Kammer steht dies Übrigens auch im Lichte des Gutachtens des Prof. Dr. J. fest.
Infolgedessen erbringt der Beklagte auch nach pflichtgemäßem Ermessen durch die Wohnheimunterbringung der Klägerin stationäre Leistungen der Eingliederungshilfe seit dem 01.11.2013.
Das bedeutet, dass die Klägerin einen Eingliederungshilfeanspruch dem Grunde nach hat.
Art und Maß der Leistungserbringung stehen jedoch im pflichtgemäßem Ermessen des Beklagten, soweit dieses nicht ausgeschlossen wird, vgl. § 17 Abs. 2 SGB XII. Zudem ist das Ermessen des Sozialhilfeträgers durch den Bedarfsdeckungsgrundsatz des § 9 Abs. 1 SGB XII weiter eingeschränkt: Der festgestellte Bedarf muss gedeckt werden (vgl. Grube in Grube / Warendorf SGB XII Sozialhilfe Kommentar, 4. A., § 17 SGB XII, RdNr. 31f m.w.N.).
Vor diesem Hintergrund ist die Kammer der Überzeugung, dass das prinzipielle Ermessen des Beklagten vorliegend auf Null reduziert ist dergestalt, dass im streitgegenständlichen Zeitraum die Klägerin neben der stationären Wohnheimunterbringung mit der dort stattfindenden Förderung darüber hinaus zur Deckung ihres Teilhabebedarfs zusätzlich der teilstationären Förderung in einer Kindertagesstätte von fünf Stunden täglich montags bis freitags ab dem 01.02.2015 bedarf.
Die Kammer folgt insofern im Ergebnis dem Gutachten des Prof. Dr. J. wie auch den rechtlichen Ausführungen der Klägerin.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Kammer einen personenzentrierten Ansatz für den sozialhilfe- bzw. eingliederungshilferechtlich einzig zutreffenden hält. Dies folgt bereits aus dem Bedarfsdeckungsgrundsatz selbst, der seinerseits ja wiederum an der Person anknüpft, deren Bedarf zu decken ist.
Daher ist es generell angezeigt, einen einmal festgestellten Bedarf auch wieder in regelmäßigen Abständen zu überprüfen. Dies nicht zuletzt deswegen, weil sich durch veränderte Lebensumstände bzw. -situationen oder aber auch durch persönliche Entwicklung eines Menschen der Bedarf verändern kann. Es ist daher stets in einem ersten Schritt der (aktuelle bzw. zu einem bestimmten relevanten Zeitpunkt gegebene) Bedarf möglichst zutreffend zu ermitteln.
Hiervon ausgehend und unter Zugrundelegung dieses festgestellten Gesamtbedarfs ist dann in einem zweiten Schritt zu ermitteln, welche Maßnahmen zu dessen Deckung nötig sind. Innerhalb dieses Gesamtbedarfs bilden bedarfsdeckende Maßnahmen ein System gleichsam kommunizierender Röhren dergestalt, dass der im ersten Schritt ermittelte Gesamtbedarf die äußere Notwendigkeitsgrenze bedarfsdeckender Maßnahmen insgesamt bildet, wobei der jeweilige Anteil verschiedener geeigneter Maßnahmen an der Bedarfsdeckung variabel ist.
Insofern ist dem Beklagten absolut beizupflichten in dem Vortrag, dass auch die stationäre Förderung im Wohnheim einen Beitrag zur Deckung des gesamten Eingliederungshilfebedarfs der Klägerin leistet. Insofern stimmt die Kammer ausdrücklich der personenzentrierten und den Gesamtbedarf als Grenze variabler möglicher Deckungsmaßnahmen Betrachtungsweise des Beklagten zu (vgl. hierzu auch grundlegend die Kammerentscheidung vom 20.07.2017, Az.: S 20 SO 18/14, veröffentlicht in juris)
Allerdings folgt die Kammer nicht der Sicht des Beklagten hinsichtlich des Umfanges des Gesamtbedarfes, sondern der Gesamtbedarfsfeststellung des Prof. Dr. J.. Danach mag der ursprünglich (d.h. vor Beginn des Kindertagesstättenbesuchs) durch den Beklagten festgestellte Gesamtbedarf zutreffend gewesen sein wie auch der bewilligte Leistungsumfang.
