Sozialrecht

Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegenüber dem Träger der Ausbildungsförderung bezüglich der Internatskosten von behinderten Auszubildenden

Aktenzeichen  12 BV 14.174

Datum:
31.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 12012
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 44, § 104, § 107, § 111, § 113
SGB XII § 95
BAföG § 12, § 14a
HärteV § 6, § 7

 

Leitsatz

1. Hat der nachrangig verpflichtete Sozialhilfeträger einem Auszubildenden Eingliederungshilfe geleistet, stehen ihm zur Durchsetzung eines Erstattungsanspruchs gegenüber dem für Ausbildungsförderungsleistungen vorrangig Leistungsverpflichteten prozessual zwei grundsätzlich gleichwertige Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Der Sozialhilfeträger kann zunächst unmittelbar gegenüber dem vorrangig Leistungsverpflichteten einen Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X im Wege einer Leistungsklage geltend machen oder als gesetzlicher Prozessstandschafter des Auszubildenden nach § 95 Satz 1 SGB XII die Feststellung einer Sozialleistung betreiben und in diesem Rahmen ein sog. Zugunstenverfahren nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X anstrengen. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
2. Lehnt der Träger der Ausbildungsförderung in letzterem Fall die Durchführung eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ab, besitzt der nachrangig verpflichtete Sozialhilfeträger nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung die Möglichkeit der Erhebung einer kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungs- bzw. Feststellungsklage als statthafte Klageart. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X stellt insoweit ein gegenüber dem ursprünglichen Förderverfahren eigenständiges Verfahren zur nachträglichen Korrektur bestandskräftiger Sozialleistungsbescheide dar. Es schließt mit einer eigenen, in Form eines Verwaltungsakts ergehenden Entscheidung über die Durchführung des Zugunstenverfahrens ab. (Rn. 59) (redaktioneller Leitsatz)
4. Bei dem Zugunstenverfahren nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X handelt es sich um eine, speziell auf das Sozialrecht im Anwendungsbereich des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch zugeschnittene Regelung der Rücknahme von Verwaltungsakten. Der jeder Rücknahmeentscheidung innewohnende Gegensatz zwischen materieller Gerechtigkeit im Einzelfall und der Rechtsbeständigkeit von Verwaltungsentscheidungen wird durch die Regelung des § 44 Abs. 1 SGB X zugunsten der materiellen Richtigkeit der Ausgangsentscheidung aufgelöst. (Rn. 79) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 15 K 12.2551 2013-11-07 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Mit Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet, da sich die Klage auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens als zulässig (1.) und begründet (2.) erweist.
1. Die Klage ist zulässig. Mit ihr hat der Kläger einen von zwei gleichermaßen statthaften prozessualen Wegen beschritten, um den Nachrang seiner Leistungsverpflichtung für den Auszubildenden M. H. gegenüber dem vorrangig leistungsverpflichteten Beklagten im Wege der Untätigkeitsklage durchzusetzen (1.1). Der auf die Durchführung eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X als Prozessstandschafter gerichteten Klage fehlt trotz der gegenüber dem Auszubildenden nach § 107 Abs. 1 SGB X eingetretenen Erfüllungswirkung gleichwohl nicht das Rechtsschutzbedürfnis (1.2). Auch greift der vom Beklagten gegen die Zulässigkeit der Klage erhobene Einwand der Subsidiarität der Feststellungsklage nach § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO (1.3) nicht durch.
1.1 Hat der nachrangig verpflichtete Sozialhilfeträger einem Auszubildenden Eingliederungshilfe geleistet, stehen ihm zur Durchsetzung eines Erstattungsanspruchs gegenüber dem für Ausbildungsförderungsleistungen vorrangig Leistungsverpflichteten prozessual zwei grundsätzlich gleichwertige Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung (Armbruster in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII Stand 18.1.2017, § 95 Rn. 17: Erstattungsansprüche und die Befugnis des § 95 SGB XII stehen grundsätzlich gleichrangig nebeneinander). Er kann zunächst unmittelbar gegenüber dem vorrangig Leistungsverpflichteten einen Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X im Wege einer Leistungsklage geltend machen (vgl. hierzu den Senatsbeschluss vom heutigen Tag im Verfahren 12 ZB 14.1513, der eine entsprechende Leistungsklage zum Gegenstand hat). Der Sozialhilfeträger kann darüber hinaus als gesetzlicher Prozessstandschafter des Auszubildenden nach § 95 Satz 1 SGB XII die Feststellung einer Sozialleistung betreiben und in diesem Rahmen ein sog. Zugunstenverfahren nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X anstrengen (vgl. Armbruster in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, Stand 18.1.2017, § 95 Rn. 109; Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII Stand 03/2015, § 95 Rn. 5; ferner BSG, U.v. 25.9.2014 – B 8 SO 7/13 R – BSGE 117, 53 = BeckRS 2015, 66118 Rn. 13; U.v. 22.4.1998 – B 9 VG 6/96 R – BSGE 82, 112 = BeckRS 1998, 30012278 Rn. 22). Letzteres mündet angesichts der in § 107 Abs. 1 SGB X gegenüber dem Auszubildenden durchgreifenden Erfüllungswirkung (siehe dazu nachfolgend 1.2) in die Feststellung der Leistungspflicht des vorrangig verpflichtete Leistungsträgers (vgl. Armbruster in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII Stand 18.1.2017, § 95 Rn. 21) und schafft damit – gegebenenfalls unter Aufhebung entgegenstehender Bewilligungsbescheide – die Basis für ein nachfolgend durchzuführendes Erstattungsverfahren.
