Sozialrecht

Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung

Aktenzeichen  L 19 R 458/16

Datum:
28.9.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 131270
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 3 Abs. 1
SGB X § 44 Abs. 1
SGB VI § 59 Abs.2 S.2§ 115 Abs. 3 S. 1, § 300 Abs.1

 

Leitsatz

Zur Anwendung des § 59 Abs. 2 Satz 2 SGB VI idF des G vom 23.06.2014 auf Bestandsrentner.
Die Funktionsfähigkeit des Rentenversicherungssystems als solches ist ein übergeordnetes Gut des Gemeinwohls, das eine sachliche Differenzierung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG und auch eine Stichtagsregelung für die Anwendung einer gesetzlichen Neuregelung rechtfertigen kann.  (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 14 R 301/16 2016-06-06 GeB SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 06.06.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).
Sie ist jedoch unbegründet. Das SG Nürnberg hat zu Recht mit Gerichtsbescheid vom 06.06.2016 festgestellt, dass der Bescheid der Beklagten vom 11.01.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2016 rechtlich nicht zu beanstanden ist. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf eine höhere Rente ab dem 01.07.2014.
Der Antrag des Klägers vom 04.01.2016 (Schreiben vom 29.12.2015) stellt einen Antrag auf Überprüfung nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X – dar. Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Der Kläger begehrt die Überprüfung der Rentenanpassungsbescheide aus den Jahren 2014 und 2015 mit Wirkung ab dem 01.07.2014, nachdem mit dem Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz) vom 23.06.2014 (BGBl I, Seite 787) mit Wirkung zum 01.07.2014 § 59 SGB VI geändert wurde. Nach der Neufassung dieser Vorschrift ist als Zurechnungszeit die Zeit anzuerkennen, die bei einer Rente wegen Erwerbsminderung oder einer Rente wegen Todes hinzugerechnet wird, wenn der Versicherte das 62. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Die Zurechnungszeit endet nach § 59 Abs. 2 Satz 2 SGB VI mit Vollendung des 62. Lebensjahres. In der bis zum 30.06.2014 geltenden Fassung des § 59 SGB VI endete die Zurechnungszeit dagegen mit Vollendung des 60. Lebensjahres.
Der Kläger hat bereits deshalb keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung einer höheren Rente, weil er seit 01.09.2010 eine Regelaltersrente bezieht und die Vorschrift des § 59 SGB VI nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur auf Renten wegen Erwerbsminderung und Renten von Todes wegen Anwendung findet. Mit Erreichen der Regelaltersgrenze wird gemäß § 115 Abs. 3 S. 1 SGB VI eine Regelaltersrente anstelle der Erwerbsminderungsrente gewährt, sofern der Versicherte nichts anderes bestimmt. Da eine entgegenstehende Bestimmung des Klägers nicht vorliegt, kommt es nicht mehr darauf an, dass er bis September 2010 bereits eine Erwerbsminderungsrente bezogen hat.
Im Übrigen regelt § 300 SGB VI die Frage der Anwendbarkeit neuer Vorschriften auf bereits bestehende Lebenssachverhalte. Gemäß § 300 Abs. 1 SGB VI sind Neuregelungen ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens auf einen Sachverhalt oder Anspruch anzuwenden. Auch bei Neufeststellung einer bereits vorher geleisteten Rente – die hier aber gar nicht vorliegt – und bei einer Neuermittlung der persönlichen Entgeltpunkte sind gemäß § 300 Abs. 3 SGB VI die Vorschriften anzuwenden, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, d. h. im Falle des Klägers ist unter jeder denkbaren Konstellation jeweils die seit dem 01.01.2002 in Kraft getretene und bis zum 30.06.2014 geltende Fassung des § 59 SGB VI anzuwenden. Eine Anwendung der ab dem 01.07.2014 geltenden Neufassung des § 59 SGB VI ist ausgeschlossen.
Der Senat sieht ebenso wie das SG keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber kann grundsätzlich bei der Neuregelung von Lebenssachverhalten Stichtagsregelungen einführen, sofern hierfür nachvollziehbare sachliche Gründe vorliegen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27.02.2007, Az. 1 BvL 10/00, Rn 69 ff, insbesondere 73, veröffentlicht bei juris).
Das SG hat zu dem bereits zutreffend auf den Beschluss des Bundessozialgerichts – BSG – vom 30.12.2015, Az. B 13 R 345/15 B, hingewiesen. Zur Begründung des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes hat die Bundesregierung im Rahmen des Rentenpakets darauf hingewiesen, dass zwischenzeitlich eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters erfolgt ist, von der die bisherigen Bestandsrentner nicht betroffen sind. Die durch Erhöhung der Zurechnungszeit um 2 Jahre begründete Rentenerhöhung kann insoweit auch als Ausgleich für die Anhebung der gesetzlichen Altersgrenzen gesehen werden. Nach Ansicht des Gesetzgebers hat sich im Übrigen die Finanzsituation der gesetzlichen Rentenversicherung gegenüber den 90er Jahren (nach der deutschen Wiedervereinigung) stabilisiert, so dass begrenzte Leistungsverbesserungen die Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung nicht gefährden. Eine Gefährdung des Systems als solchem wäre aber nicht ausgeschlossen, wenn Leistungsverbesserungen nicht nur für Neurentner Anwendung finden müssten, sondern alle Bestandsrentner in den Genuss dieser Leistungen kämen. Die Funktionsfähigkeit des Rentenversicherungssystems als solches ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG und des BVerfG ein übergeordnetes Gut des Gemeinwohls, das eine sachliche Differenzierung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG und auch eine Stichtagsregelung für die Anwendung einer gesetzlichen Neuregelung rechtfertigen kann. Eine Willkürlichkeit der Stichtagsregelung durch das Rentenversicherungsleistungsverbesserungsgesetz vermag der Senat nicht zu erkennen.
Nach alledem war die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Nürnberg vom 06.06.2016 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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