Es erscheint der Kammer aber fehlerhaft, bei gravierend veränderten Umständen, nämlich dem Beginn des Kindergartens, weiterhin von diesem zuvor einmal festgestellten Gesamtbedarf auch weiterhin auszugehen, um diesen dann (insofern folgerichtig) auf die verschiedenen Deckungsmaßnahmen aufzuteilen.
In Kenntnis des Gutachtens ist die Kammer davon überzeugt, dass der Gesamtbedarf der Klägerin durch den Beginn des Kindergartens sich verändert hat, und zwar im Sinne einer Vergrößerung bzw. Veränderung des Bedarfs.
Insofern folgt die Kammer dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Prof. Dr. J.:
In seinem Kinder- und Jugendpsychiatrischem Gutachten vom 17.05.2017 hat Prof. Dr. J. bei der Klägerin folgende Leiden diagnostiziert:
* Apert-Syndrom
* Kraniosynostose
* Gaumenspalte
* Leichte Intelligenzminderung.
Die Klägerin sei daher wesentlich körperlich und geistig behindert nach Einschätzung des Gutachters. Hieraus ergebe sich ein umfassender und ganzheitlicher Förderbedarf der Klägerin sowohl im häuslichen Umfeld, als auch im zweiten Lebensbereich der Kindertagesstätte. Hierbei sei die Wohnheimunterbringung notwendig und sinnvoll, um die Klägerin umfassend zu versorgen. Die zusätzliche Förderung in der „B.“ sei gerade durch das inklusive Angebot geeignet, erforderlich und notwendig, um zum einen die adäquate Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und die Klägerin zum anderen in vollem Umfang zu fördern. Erforderlich sei ein Besuch von Montag bis Freitag von täglich fünf Stunden.
Da die Klägerin in allen Lebensbereichen auf intensive Unterstützung angewiesen sei, bedürfe sie umfassender Förderung und Betreuung. Gerade durch die Schaffung eines räumlich getrennten zweiten Lebensraumes in Form der Kindertagesstätte zur adäquaten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und Kontakten zu anderen Kindern und Jugendlichen könne in Form alltäglicher Inklusion dies bereits natürlich gefördert werden. Sie habe von der Förderung bereits in ihrer individuellen Entwicklung deutlich profitiert, wovon auch in Zukunft auszugehen sei. Das stationäre Angebot unterscheide sich von dem der Tagesstätte hinsichtlich der individuellen Förderung. Die Kindertagesstätte biete auch inklusiven Umgang mit nichtbehinderten Kindern.
Das vollstationäre Angebot der Wohneinrichtung biete eine umfassende pädagogische Struktur und Begleitung. Die Kindertagesstätte ergänze dies um inklusive Betreuung und Förderung durch zusätzliche Fachkräfte, die stundenweise mit der Klägerin arbeiten könnten.
Aus der Kombination beider Angebote würden adäquate Bedingungen für die psychosoziale Entwicklung der Klägerin geschaffen.
Bereits im Lichte des Gutachtens ist die Kammer der Überzeugung, dass die Klägerin zur individuellen und adäquaten Deckung ihres Inklusionsbedarfs neben der Wohnheimunterbringung zusätzlich des Besuches einer Kindertagesstätte bedarf. Insoweit ist das Ermessen des Beklagten auf Null reduziert, weil der Besuch der Kindertagesstätte zur Deckung des Teilhabeanspruchs laut Gutachten notwendig ist, § 9 Abs. 1 SGB XII.
Schon aus diesem Grunde ist die Ablehnung der Kostenübernahme für die teilstationäre Betreuung der Klägerin in der Kindertagesstätte rechtswidrig.