Lehnt der Träger der Ausbildungsförderung in letzterem Fall die Durchführung eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ab, besitzt der nachrangig verpflichtete Sozialhilfeträger nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung die Möglichkeit der Erhebung einer kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungs- bzw. Feststellungsklage als statthafte Klageart (vgl. BSG, U.v. 13.2.2014 – B 4 AS 22/13 R – BSGE 115, 126 = BeckRS 2014, 69905 Rn. 11; U.v. 12.10.2017 – B 11 AL 20/16 – BeckRS 2017, 137673 Rn. 11 f. für die Parallelbestimmung § 97 S. 1 SGB VIII; Baumeister in jurisPK SGB X, Stand 15.5.2019, § 44 Rn. 152 ff.; Becker in Hauck/Noftz, SGB X, Stand 04/2018, § 44 Rn. 73; Steinwedel in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand März 2019, § 44 SGB X Rn. 30). Dabei richtet sich das Anfechtungsbegehren gegen die Ablehnung der Durchführung des Zugunstenverfahrens nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Das Verpflichtungsbegehren zielt auf die Rücknahme der bestandskräftigen Leistungsbescheide, soweit sie sich nach der Überprüfung im Zugunstenverfahren als rechtswidrig erwiesen haben. An die Stelle der Erbringung der Leistung an den Leistungsempfänger im Rahmen der Leistungsklage tritt infolge des Handelns des Klägers als gesetzlicher Prozessstandschafter nach § 95 Satz 1 SGB XII sowie des Eintritts der Erfüllungswirkung nach § 107 Abs. 1 SGB X (siehe dazu nachfolgende 1.2) die Feststellung der Leistungsverpflichtung des beklagten Leistungsträgers.
Entscheidet der Träger der Ausbildungsförderung – wie im vorliegenden Fall – über einen auf Rücknahme der entgegenstehenden Leistungsbescheide und Feststellung der Leistungsverpflichtung des vorrangig Leistungsverpflichten gerichteten Antrag nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ohne sachlichen Grund nicht, steht dem klagenden Sozialhilfeträger nach § 75 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Erhebung einer Untätigkeitsklage offen. Einer Anfechtung der Ablehnung der Durchführung eines Zugunstenverfahrens bedarf es in diesem Fall nicht. Die Klage richtet sich insoweit allein auf die Feststellung der Leistungsverpflichtung des Beklagten sowie die Rücknahme der der festgestellten Leistungsverpflichtung entgegenstehenden Bewilligungsbescheide.
Eine derart kombinierte Verpflichtungs- und Feststellungsklage in Gestalt einer Untätigkeitsklage nach § 75 Satz 1 VwGO hat der Kläger mit seiner Klageschrift vom 5. Juni 2012, eingegangen beim Verwaltungsgericht München am 6. Juni 2012, auch erhoben. Zwar beantragte er dem Wortlaut nach zwei gegenüber dem Beklagten zu treffende „Feststellungen“, nämlich zunächst die Feststellung von dessen Verpflichtung, „dem Auszubildenden M. H. für dessen Besuch der St. V.-Schule für die Zeit vom 01.09.2010 bis 31.07.2012 Ausbildungsförderung in Höhe der tatsächlich entrichteten Kosten seiner Unterbringung im Wohnheim des Heilpädagogischen Zentrums St. V. zu leisten“, ferner die Feststellung, „dass die Bescheide des Beklagten vom 12.10.2010, 20.12.2010 und 7.5.2012 rechtswidrig sind, soweit sie dem entgegenstehen“. Durch die nach Klageerhebung erfolgende Leistung von Ausbildungsförderung für den Bewilligungszeitraum September 2011 bis Juli 2012 sowie die diesbezügliche Abtrennung des Verfahrens und Verfahrenseinstellung hat sich der Verfahrensgegenstand im vorliegenden Verfahren allein auf den Bewilligungszeitraum September 2009 bis Juli 2010 sowie die Rücknahme der entgegenstehenden Bewilligungsbescheide vom 12. Oktober 2010, 30. November 2010 und 20. Dezember 2010 beschränkt.
Im Folgenden kann dahinstehen, ob nicht bereits die Auslegung der Klageanträge aus der Klageschrift nach § 88 VwGO ergibt, dass der Kläger anstelle der Feststellung der Rechtswidrigkeit der einer Leistungspflicht des Beklagten entgegenstehenden Bewilligungsbescheide deren Rücknahme begehrt hat. In jedem Fall ist indes eine entsprechende Klageerweiterung nach § 91 Abs. 1 VwGO zulässig, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat.
Der Kläger hat nach dem vorstehend Ausgeführten eine statthafte und zulässige Klage erhoben.
