Sozialrecht

Gesetzliche Rentenversicherung: Zu den Voraussetzungen einer Rückerstattung bezahlten Übergangsgeldes

Aktenzeichen  L 19 R 252/17

Datum:
18.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 23838
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 45
SGB IX § 52 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Grob fahrlässig im Sinne von § 45 SGB X handelt derjenige, der die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, indem er schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Dies trifft auf denjenigen zu, der neben dem Übergangsgeld Einkommen aus der geförderten Arbeit bezieht, das nicht auf das Übergangsgeld angerechnet wurde. Das Erfordernis der Anrechnung muss jedem einleuchten. (Rn. 32 – 33) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 1 R 292/16 2017-02-24 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 24.02.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 10.06.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.03.2016 ist hinsichtlich der teilweisen Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 14.04.2014 und 08.05.2014 für die Zeiträume vom 17.03.2014 bis 31.05.2014 und 01.06.2014 bis 21.11.2014 und der Erstattung eines überzahlten Betrages i.H.v. 5.166,51 EUR rechtlich nicht zu beanstanden. Der Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Die Beklagte war nach § 45 SGB X befugt, die Bewilligungsbescheide vom 14.04.2014 und 08.05.2014 teilweise zurückzunehmen. Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, im Falle seiner Rechtswidrigkeit nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder Vergangenheit zurückgenommen werden.
Die Bescheide vom 14.04.2014 und 08.05.2014, mit welchen dem Kläger laufende Übergangsgeldleistungen ab dem 17.03.2014 bzw. ab dem 01.06.2014 bewilligt worden sind, sind begünstigende Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Diese Bescheide sind bei ihrem Erlass (mit dem Eintritt seiner Wirksamkeit, d.h. gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X mit der Bekanntgabe) rechtswidrig gewesen. Denn im Zeitpunkt ihres Erlasses stand dem Kläger das Übergangsgeld nicht in der festgesetzten Höhe zu. Bei der Berechnung des Übergangsgeldes war nicht berücksichtigt worden, dass der Kläger ab dem 01.04.2014 aus einer während des Anspruches auf Übergangsgeld ausgeübten Beschäftigung Erwerbseinkommen in Höhe von monatlich 957,90 EUR netto bezog, das gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX idF bis 31.12.2017 anzurechnen war. Nach dieser Vorschrift wird auf das Übergangsgeld das gleichzeitig erzielte Erwerbseinkommen angerechnet, das dem Versicherten als Arbeitnehmer nach Abzug von Steuern und Beiträgen zufließt.
Zutreffend hat das Sozialgericht entschieden, dass der Kläger sich nicht auf Vertrauensschutz berufen kann, weil die subjektiven Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung der Bewilligungsbescheide nach § 45 Abs. 3 Satz 3 i.V.m Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vorliegen. Nach § 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB X kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe nach Absatz 2 zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X bestimmt, dass sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen kann, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Vorliegend ist davon auszugehen, dass der Kläger die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grob fahrlässig handelt derjenige, der die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, indem er schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Zwar besteht im Allgemeinen kein Anlass, einen Verwaltungsakt jedenfalls des Näheren auf Richtigkeit zu überprüfen, wenn im Verwaltungsverfahren zutreffende Angaben gemacht worden sind. Allerdings ist der Begünstigte rechtlich gehalten, einen ihm günstigen Bewilligungsbescheid auch zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Demnach ist von grob fahrlässiger Unkenntnis auszugehen, wenn der Adressat, hätte er den Bewilligungsbescheid gelesen und zur Kenntnis genommen, auf Grund einfachster und naheliegender Überlegungen sicher hätte erkennen können, dass der zuerkannte Anspruch nicht oder jedenfalls so nicht besteht.
In diesem Sinne musste der Kläger schlechthin wissen, dass wegen seines Arbeitseinkommens die Bewilligungsbescheide vom 14.04.2014 und 08.05.2014 zu seinen Gunsten falsch waren. Es musste ihm einleuchten, dass das zeitgleich von ihm erzielte Arbeitsentgelt bei der Berechnung der Höhe des Übergangsgeldes zu berücksichtigen war. Angaben über die Anrechnung des Arbeitsentgeltes enthielten die Bescheide nicht. Dass damit die Höhe des zuerkannten Übergangsgelds für den Kläger erkennbar unrichtig war, ergibt sich bereits aus der Auskunft der Beklagten vom 24.03.2014 auf Nachfrage des Klägers vom 23.03.2014, ob er etwas dazu verdienen könne und inwieweit der Verdienst auf das „Überbrückungsgeld“ angerechnet werden würde. Die Beklagte hatte darauf hingewiesen, dass die Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung bis zu einem Arbeitsentgelt in Höhe von 450,00 EUR unschädlich sei. Ein diesen Betrag übersteigendes Arbeitsentgelt sei auf das Übergangsgeld anzurechnen. Des Weiteren folgt dies aus den Hinweisen in den Bescheiden vom 14.04.2014 und 08.05.2014. Jede Änderung in den Einkünften – und damit auch der Bezug von Arbeitsentgelt des Klägers – sei der Beklagten mitzuteilen, da sich diese auf die Höhe des Übergangsgeldes oder auf den Zahlungszeitraum auswirken könne.