Demgegenüber kann jedoch nicht der Einwand erhoben worden, der Bedarf der Klägerin sei an sich durch die Wohnheimunterbringung gedeckt gewesen, und nur durch den nicht verpflichtenden Besuch des Kindergartens sei erst durch die Klägerin selbst eine Situation geschaffen worden, die den Bedarf gleichsam unnötigerweise vergrößert habe und deswegen unbeachtlich sei.
Hierzu ist folgendes anzumerken:
Erstens ergibt sich aus Sicht der Kammer aus dem Gutachten des Sachverständigen schlüssig und nachvollziehbar, dass die Klägerin neben der Förderung im Wohnheim der Eröffnung eines zweiten Lebensbereiches nebst dort notwendiger Förderung zur adäquaten Deckung ihres Teilhabebedarfs bedarf.
Die Kammer schließt sich ausdrücklich der Auffassung der von der Klägerin zitierten Gerichtsentscheidungen (SG Frankfurt/Oder, 04.03.2010, Az.: S 7 SO 29/05; SG Potsdam, 18.07.2008, Az.: 11 K 2483/04; Sächsisches LSG, 27.08.2009, Az.: L 7 SO 25/09 B ER) an, wonach § 136 Abs. 3 SGB IX (in der bis 31.12.2017 geltenden Fassung; „a.F.“; entsprechend ab dem 01.01.2018 § 219 Abs. 3 SGB IX n.F.) die gesetzgeberische Wertentscheidung enthalte, dass behinderten Menschen auch in räumlicher Hinsicht ein zweiter Lebensraum zu eröffnen und dadurch ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu gewährleisten sei. Aus Sicht der Kammer zieht sich dieser Gedanke wie ein roter Faden durch das Teilhaberecht: Ausgehend von dem Grundsatz der Teilhabe, ein den Möglichkeiten des behinderten Menschen entsprechendes, weitest mögliches Gleichziehen mit den Lebensverhältnissen und der Teilhabe nicht behinderter Menschen zu ermöglichen, umfasst dies – soweit dies aufgrund der Behinderung irgend möglich ist – auch das Ziel, behinderte Menschen nicht nur in einer einzelnen Einrichtung zu betreuen und zu fördern, sondern zumindest einen zweiten Lebensbereich zu eröffnen, um die Lebensrealität eines behinderten Menschen weitgehend der eines nicht behinderten Menschen, zumindest soweit wie möglich, anzunähern; so steht es völlig außer Frage, dass behinderte Menschen einen Anspruch auf Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen haben, auch wenn keine Werkstattfähigkeit gegeben ist. Ziel ist für Werkstattfähige wie Nichtwerkstattfähige jeweils die Eröffnung eines zweiten Lebensbereiches, letztlich wie bei einem nicht behinderten Erwachsenen, der mit seiner Arbeitswelt neben dem häuslichen Umfeld regelmäßig (mindestens) einen zweiten Lebensbereich hat. Entsprechendes gilt für den Schul- und Ausbildungsbereich, der unstreitig nicht behinderten, aber auch und gerade nach ihren jeweiligen Möglichkeiten behinderten Menschen jeweils eröffnet ist. Gleiches gilt auch für den Vorschulbereich. §§ 22a und 24 SGB VIII vermitteln der Klägerin wie allen Kindern, einen Rechtsanspruch auf Förderung in einer Kindertagesstätte, ebenso nach Auffassung der Kammer Art. 7 UN-BRK.
Danach ist also festzuhalten, dass es in vielerlei Hinsicht im Zusammenhang mit der Inklusion behinderter Menschen, nicht zuletzt im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz GG, Ziel des Gesetzgebers ist, behinderten Menschen, soweit ihre Behinderung dies zulässt, zumindest einen zweiten Lebensbereich neben dem persönlichen Umfeld zu eröffnen. Dies zählt zum Eingliederungshilfe- bzw. Teilhabebedarf der Klägerin.