1.2 Dieser Klage fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis.
Zwar tritt der Kläger hier nach § 95 Satz 1 SGB XII als gesetzlicher Prozessstandschafter des Auszubildenden H. M. auf, d.h. er macht gegenüber dem Beklagten dessen Recht auf Durchführung eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X in eigenem Namen geltend. Aus dem Wesen der gesetzlichen Prozessstandschaft folgt zugleich, dass der Kläger in diesem Fall nicht die Leistung von Ausbildungsförderung an sich selbst verlangen kann (vgl. BayVGH, U.v. 13.5.2008 – 12 B 06.3207 – BeckRS 2008, 27919 Rn. 19; Armbruster in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, Stand 18.1.2017, § 95 Rn. 89). Der Auszubildende H. M. hat indes vom Kläger als nachrangigem Träger der Sozialhilfe die vorliegend streitgegenständlichen Leistungen – nämlich die tatsächlich für die Unterbringung im Heilpädagogischen Zentrum St. V. entstandenen Aufwendungen – bereits im Rahmen der Eingliederungshilfe vollständig erhalten. Nach § 107 Abs. 1 SGB X tritt damit gegenüber dem Auszubildenden – zur Vermeidung von Doppelleistungen – im Verhältnis zum Beklagten die sog. Erfüllungswirkung ein. Dies hat für die vom Kläger nach § 95 Satz 1 SGB XII betriebene „Feststellung einer Sozialleistung“ zur Folge, dass er über das Zugunstenverfahren nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X vom Beklagten nicht mehr die Leistung an den Auszubildenden verlangen kann. Zur Vermeidung eines systemwidrigen Zirkelschlusses tritt vielmehr an Stelle der Leistung an den Auszubildenden die Feststellung einer entsprechenden Leistungspflicht des Beklagten gegenüber dem Auszubildenden (so ausdrücklich bezüglich der Vorgängervorschrift des § 95 SGB XII – § 91a BSHG – BVerwG, U.v. 7.7.2005 – 5 C 13.03 – BVerwGE 124, 75 = NVwZ 2005, 1428 ff. [1428]; BSG, U.v. 26.1.2000 – B 13 RJ 37/98 R – FEVS 54, 481 = BeckRS 2000, 40672; U.v. 22.4.1998 – B 9 VG 6/96 R – BSGE 82, 112 = BeckRS 1998, 30012278 Rn. 23; für die Parallelbestimmung § 97 Satz 1 SGB VIII vgl. BSG, U.v. 12.10.2017 – B 11 AL 20/16 – BeckRS 2017, 137673 Rn.13 f.; vgl. ferner Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII, Stand 03/2015, § 95 Rn. 20). Während für eine nochmalige Leistung von Ausbildungsförderung an den Auszubildenden ersichtlich kein Rechtsschutzbedürfnis besteht, kommt dem Kläger demnach für die Feststellung einer entsprechenden Leistungspflicht gleichwohl ein Rechtsschutzbedürfnis zu, weil letztere die Grundlage für ein nachfolgendes Erstattungsbegehren durch den vorrangig verpflichteten Leistungsträger bildet. Die von § 107 Abs. 1 SGB X angeordnete Erfüllungswirkung beseitigt entgegen der Auffassung des Beklagten das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers für die streitgegenständliche Klage daher nicht.
1.3 Der Zulässigkeit der Klage steht – anders als der Beklagte meint – auch nicht die Subsidiarität der Feststellungklage nach § 43 Abs. 2 VwGO entgegen.
Der Beklagte ordnet insoweit den Klagegegenstand unzutreffend ein. Denn die vorliegende Klage richtet sich nicht gegen die bestandskräftigen Förderbescheide des Beklagten vom 12. Oktober 2010, 30. November 2010 und 20. Dezember 2010. Vielmehr hat der Kläger beim Beklagten als gesetzlicher Prozessstandschafter nach § 95 Satz 1 SGB XII die Feststellung einer Sozialleistung, nämlich im konkreten Fall die Durchführung eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X, mit der die genannten Bescheide einer erneuten Prüfung unterzogen werden sollen, beantragt. Das Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X stellt insoweit ein gegenüber dem ursprünglichen Förderverfahren eigenständiges Verfahren zur nachträglichen Korrektur bestandskräftiger Sozialleistungsbescheide dar. Es schließt mit einer eigenen, in Form eines Verwaltungsakts ergehenden Entscheidung über die Durchführung des Zugunstenverfahrens ab.
Darüber hinaus ist auch das Betreiben der „Feststellung“ einer Sozialleistung als Prozessstandschafter nach § 95 Satz 1 SGB XII in einem weiten Sinne zu verstehen (vgl. Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 95 Rn. 11). In der Rechtsprechung ist geklärt, dass im Falle einer ablehnenden Entscheidung über die Feststellung einer Sozialleistung nach § 95 SGB XII eine Anfechtungsklage verbunden mit der „Feststellung“ der beanspruchten Sozialleistung zu erheben ist (vgl. BSG, U.v. 12.10.2017 – B 11 AL 20/16 R – juris Rn. 11 f. zur inhaltsgleichen Vorschrift des § 97 Satz 1 SGB VIII). Dies entspricht im vorliegenden Verfahren in der Konstellation einer Untätigkeitsklage der (letzten) Antragstellung des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Demnach liegt hier entgegen der Auffassung des Beklagten keine Feststellungsklage vor. Der Kläger erstrebt vielmehr in Form der Untätigkeitsklage – der Beklagte hat den Antrag auf Durchführung eines Zugunstenverfahrens nicht beschieden – den Erlass eines Verwaltungsakts, der sich seinerseits auf die „Feststellung“ einer Sozialleistung, hier die Leistung von Ausbildungsförderung an den Auszubildenden M. H. sowie die Rücknahme bereits bestandskräftiger Bewilligungsbescheide richtet. § 43 Abs. 2 VwGO greift daher im vorliegenden Fall nicht ein.
Die Klage erweist sich insgesamt als zulässig.