Ewas anderes ergibt sich nicht daraus, dass der Kläger sich auf sein an das Jobcenter gerichtete Schreiben vom 02.05.2014 beruft. Er habe die Aufnahme der Beschäftigung dem Jobcenter mit der Bitte um Weiterleitung an die Beklagte mitgeteilt und demnach von einer zutreffenden Berechnung des Übergangsgeldes ausgehen können. Hinsichtlich der grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des vor dem 02.05.2014 ergangenen Bewilligungsbescheides vom 14.04.2014 ist dieser Einwand schon unbehelflich. Soweit es den Bewilligungsbescheid vom 08.05.2014 betrifft, hat das Sozialgericht zutreffend ausgeführt, dass das Jobcenter nicht in die Organisation der Beklagten eingebunden ist und der Kläger sich nicht auf eine Unterrichtung der Beklagten verlassen durfte. Der Bescheid vom 08.05.2014 enthielt auch keine Berechnung des Übergangsgeldes unter Berücksichtigung des bezogenen Erwerbseinkommens aus der ausgeübten Beschäftigung. Der Kläger konnte daher nicht den Eindruck gewinnen, dass die Beklagte bereits ausreichend über seine Beschäftigung, über sein derzeitiges Einkommen und dessen konkrete Höhe informiert war. Auch wenn man eine Verwechslung des als Berechnungsgrundlage erwähnten früheren Arbeitsentgeltes mit dem aktuell bezogen hätte annehmen wollen, so hätte sich dem Kläger aufdrängen müssen, dass dies nicht zu einer zwingend erwartbaren Reduzierung des Übergangsgeldes umgesetzt worden war. Selbst wenn die Beklagte objektiv betrachtet bereits ausreichend anderweitig Kenntnis über das Einkommen des Klägers erlangt hätte, würde es den Kläger auch nicht von seiner Mitteilungspflicht entheben (vgl. BSG Urteil vom 12.02.1980, 7 RAr 13/79 – SozR 4100 § 152 Nr. 10 – juris).
Die Beklagte hat auch die Jahresfrist für eine rückwirkende (teilweise) Rücknahme der rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakte eingehalten. Nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X muss die Behörde dann, wenn der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X zurückgenommen wird, dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Die Frist beginnt mit der Kenntnis der Rücknahmegründe, wozu die Tatsachen gehören, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des früheren Verwaltungsakts ergibt. Diese Kenntnis hat die Beklagte mit Erhalt der von der Fa. W. GmbH am 21.04.2015 übersandten Lohnabrechnungen über den Kläger erhalten. Aus diesen hat sich die Höhe der Einkünfte, deren Art und zeitliche Verteilung ergeben. Demnach hat die Beklagte mit Erlass des Bescheides vom 10.06.2015 die Jahresfrist eingehalten.
Die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X ist ebenfalls gewahrt. Danach beträgt die Rücknahmefrist zehn Jahre, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit kannte oder grob fahrlässig nicht kannte (§ 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB X).
Auch die Ausübung des Ermessens bei der Rücknahmeentscheidung ist nicht zu beanstanden. Die Beklagte war sich ihres Ermessensspielraums erkennbar bewusst. Insbesondere hat sie im Rahmen der Ausübung ihres Ermessens auch geprüft, ob die Rückforderung der Leistung unter dem Gesichtspunkt der besonderen Härte ausgeschlossen war. Im Rahmen der gebotenen Abwägung hat sie in diesem Zusammenhang zutreffend ausgeführt, dass diese Abwägung auch unter Berücksichtigung der derzeitigen wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers einer Rückforderung der Leistung nicht entgegenstehe. Die Beklagte hat ebenfalls den Gesichtspunkt berücksichtigt, ob die Fehlerhaftigkeit der Übergangsgeldbescheide allein in ihren Verantwortungsbereich fällt. Die Kenntnis des Jobcenters oder die fehlende Weiterleitung musste sich die Beklagte nicht zurechnen lassen. Insoweit ist das Jobcenter nicht in die Organisation der Beklagten eingegliedert. Aber selbst bei einem zurechenbaren Versäumnis käme dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme ein weit überwiegender Vorrang vor dem Interesse des Klägers zu. Dies ergibt sich aus dem Fehlverhalten des Klägers, der im Nachgang zum Schreiben an das Jobcenter vom 02.05.2014 keine Veranlassung gesehen hat, die Berechnung des Übergangsgeldes zu hinterfragen. Zunächst war der Kläger aufgefordert, jede Änderung seiner Einkommensverhältnisse der Beklagten mitzuteilen (Antrag auf Übergangsgeld vom 02.03.2014, Hinweise in den Bescheiden vom 14.04.2014 und 08.05.2014). Aufgrund der von ihm erbetenen Auskunft der Beklagten vom 24.03.2014 hatte der Kläger eindeutig Kenntnis von der Anrechnung eines einen Betrag von monatlich 450,00 EUR übersteigenden Arbeitsentgeltes. Dass Arbeitsentgelt auf die Höhe des Übergangsgeldes angerechnet wird, war dem Kläger auch aus dem vorhergehenden Gerichtsverfahren bekannt (L 20 R 261/07). Der Kläger hat es aber mit dem Hinweis an das Jobcenter auf sich bewenden lassen, ohne sich zu vergewissern, ob dieser Hinweis bei der Beklagten eine Überprüfung der Übergangsgeldberechnung ausgelöst hat. Im Nachgang hat er mit Fax vom 26.05.2014 nur angegeben, dass er mit dem am 21.05.2014 von der Beklagten angewiesenen Betrag von 239,84 EUR nicht über die Runden komme und noch Miete usw. zu bezahlen habe; er im Ergebnis durch die Nichterwähnung also eine Überprüfung des Übergangsgeldes verhindert hat.
Rechtsgrundlage für die von dem Beklagten festgesetzte Erstattungsforderung ist § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach sind zu Unrecht erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Ermittlung des Erstattungsbetrages sind nicht erkennbar und vom Kläger auch nicht benannt worden.
Nach alldem ist die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 24.02.2017 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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