Die Klägerin hat einen gesetzlich fixierten Anspruch auf einen Kindergartenbesuch bzw. als Behinderte zusätzlich einen entsprechenden, begleitenden Förderanspruch im Rahmen der Teilhabe im Rahmen der Eingliederungshilfe.
Diesen gilt es zu decken; das Ermessen des Beklagten ist insoweit auf Null reduziert, § 9 Abs. 1 SGB XII.
Dass eine teilstationäre Betreuung in einer integrativen Kindertagesstätte bei der Inklusion behinderter Kinder ein im Rahmen der Eingliederungshilfe grundsätzlich zu deckender Bedarf ist, erkennt der Beklagte unproblematisch regelmäßig an, sofern das Kind bei den Eltern wohnt.
Eine hiervon abweichende Betrachtungsweise rechtfertigt sich aber gerade im Lichte der obigen Ausführungen nicht in dem Umstand, dass das behinderte Kind anstelle in seinem Elternhaus in einem Wohnheim wohnt und betreut und gefördert wird.
Eine Differenzierung würde entweder bedeuten zu unterstellen, dass die Eltern (anders als eine stationäre Einrichtung) grundsätzlich nicht in der Lage seien, den Bedarf eines behinderten Kindes zu decken, denn nur dann würde sich, nach der Argumentation des Beklagten im vorliegenden Verfahren rechtfertigen, neben der Betreuung durch die Eltern den Besuch einer integrativen Tagesstätte zu bewilligen. Für eine derartige Sicht gibt es jedoch als generelle Annahme keinerlei Anhaltspunkte oder eine ernstzunehmende sachliche Grundlage. Andernfalls müsste jedes behinderte Kind, das keine Kindertagesstätte besucht, als Alternative in einer stationären Einrichtung betreut werden, was weder sachgemäß wäre, noch den gesetzgeberischen Vorgaben entsprechen würde.
Einzig zutreffende Rechtfertigung einer Kostenübernahme für eine teilstationäre Kindertagesstättenbetreuung im Rahmen der Eingliederungshilfe kann daher immer nur eine Bedarfsunterdeckung sein, entweder indem die Eltern den Förderbedarf nicht vollständig abzudecken in der Lage sind und deswegen bereits aus diesem Grunde ein Leistungsanspruch besteht oder eben gerade weil an sich der zweite Lebensbereich Teil eines stets zu deckenden Inklusionsbedarfs ist.
Gerade letzteres können aber weder die Eltern, noch eine ansonsten bedarfsdeckende stationäre Maßnahme leisten. Elternhaus und Wohnheim sind gleichsam der erste Lebensbereich. Die Eröffnung eines zweiten solchen zu leisten, sind sie nicht im Stande. Gerade hierauf hat der behinderte Mensch aber einen gesetzlichen Anspruch (s.o.).
Zweitens ist die Kammer der Überzeugung, dass selbst für den Fall einer durch die Klägerin gleichsam „freiwilligen Bedarfsschaffung oder -erweiterung“ durch den Kindergartenbesuch entgegen der Auffassung des Beklagten dies eine beachtliche und zu deckende Erweiterung des Gesamtbedarfs und nicht etwa mit dem Argument irrelevant wäre, dass eine Pflicht zum Kindergartenbesuch (anders als etwa bei der Schulpflicht) nicht gegeben sei, und ohne die freie, aber nicht notwendige Entscheidung der Klägerin zum Besuch einer Kindertagesstätte der bereits bewilligte Leistungsumfang im Wohnheim bedarfsdeckend wäre.
Entgegen der Auffassung des Beklagten handelt es sich hierbei nicht um einen selbst geschaffenen, an sich überflüssigen „Luxusbedarf“, weil die Klägerin hierzu zwar nicht gesetzlich verpflichtet ist, aber ihre gesetzlich eingeräumten Rechte zulässigerweise wahrnimmt (s.o.).