2. Die Klage ist ferner auch begründet.
2.1 Was die Bemessung des Anspruchs des Auszubildenden H. M. auf Ausbildungsförderungsleistungen unter Einschluss der Kosten seiner Unterbringung im Heilpädagogischen Zentrum St. V. nach §§ 12, 14a BAföG in Verbindung mit §§ 6, 7 HärteV sowie das Vorliegen der Voraussetzungen des Zugunstenverfahrens nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X und der Möglichkeit von dessen prozessstandschaftlicher Geltendmachung durch den Kläger nach § 95 Satz 1 SGB XII betrifft, macht der Senat von der Möglichkeit des § 130b Satz 2 VwGO Gebrauch und sieht unter Bezugnahme auf die für zutreffend erachteten Gründe des verwaltungsgerichtlichen Urteils von der weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, zumal der Beklagte im Berufungsverfahren hiergegen auch keine substantiellen Einwände erhoben hat.
2.2 Darüber hinaus lässt sich dem Anspruch des Klägers auf Feststellung der Leistungsverpflichtung des Beklagten hinsichtlich Ausbildungsförderungsleistungen unter Berücksichtigung der Kosten der Unterbringung von H. M. im Heilpädagogischen Zentrum St. V. im Zeitraum September 2009 bis Juli 2011 sowie dessen Verpflichtung, die Bescheide vom 12. Oktober 2010, 30. November 2010 und 20. Dezember 2010 zurückzunehmen, soweit sie dieser Feststellung entgegenstehen, weder die vom Beklagten herangezogene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Bindungswirkung der Ablehnung einer Leistung im Leistungsverhältnis für das Erstattungsverhältnis (BSG, U.v. 12.5.1999 – B 7 AL 74/98 R – BSGE 84, 80) noch der allgemeine Rechtsgrundsatz eines Verbots des „venire contra factum proprium“ entgegenhalten.
2.2.1 Soweit sich der Beklagte in der Berufungsbegründung auf eine in einem Erstattungsverfahren nach § 104 SGB X ergangene Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG, a.a.O.) bezieht und deren Übertragung auf die vorliegende Fallkonstellation postuliert, mit der Konsequenz, dass dem Kläger, da er die Bescheide vom 12. Oktober 2010, 30. November 2010 und 20. Dezember 2010 nicht angefochten hat und sie demzufolge in Bestandskraft erwachsen sind, kein Anspruch auf Feststellung einer Leistungsverpflichtung des Beklagten zukommen soll, stehen dieser Auffassung zunächst systematische Gründe entgegen. Des Weiteren zeigt eine Auswertung der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundessozial- und des Bundesverwaltungsgerichts, dass jedenfalls für den Bereich des Ausbildungsförderungsrechts eine Bindungswirkung der Leistungsablehnung für das Erstattungsverfahren nicht angenommen werden kann.
2.2.1.1 Eine Übertragung der vom Beklagten zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, a.a.O.) auf die Fallkonstellation eines im Wege der Prozessstandschaft betriebenen Zugunstenverfahrens scheidet bereits aus systematischen Gründen aus. Denn dieses, dem unmittelbaren Geltendmachen eines Erstattungsanspruchs gleichwertige prozessuale Vorgehen zielt konkret auf die Beseitigung der bestandskräftigen Leistungsablehnung gegenüber dem Leistungsberechtigten, die nach der vom Beklagten in Anspruch genommenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts einem Erstattungsanspruch des nachrangig leistungsverpflichteten Sozialhilfeträgers gerade entgegenstehen soll. Unter Nutzung der vom Gesetzgeber ausdrücklich mit der Ziel der Realisierung der nachrangigen Leistungsverpflichtung geschaffenen Möglichkeit des prozessstandschaftlichen Vorgehens für den Auszubildenden soll dem Sozialhilfeträger folglich gerade die Möglichkeit eröffnet werden, die einem Erstattungsanspruch möglicherweise entgegenstehende, bestandskräftige Leistungsablehnung zu beseitigen und so – über die Feststellung der Leistungsverpflichtung des vorrangig Leistungsverpflichteten – die Durchführung eines Erstattungsverfahrens zu ermöglichen. Ließe man die Argumentation des Beklagten durchgreifen, wäre dem nachrangig Leistungsverpflichteten diese gesetzlich vorgesehene Handlungsmöglichkeit genommen. Dies erweist sich mithin als systemwidrig.
2.2.1.2 Weiterhin ergibt sich unter Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung des Bundessozial- und des Bundesverwaltungsgerichts entgegen der Ansicht des Beklagten für den Bereich des Ausbildungsförderungsrechts keine Bindungswirkung einer Leistungsablehnung für das Erstattungsverfahren.