Würde man einem behinderten Menschen die zulässige Ausübung ihm und nichtbehinderten Menschen eingeräumter, elementarer, gesetzlicher Rechte verwehren mit dem Hinweis, die Wahrnehmung dieser Rechte sei nicht notwendig, weil es sich lediglich um Rechte handele, zu deren Ausübung ja keine gesetzliche Verpflichtung bestehe, würden diese gesetzlichen Rechte gerade für behinderte Menschen ausgehöhlt und würde dies zur vollen Überzeugung der Kammer einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darstellen. Würde man also diesem Gedanken folgen, so wäre der Großteil der Maßnahmen zur Gleichstellung behinderter Menschen obsolet, etwa der Barrierefreiheit, immer mit dem Argument, eine Maßnahme diene nur der Ausübung von Rechten, nicht jedoch von Pflichten. So könnte man beispielsweise auf einen barrierefreien Zugang zu Wahllokalen dann mit derselben Argumentation verzichten, weil der Zugang hierzu ja nur der Ausübung von Rechten dienen würde, wohingegen eine Wahlpflicht nicht bestehe.
Selbst wenn man also den Ansatz verfolgt, dass sich durch die Entscheidung der Klägerin, eine integrative Kindertagesstätte zu besuchen, deren Bedarf vergrößert habe im Vergleich zum vorher vollständig gedeckten Bedarf im Wohnheim, so ist dies legitimerweise erfolgt und kann der Klägerin nicht als nicht notwendig entgegengehalten werden. Vielmehr ist die Eröffnung eines zweiten Lebensbereichs durch Inanspruchnahme eines vom Gesetzgeber eingeräumten Rechts eine zulässige Rechtsausübung (s.o.), deren Bedarfszugehörigkeit bzw. Bedarfsvergrößerung hinzunehmen und zu decken ist. Insoweit liegt auch keine Doppelförderung vor.
Drittens ist es aus Sicht der Kammer verfehlt, die Klägerin zur Vermeidung einer in Wahrheit nicht gegebenen Doppelförderung (s.o.) darauf zu verweisen, dass das Wohnheim laut Leistungsvereinbarung mit dem Vor-Ort-Träger zu einer umfassenden Deckung des Inklusionsbedarfs der Klägerin verpflichtet sei; dies betrifft lediglich das „Abrechnungsverhältnis“ bzw. die Leistungsvereinbarung zwischen Leistungserbringer und Kostenträger; dieses dient lediglich der Bedarfsdeckung und definiert den individuellen Bedarf nicht. Entscheidend und vorliegend streitgegenständlich ist der individuelle Teilhabebedarf der Klägerin, der den Leistungsanspruch gegen den Kostenträger und damit gegen den Beklagten definiert. Ließe sich dieser durch Leistungsvereinbarungen zwischen Kostenträger und Leistungserbringer gestalten und reduzieren, so würde es sich bei einer solchen Vereinbarung um einen nicht zulässigen Vertrag zu Lasten Dritter, nämlich der Klägerin, handeln. Nicht die Leistungsvereinbarung definiert den Teilhabeanspruch, sondern der individuelle Bedarf des wesentlich behinderten Menschen; die Leistungsvereinbarung dient lediglich der Erfüllung des Anspruches der Klägerin. Dieser richtet sich aber gegen den Kostenträger und nicht gegen den Leistungserbringer. Selbst wenn auf der Grundlage der Leistungsvereinbarung der Leistungserbringer zum Zukauf externer Leistungen (dem Kostenträger gegenüber) verpflichtet wäre, so hätte die Klägerin deswegen trotzdem keinen Anspruch gegen den Leistungsträger. Ihr Bedarfsdeckungsanspruch richtet sich gegen den Kostenträger.
Nach dem vorstehenden ist festzuhalten, dass die Klägerin einen Teilhabeanspruch im Rahmen der Eingliederungshilfe auf teilstationäre Betreuung in der integrativen Kindertagesstätte B. in einem zeitlichen Umfang von fünf Stunden täglich montags bis freitags ab dem 01.02.2015 bis auf weiteres hat. Der Beklagte hat die entsprechenden Kosten zu übernehmen. Das Ermessen ist insoweit auf Null reduziert.