Während einzelne Senate des Bundessozialgerichts die Auffassung einer Begrenzung des Erstattungsanspruchs des nachrangig verpflichteten Sozialleistungsträgers durch die Ablehnung der Leistung durch den vorrangig verpflichteten Sozialleistungsträger vertreten, mithin das Leistungsverhältnis auf das Erstattungsverhältnis gewissermaßen „durchschlagen“ lassen, treten andere Senate des Bundessozialgerichts dieser Rechtsansicht ausdrücklich entgegen. Darüber hinaus bestehen gegen die Annahme einer Bindung des Erstattungsberechtigten an die Antragsablehnung des Erstattungsverpflichteten im Leistungsverhältnis in der Literatur durchgreifende Bedenken. Schließlich geht das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 23. Januar 2014 (5 C 8.13 – NJW 2014, 1979) ausdrücklich davon aus, dass das Leistungsverhältnis vom Erstattungsverhältnis zu trennen ist, und hat, worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hinweist, folgerichtig das Bestehen eines Erstattungsanspruchs auch für den Fall angenommen, dass weder der nachrangig verpflichtete Sozialhilfeträger noch der Auszubildende selbst einen Antrag auf Ausbildungsförderungsleistungen gestellt haben. Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass eine Begrenzung des Erstattungsanspruchs durch die Ablehnung der Leistung im Leistungsverhältnis jedenfalls für das Ausbildungsförderungsrecht nicht besteht. Eine auf die vorliegende Fallkonstellation des prozessstandschaftlichen Betreibens eines Zugunstenverfahrens übertragbare höchstrichterliche Rechtsprechung lässt sich daher entgegen der Auffassung des Beklagten nicht identifizieren, wie sich im Einzelnen aus Folgendem ergibt:
Die vom Beklagten in der Berufungsbegründung aufgeworfene Frage, ob die Ablehnung eines Antrags auf Ausbildungsförderungsleistungen im Rahmen des (ursprünglichen) Leistungsverfahrens im Sinne einer Tatbestands- bzw. Bindungswirkung auf das Erstattungsverfahren „durchschlägt“, mit der Folge, dass im Umfang der Ablehnung der Erstattungsanspruch erlischt, wird – wie bereits eingangs ausgeführt – in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – anders, als es der Beklagte darzustellen versucht – unterschiedlich beantwortet (vgl. hierzu ausführlich BSG, U.v. 20.3.2018 – B 2 U 16/16 R – juris Rn. 14 f.; ferner die Übersicht bei Krasney, KV 2014, S. 1 ff.).
Mehrere Senate des Bundessozialgerichts (Übersicht in BSG, U.v. 20.3.2018 – B 2 U 16/16 R – juris Rn. 14 f.; ferner Krasney, KV 2014, 1 ff. [3 ff.]) vertreten für die ihnen jeweils zugewiesenen Rechtsgebiete die Auffassung, dass der nachrangige (oder unzuständige) Leistungsträger bei der Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs die bestandskräftige Entscheidung des vorrangigen (oder zuständigen) Leistungsträgers im Leistungsverhältnis zu beachten habe (so beispielsweise der 10. Senat, BSG, U.v. 10.7.2014 – B 10 SF 1/14 R – juris Rn. 20 ff. für einen Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegenüber dem Jugendhilfeträger; 7. Senat: BSG, U.v. 12.5.1999 – B 7 AL 74/98 R – BSGE 84, 80 LS 1 für einen Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegenüber dem Träger der Arbeitslosenhilfe). Dem korrespondiere das Recht des auf Erstattung in Anspruch genommenen Leistungsträgers, sich auf seine eigenen, bindenden Verwaltungsakte zu berufen. Aus der dergestalt umschriebenen Tatbestandswirkung (Drittbindungswirkung) von Verwaltungsakten folge, dass Behörden und Gerichte die in einem bindenden Bescheid getroffene Regelung als verbindlich hinzunehmen und ohne Prüfung der Rechtmäßigkeit ihren Entscheidungen zugrunde zu legen hätten. Dies erfordere die Funktionsfähigkeit des auf dem Prinzip der Aufgabenteilung beruhenden gegliederten Sozialleistungssystems sowie die Pflicht der Sozialleistungsträger zur Zusammenarbeit nach § 86 SGB X. Eine Bindungswirkung im Erstattungsstreit solle grundsätzlich selbst dann bestehen, wenn der ursprüngliche Verwaltungsakt fehlerhaft sei. Der auf Erstattung in Anspruch genommene Leistungsträger dürfe sich nur dann nicht auf die Bindungswirkung seiner Entscheidung berufen, wenn diese sich als offensichtlich fehlerhaft erweise und sich dies zum Nachteil des anderen Leistungsträgers auswirke (BSG, U.v. 20.3.2018 – B 2 U 16/16 R – juris Rn. 14: Erstattungsanspruch der Krankenkasse gegenüber dem Träger der Unfallversicherung). Diese Möglichkeit bestehe wiederum dann nicht, wenn der Erstattungsberechtigte selbst das ursprüngliche Verwaltungsverfahren betrieben und die Ablehnungsbescheide habe bestandskräftig werden lassen (BSG, U.v. 10.7.2014 – B 10 SF 1/14 R – juris Rn. 21: Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegen den Träger der Kinder- und Jugendhilfe; U.v. 12.5.1999 – B 7 AL 74/98 R – BSGE 84, 80 LS 1). Eine weitere Ausnahme von der „Bindungswirkung“ solle dann gelten, wenn der auf Erstattung in Anspruch genommene Leistungsträger die Leistung nicht aus Gründen des besonderen Leistungsrechts, sondern gerade wegen der Leistungsverpflichtung eines anderen Sozialleistungsträgers abgelehnt habe (BSG, U.v. 12.5.1999 – B 7 AL 74/98 R – BSGE 84, 80 Rn. 16).