Der Ablehnungsbescheid vom 11.01.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2016 ist daher aufzuheben und der Beklagte zur entsprechenden Kostenübernahme zu verurteilen.
2. Der Beklagte hat die Kosten zu erstatten gemäß § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX (i.d. bis 31.12.2017 geltenden Fassung, „a.F.“), die der Klägerin dadurch entstanden sind, dass die zu Unrecht abgelehnten Leistungen selbst beschafft worden sind bzw. der Leistungserbringer in Vorleistung gegangen ist. Hierbei ist es unerheblich, ob die Klägerin die Rechnungen bereits bezahlt hat. Entscheidend ist einzig, ob sie einer entsprechenden unbedingten Kostenforderung durch den Leistungserbringer ausgesetzt ist. Dies ist vorliegend der Fall. Bei noch nicht erfolgter Begleichung der Rechnung richtet sich der Anspruch auf Freistellung von Inanspruchnahme durch den Beklagten.
§ 15 Abs. 1 SGB IX a.F. lautet.
(1) Kann über den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe nicht innerhalb der in § 14 Abs. 2 genannten Fristen entschieden werden, teilt der Rehabilitationsträger dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig mit. Erfolgt die Mitteilung nicht oder liegt ein zureichender Grund nicht vor, können Leistungsberechtigte dem Rehabilitationsträger eine angemessene Frist setzen und dabei erklären, dass sie sich nach Ablauf der Frist die erforderliche Leistung selbst beschaffen. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist der zuständige Rehabilitationsträger unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zur Erstattung der Aufwendungen verpflichtet. Die Erstattungspflicht besteht auch, wenn der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Die Sätze 1 bis 3 gelten nicht für die Träger der Sozialhilfe, der öffentlichen Jugendhilfe und der Kriegsopferfürsorge.
Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz SGB IX a.F. sind vorliegend erfüllt, weil der Beklagte zu Unrecht Leistungen abgelehnt hat (s.o. II.1.).
Hinsichtlich des Maßstabes im Zusammenhang mit der Kostenerstattung gilt hinsichtlich des Ermessens im Übrigen ein noch strengerer Maßstab als bei der Frage nach der Kostenübernahme:
Art und Maß der Leistungserbringung stehen zwar im pflichtgemäßem Ermessen des Beklagten, soweit dieses nicht ausgeschlossen wird, vgl. § 17 Abs. 2 SGB XII. Dieses Ermessen des Beklagten ist hinsichtlich Art und Maß der Leistung bei einem Sekundäranspruch wie dem vorliegenden Kostenerstattungsverfahren deutlich eingeschränkt. Hierbei bildet lediglich die Notwendigkeit der Leistung eine Grenze, so dass für die notwendige, selbstbeschaffte Leistung die Kosten zu erstatten sind, nicht jedoch für nicht notwendige Leistungen (vgl. Grube in Grube / Warendorf SGB XII Sozialhilfe Kommentar, 4. A., § 17 SGB XII, RdNr. 30 m.w.N.).
Gerade im Hinblick auf die Kostenerstattung hat sich das Ermessen des Beklagten ohne jeden Zweifel auf Null reduziert. Die Leistung in der Kindertagesstätte war auch notwendig (s.o.)
§ 2 Abs. 1 SGB XII, wonach Sozialhilfe nicht erhält, wer sich selbst helfen kann oder die erforderliche Hilfe von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält, kann dem nicht entgegengehalten werden, insbesondere nicht die Vorleistung des Leistungserbringers oder der Klägerin selbst.