Demgegenüber haben namentlich der 1. und 2. Senat des Bundessozialgerichts die Berechtigung des auf Erstattung in Anspruch genommenen Sozialleistungsträgers, dem Erstattungsgläubiger seine gegenüber dem Leistungsberechtigten ergangenen bindenden Verwaltungsakte entgegenzuhalten, im Rahmen der ihnen durch die Geschäftsverteilung zugewiesenen Rechtsmaterien bislang stets verneint (vgl. hierzu unter ausführlicher Darstellung des Meinungsstands BSG, U.v. 20.3.2018 – B 2 U 16/16 R – juris, Rn. 12 ff., ferner BSG, U.v. 13.12.2016 – B 1 KR 29/15 R – BSGE 122, 162 Rn. 11 ff.: Erstattungsverfahren einer Berufsgenossenschaft gegen eine Krankenkasse; vgl. ferner Krasney, KV 2014, 1 ff. [2 f.]). Sie gehen zu Recht davon aus, dass es sich bei den Erstattungsansprüchen der §§ 102 ff. SGB X um eigenständige, originäre Ansprüche handelt, die nicht von der Position des Leistungsberechtigten abgeleitet sind.
Darauf, dass es sich bei Erstattungsansprüchen gegenüber Leistungsansprüchen um eigenständige, originäre Ansprüche handelt, die nicht von Entscheidungen im Leistungsverhältnis abhängen, verweisen überzeugend aktuelle Stimmen in der Literatur (vgl. insbesondere Kater in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrechts, Stand März 2018, § 105 SGB X Rn. 41 ff. sowie Rn. 48 ff. „Kritik an der Begründung der Gegenmeinung“; Krasney, KV 2014, 1 ff.). Darüber hinaus soll es für die Annahme einer Tatbestands- bzw. Bindungswirkung einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, die nicht besteht. Schließlich ist auch nicht erkennbar, weshalb die in § 86 SGB X normierte Verpflichtung der Sozialleistungsträger zur engen Zusammenarbeit eine Beschränkung des Erstattungsanspruchs durch die im Leistungsverhältnis ergangenen Verwaltungsakte des Erstattungsverpflichteten gebieten soll.
Mit Urteil vom 23. Januar 2014 (BVerwG, U.v. 23.1.2014 – 5 C 8.13 – juris) hat deshalb das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen eines Erstattungsstreits dem klagenden Sozialhilfeträger nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu Recht einen Erstattungsanspruch für Internatskosten eines Auszubildenden für den Fall zugebilligt, dass weder der Sozialhilfeträger über § 95 Satz 1 SGB XII noch der Auszubildende selbst einen Antrag auf Ausbildungsförderungsleistungen gestellt haben, was zur Folge hatte, dass ein Anspruch auf Leistung von Ausbildungsförderung für den entsprechenden Bewilligungszeitraum nicht entstanden war. Im Einzelnen führt das Bundesverwaltungsgericht hierzu Folgendes aus (Rn. 14 ff.):
„Der Leistungsanspruch des Berechtigten und der Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Sozialleistungsträgers nach § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB X sind jeweils rechtlich selbständige Ansprüche (BSG, Urteile vom 1. Dezember 1983 – 4 RJ 91/82 – BSGE 56, 69 , vom 22. Juli 1987 – RA 63/85 – SozR 1300 § 105 SGB X Nr. 5 S. 12 und vom 28. April 1999 – B 9 V 8/98 – BSGE 84, 61 ). Die Entstehung des Erstattungsanspruchs gründet nicht auf einem Übergang des Leistungsanspruchs auf den erstattungsberechtigten Träger, sondern allein auf der Erfüllung der Voraussetzungen des § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB X. Soweit der Erstattungsanspruch inhaltlich abhängig von und untrennbar verbunden mit dem Anspruch des Leistungsberechtigten ist, genügt es, dass in der Person des Berechtigten die wesentlichen und unverzichtbaren Grundvoraussetzungen des Anspruchs auf eine Leistung gegen den auf Erstattung in Anspruch genommenen Träger vorliegen. Dazu zählt ein Antrag auf Gewährung von Ausbildungsförderung nicht (vgl. BSG, Urteil vom 28. April 1999 a.a.O.).
Während sich die Entstehungsgeschichte des § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB X als unergiebig darstellt, sprechen Sinn und Zweck der §§ 102 ff. SGB X entscheidend dafür, das Bestehen eines Erstattungsanspruchs nach § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB X gegen den Träger der Ausbildungsförderung nicht davon abhängig zu machen, dass ein Antrag im Sinne des § 46 Absatz 1 Satz 1 BAföG gestellt worden ist. Die §§ 102 ff. SGB X dienen der Sicherstellung des Nachrangs einer bereits erbrachten Sozialleistung und der Finanzierungsverantwortung des vorrangig verpflichteten Sozialleistungsträgers im Erstattungsrechtsverhältnis. Die Realisierung dieser gesetzlich vorgegebenen Lastenverteilung sollte erkennbar nicht von der Antragstellung im Leistungsverhältnis abhängig sein und in das Belieben des Leistungsberechtigten gestellt werden. Anderenfalls hätte es dieser in der Hand, die gesetzlich vorgesehene Finanzierungsverantwortung dadurch zu korrigieren, dass er es unterlässt, einen Leistungsantrag zu stellen (BSG, Urteil vom 28. April 1999 a.a.O. S. 64 f.). Dem steht nicht entgegen, dass § 95 Satz 1 SGB XII den erstattungsberechtigten Träger der Sozialhilfe ermächtigt, die Feststellung einer Sozialleistung zu betreiben sowie Rechtsmittel einzulegen und damit den an sich dem Leistungsberechtigten zustehenden Anspruch auf Bewilligung der Sozialleistung im Wege der gesetzlichen Prozessstandschaft behördlich und gerichtlich geltend zu machen, ohne dass es dessen Mitwirkung bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 22. April 1998 – B 9 VG 6/96 R – BSGE 82, 112 ). Genauso wie der Erstattungsanspruch nach § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB X verfolgt das Feststellungsverfahren im Sinne des § 95 Satz 1 SGB XII den Zweck, der gesetzlich vorgesehenen Finanzierungslast im vielfältig gegliederten Sozialleistungssystem Geltung zu verschaffen. Diese Gemeinsamkeit rechtfertigt es hingegen nicht, unter Hinweis auf die Möglichkeit der Durchführung des Feststellungsverfahrens den Erstattungsanspruch von einem Antrag des Leistungsberechtigten abhängig zu machen. Denn der Zweck des Erstattungsanspruchs besteht – wie aufgezeigt – darin, dass der Verteilung der Finanzierungsverantwortung gerade durch ein vom Willen des Leistungsberechtigten unabhängiges Erstattungsverfahren Rechnung getragen wird.