Zwar setzen Sozialhilfeleistungen vom Grundgedanken einen aktuellen Bedarf voraus; dies gilt allerdings aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, GG) nicht bei einer rechtswidrigen Ablehnung der Hilfegewährung und zwischenzeitlicher Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter, wenn der Hilfesuchende innerhalb der gesetzlichen Fristen einen Rechtsbehelf eingelegt hat und im Rechtsbehelfsverfahren die Hilfegewährung erst erstreiten muss (vgl. BSG, 22.03.2012, Az.: B 8 SO 30/10 R). § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX a.F. ist insofern Ausdruck des allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruchs rechtswidrigen Handelns, der letztlich aus dem Rechtsstaatsprinzip herrührt. Andernfalls könnten sich Sozialhilfeträger ihren gesetzlichen Leistungsverpflichtungen im Ergebnis durch rechtswidrige Leistungsablehnungen entziehen.
Gleiches gilt für die Zeit ab dem 01.01.2018 aufgrund § 18 Abs. 6 SGB IX n.F. entsprechend.
Die Vorschrift lautet:
(1) Kann über den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe nicht innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab Antragseingang bei dem leistenden Rehabilitationsträger entschieden werden, teilt er den Leistungsberechtigten vor Ablauf der Frist die Gründe hierfür schriftlich mit (begründete Mitteilung).
(2) 1In der begründeten Mitteilung ist auf den Tag genau zu bestimmen, bis wann über den Antrag entschieden wird. 2In der begründeten Mitteilung kann der leistende Rehabilitationsträger die Frist von zwei Monaten nach Absatz 1 nur in folgendem Umfang verlängern:
1.um bis zu zwei Wochen zur Beauftragung eines Sachverständigen für die Begutachtung infolge einer nachweislich beschränkten Verfügbarkeit geeigneter Sachverständiger,
2.um bis zu vier Wochen, soweit von dem Sachverständigen die Notwendigkeit für einen solchen Zeitraum der Begutachtung schriftlich bestätigt wurde und
3.für die Dauer einer fehlenden Mitwirkung der Leistungsberechtigten, wenn und soweit den Leistungsberechtigten nach § 66 Absatz 3 des Ersten Buches schriftlich eine angemessene Frist zur Mitwirkung gesetzt wurde.
(3) 1Erfolgt keine begründete Mitteilung, gilt die beantragte Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. 2Die beantragte Leistung gilt auch dann als genehmigt, wenn der in der Mitteilung bestimmte Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag ohne weitere begründete Mitteilung des Rehabilitationsträgers abgelaufen ist.
(4) 1Beschaffen sich Leistungsberechtigte eine als genehmigt geltende Leistung selbst, ist der leistende Rehabilitationsträger zur Erstattung der Aufwendungen für selbstbeschaffte Leistungen verpflichtet. 2Mit der Erstattung gilt der Anspruch der Leistungsberechtigten auf die Erbringung der selbstbeschafften Leistungen zur Teilhabe als erfüllt. 3Der Erstattungsanspruch umfasst auch die Zahlung von Abschlägen im Umfang fälliger Zahlungsverpflichtungen für selbstbeschaffte Leistungen.
(5) Die Erstattungspflicht besteht nicht,
1.wenn und soweit kein Anspruch auf Bewilligung der selbstbeschafften Leistungen bestanden hätte und
2.die Leistungsberechtigten dies wussten oder infolge grober Außerachtlassung der allgemeinen Sorgfalt nicht wussten.
(6) 1Konnte der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Leistungsberechtigten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese vom Rehabilitationsträger in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. 2Der Anspruch auf Erstattung richtet sich gegen den Rehabilitationsträger, der zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung über den Antrag entschieden hat. 3Lag zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung noch keine Entscheidung vor, richtet sich der Anspruch gegen den leistenden Rehabilitationsträger.
(7) Die Absätze 1 bis 5 gelten nicht für die Träger der Eingliederungshilfe, der öffentlichen Jugendhilfe und der Kriegsopferfürsorge.
Der Beklagte hat der Klägerin daher die ab dem 01.02.2015 angefallenen Kosten für eine teilstationäre Betreuung der Klägerin in der integrativen Kindertagesstätte für täglich fünf Stunden montags bis freitags in der tatsächlich angefallenen Höhe zu erstatten.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 193, 183 SGG und § 64 SGB X.


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