Auch Schutzrichtung und Wirkung des § 95 SGB XII widerstreiten der Annahme, das Antragserfordernis sei deshalb unbedenklich, weil der nachrangig verpflichtete Leistungsträger im Falle des Unterlassens eines Antrags des Leistungsberechtigten das Feststellungsverfahren betreiben und auf diesem Weg einen Leistungsantrag stellen könne. § 95 SGB XII ist eine Schutzvorschrift zugunsten des subsidiär verpflichteten Trägers. Diesem wird insbesondere das Recht verliehen, sich von nachrangig zu erbringenden Leistungen gegenüber dem Hilfeempfänger zu befreien. Zwar dient der Erstattungsanspruch ebenfalls dem Schutz der Interessen des nachrangig zuständigen Trägers. Das Recht aus § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB X ist hingegen auf die Erstattung tatsächlich bereits erbrachter Leistungen und damit auf die Vergangenheit bezogen, während das Recht aus § 95 SGB XII auf die Feststellung des Anspruchs gerichtet ist und auch in die Zukunft reicht. Bereits dieser strukturelle Unterschied spricht dagegen, das hier in Rede stehende Antragserfordernis wegen der Möglichkeit der Durchführung eines Feststellungsverfahrens als unbedenklich zu erachten. Hinzu kommt, dass der Anspruch auf Erstattung und derjenige auf Feststellung nebeneinander bestehen (vgl. BSG, Urteil vom 22. April 1998 a.a.O. S. 116). Auch dies streitet dagegen, das Erfordernis eines Leistungsantrags für den Erstattungsanspruch (auch) mit der Möglichkeit der Durchführung eines Feststellungsverfahrens bei Fehlen eines solchen Antrags zu begründen und auf diese Weise beide Verfahren miteinander zu verknüpfen. Dem Feststellungsverfahren würde dadurch eine Bedeutung beigemessen, die ihm nicht zukommt. Schließlich liefe es dem Charakter des § 95 SGB XII als Schutzvorschrift zuwider, im Fall eines vom Leistungsberechtigten nicht gestellten Antrags die Erstattung von Leistungen davon abhängig zu machen, dass der nachrangig verpflichtete Träger den Leistungsantrag im Rahmen des Feststellungsverfahrens stellt. Dies gilt umso mehr, als es der nachrangig verpflichtete Leistungsträger regelmäßig nicht in der Hand hat, rechtzeitig entweder den Leistungsberechtigten zur Stellung eines weiteren Antrags bei einem anderen Träger zu bewegen oder anderenfalls das Feststellungsverfahren zu betreiben. Faktisch führte die Annahme einer Beachtlichkeit des Antragserfordernisses des § 46 Absatz 1 Satz 1 BAföG zu der ungewollten Konsequenz, dass der nachrangig verpflichtete Träger zur Sicherstellung einer umfassenden Erstattungsleistung gehalten wäre, zeitgleich mit der Beantragung der nachrangigen Sozialleistung durch den Berechtigten – im Sozialhilferecht auf Grund des Kenntnisgrundsatzes des § 18 SGB XII bereits mit Bekanntwerden des Hilfebedarfs – die Feststellung der vorrangigen Sozialleistung zu betreiben.“
Das Bundesverwaltungsgericht geht hier, wie aufgezeigt, mit einem Teil der sozialgerichtlichen Rechtsprechung für den Bereich des Ausbildungsförderungsrechts ausdrücklich davon aus, dass es sich bei Erstattungsansprüchen um jeweils eigenständige, originäre und vom Leistungsverhältnis unabhängige Ansprüche handelt, die dazu dienen, die in der gesetzgeberischen Systematik angelegte Finanzierungsverantwortung der jeweiligen Sozialleistungsträger im Nachhinein sicherzustellen. Die Annahme einer Beschränkung des Erstattungsanspruchs durch die für bindend erachtete Ablehnung von Leistungsansprüchen durch den Erstattungsverpflichteten ist hiermit – jedenfalls für das hier allein streitgegenständliche Ausbildungsförderungsrecht – unter keinem Gesichtspunkt vereinbar. Eine Einschränkung der prozessstandschaftlichen Geltendmachung eines Zugunstenverfahrens durch die Annahme einer Bindungswirkung der Ablehnung des Leistungsanspruchs durch den Erstattungsverpflichteten findet daher in der gesetzlichen Systematik, wie sie das Bundesverwaltungsgericht aufgezeigt hat, keine Stütze. Dem hiervon abweichenden Ansatz des Beklagten kann daher nicht gefolgt werden. Die aufgeworfenen Rechtsfragen sind durch die – für das Ausbildungsförderungsrecht allein maßgebliche – Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abschließend geklärt.
2.2.2 Der Kläger verhält sich dadurch, dass er nach Herausbildung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Umfang der ausbildungsförderungsrechtlichen Leistungen nach §§ 12, 14a BAföG in Verbindung mit §§ 6, 7 HärteV gegenüber dem Beklagten in Prozessstandschaft ein Zugunstenverfahren nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X angestrengt hat, auch nicht im Sinne eines „venire contra factum proprium“ rechtsmissbräuchlich, nachdem er zuvor die Leistungsbescheide des Beklagten vom 12. Oktober 2010, 30. November 2010 und 20. Dezember 2010 nicht angefochten hat.
Denn bei dem sog. Zugunstenverfahren nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X handelt es sich um eine, speziell auf das Sozialrecht im Anwendungsbereich des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch zugeschnittene Regelung der Rücknahme von Verwaltungsakten. Der jeder Rücknahmeentscheidung innewohnende Gegensatz zwischen materieller Gerechtigkeit im Einzelfall und der Rechtsbeständigkeit von Verwaltungsentscheidungen wird durch die Regelung des § 44 Abs. 1 SGB X zugunsten der materiellen Richtigkeit der Ausgangsentscheidung aufgelöst (BSG, U.v. 13.2.2014 – B 4 AS 22/13 R – BSGE 115, 126 = BeckRS 2014, 69905 Rn. 19; U.v. 11.11.2003 – B 2 U 32/02 R – BeckRS 2004, 40316; Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 44 Rn. 2). Auch bei durch bestandskräftigen Verwaltungsakt abgeschlossenen Verfahren ist der Bürger gegen Rechtsverluste deshalb nahezu umfassend geschützt. Innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 44 Abs. 4 SGB X steht einer Rücknahmeentscheidung selbst die vorherige Ablehnung der Durchführung eines Zugunstenverfahrens und dessen gerichtliche Bestätigung nicht entgegen. Eine Grenze setzt der Durchführung eines Zugunstenverfahrens lediglich § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB X für den Fall, dass der ganz oder teilweise zurückzunehmende Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Über diesen gesetzlich geregelten Ausschlusstatbestand hinaus steht dem Betreiben des Zugunstenverfahrens ein wie auch immer geartetes „Verschulden“ des Betroffenen nicht entgegen. Selbst derjenige, der verschuldet eine Rechtsbehelfsfrist verstreichen lässt, kann im Rahmen des Zugunstenverfahrens nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes ohne Rücksicht auf dessen eingetretene Bindungswirkung erwirken (so ausdrücklich BSG, U.v. 2.2.2006 – B 10 EG 9/05 R – BSGE 96, 44 = BeckRS 2006, 41300 Rn. 25).
Gemessen hieran liegt im Verhalten des Klägers, der gegen die Bewilligungsbescheide vom 12. Oktober 2010, 30. November 2010 und 20. Dezember 2010 keine Rechtsmittel eingelegt, dann aber prozessstandschaftlich ein Zugunstenverfahren nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X anstrengt hat, entgegen der Auffassung des Beklagten kein Rechtsmissbrauch. Vielmehr erweist sich umgekehrt das Vorgehen des Beklagten als grundsätzlich fragwürdig. Denn nach der gesetzgeberischen Konzeption des § 44 SGB X wäre der Beklagte auch ohne Antrag des Klägers bereits von Amts wegen verpflichtet gewesen, in die Prüfung eines Zugunstenverfahrens einzutreten, sobald er einen Hinweis darauf erhalten hatte, dass aufgrund unrichtiger Rechtsanwendung Sozialleistungen im Einzelfall nicht erbracht worden sind (vgl. Schütze in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 44 Rn. 39; BSG, U.v. 13.2.2014 – B 4 AS 22/13 R – BSGE 115, 126 = BeckRS 2014, 69905 Rn. 19). Dem mehrfachen Hinweis des Klägers auf die geänderte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 2.12.2009 – 5 C 33.08 – BVerwGE 135, 310) ist der Beklagte indes nicht nachgegangen, sondern hat stattdessen versucht, sich seiner evidenten Leitungspflicht zu entziehen. Gegen den Kläger lässt sich bei der gegebenen Fallkonstellation daher der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs nicht erheben.
Die Klage ist daher auch unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens des Beklagten begründet. Die Berufung war deshalb vollumfänglich zurückzuweisen.
3. Der Beklagte trägt nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden in Angelegenheiten des Ausbildungsförderungsrechts nach § 188 Satz 2, 1 VwGO nicht erhoben. Ein Erstattungsstreit zwischen Sozialleistungsträgern nach § 188 Satz 2, 2. Halbsatz VwGO ist im vorliegenden Fall nicht gegeben.
4. Gründe, nach § 132 VwGO die Revision gegen die vorliegende Entscheidung zuzulassen, liegen nicht vor. Lässt sich eine aufgeworfene Rechtsfrage – wie hier – ohne Weiteres aus dem Gesetz bzw. anhand des bislang erreichten Klärungsstands in Rechtsprechung und Schrifttum beantworten, kommt der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu (BVerwG, B.v. 3.6.2008 – 9 B 3.08 – juris Rn. 6).


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