Sozialrecht

Kein Wegeunfall beim Abbiegen zum privatwirtschaftlichen Tanken

Aktenzeichen  L 2 U 458/15

Datum:
8.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 122940
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 2, § 3, § 6, § 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1
SGB X § 45 Abs. 1
SGG § 96

 

Leitsatz

1 Es liegt kein Arbeitsunfall vor, wenn zwar im Zeitpunkt des Unfalls der anschließend verunfallte PKW noch in Fahrtrichtung zur Arbeitsstelle und in der Straßenmitte steht, jedoch durch das Abbremsen und Blinkersetzen die privatwirtschaftliche Handlungsmotivation zu tanken dokumentiert und folglich auch der zunächst versicherte Weg unterbrochen wird (Anschluss an BSG BeckRS 2013, 72597). (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das Tanken stellt grundsätzlich eine unversicherte Vorbereitungshandlung zu der versicherten Tätigkeit des Weges dar. Anders liegt es, wenn die Strecke von vornherein nicht mit einer Tankfüllung zu bewältigen ist. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
3 Ist die Strecke entfernungsmäßig zwar grundsätzlich unproblematisch mit einer Tankfüllung zu fahren, ergibt sich aber die Notwendigkeit des Tankens unvorhergesehen während der Fahrt, so kann dieses versichert sein. Allerdings darf die Unvorhersehbarkeit der Notwendigkeit zu tanken nicht auf Gründen beruhen, die in der privaten, unversicherten Sphäre des Versicherten wurzeln. Dazu zählt ein durch den Ehemann am Vorabend mit fast leerem Tank abgestellter PKW, ohne vor Fahrtbeginn den Tankinhalt zu kontrollieren. (Rn. 29 – 32) (redaktioneller Leitsatz)
4 In der Privatsphäre liegende Vorbereitungshandlungen müssen grundsätzlich unversichert sein, um eine zu starke Ausweitung des Versicherungsschutzes von der betrieblichen in die private Sphäre zu vermeiden. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 4 U 33/14 2015-09-30 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30.09.2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Die Berufung bedarf gemäß § 144 SGG keiner Zulassung.
Gegenstand der Berufung ist nach dem Trennungsbeschluss vom 25.01.2017 im vorliegenden Verfahren nur der Bescheid vom 26.08.2015, mit dem die Beklagte den Bescheid vom 09.10.2013 mit Wirkung für die Zukunft zurücknahm und die darin gewährte Verletztenrente als vorläufige Entschädigung mit Ablauf des Monats August 2015 entzog.
Die Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage gegen den Bescheid vom 26.08.2015 abgewiesen. Diese Klage ist statthaft als isolierte Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG, weil sich der Regelungsgehalt des Bescheides vom 26.08.2015 in der Rücknahme der mit Bescheid vom 09.10.2013 bewilligten Rechtsvorteile erschöpft. Die Klage ist auch ohne Vorverfahren zulässig, weil der Bescheid vom 26.08.2015 gemäß § 96 SGG Gegenstand des gegen den Bescheid vom 09.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2014 geführten Rechtsstreits geworden war. Die Klage ist jedoch unbegründet, weil der Bescheid vom 26.08.2015 rechtmäßig ist.
Die Beklagte konnte den Bescheid vom 09.10.2013 hinsichtlich der Feststellung eines Arbeitsunfalls gemäß § 45 SGB X zurücknehmen, weil dieser rechtswidrig war. Der Unfall der Klägerin vom 11.10.2012 war kein Arbeitsunfall. Arbeitsunfälle sind gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Im vorliegenden Fall kommt ein Wegeunfall im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII in Betracht. Danach sind versicherte Tätigkeiten auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Die Klägerin befand sich zwar im Zeitpunkt des Unfalls noch in der Fahrtrichtung zur Arbeitsstelle und auch noch in der Straßenmitte, da sie noch nicht zur Tankstelle hin abgebogen war. Das BSG hat jedoch mit Urteil vom 04.07.2013 (Az. B 2 U 3/13 R) entschieden, dass, wenn der Versicherte sein Kraftfahrzeug auf dem Weg zur Arbeit zum Stehen bringt, um nach links zum Einkauf von Erdbeeren abzubiegen, sich in diesem nach außen beobachtbaren Verhalten die privatwirtschaftliche Handlungsmotivation dokumentiert und der versicherte Weg unterbrochen wird. Ebenso wie in der BSG-Entscheidung hatte auch die Klägerin vor dem Unfall bereits abgebremst und den Blinker gesetzt sowie das Fahrzeug zum Stehen gebracht, um nach links abzubiegen.
Der Zweck des Abbiegens, nämlich das beabsichtigte Tanken an der OMV-Tankstelle, war als eigenwirtschaftliche und damit unversicherte Tätigkeit anzusehen und zählte nicht mehr zu dem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten Zurücklegen des Weges von und zur Arbeit. Grundsätzlich stellt das Auftanken des Fahrzeugs eine unversicherte Vorbereitungshandlung zu der versicherten Tätigkeit des Weges von und zur Arbeit dar (Keller in Hauck/ Noftz, SGB, 05/15, § 8 SGB VII Rdnr. 119). Nicht vollständig geklärt ist in der Rechtsprechung, unter welchen Voraussetzungen das Auftanken des Fahrzeugs ausnahmsweise versichert sein kann, wenn es während der Zurücklegung eines versicherten Weges notwendig wird, um das Ziel noch zu erreichen. Ohne Zweifel ist eine Ausnahme dann anzunehmen, wenn die Strecke von vornherein nicht mit einer vollständigen Tankfüllung zu bewältigen ist, weil in einem solchen Fall das Tanken zur Bewältigung der Strecke objektiv unabweisbar ist und auch nicht durch ausreichendes Tanken vor Antritt der Fahrt vermieden werden kann. Ein solcher Fall ist jedoch bei einer Strecke von knapp 20 km nicht gegeben.
Problematisch sind Fälle wie der vorliegende, in denen die Strecke zwar problemlos mit einer Tankfüllung zu bewältigen gewesen wäre, sich die Notwendigkeit des Tankens aber während der Fahrt unvorhergesehen ergibt. Die ältere Rechtsprechung ließ es ausreichen, dass sich bei Antritt oder während der Fahrt die Notwendigkeit ergab, den Reservetank in Anspruch zu nehmen (BSG, Urteil vom 30.01.1968 Az. 2 RU 51/65; zuletzt BSG, Urteil vom 24.05.1984 Az. 2 RU 3/83). Später hat das BSG eine strengere Linie angedeutet, allerdings ohne die ältere Rechtsprechung ausdrücklich aufzugeben, indem es das Tanken auf dem Heimweg von der Arbeit zwei Minuten vor Erreichen des Zieles nicht für versichert hielt, da das Nachtanken nicht zur Vollendung des Heimwegs erforderlich war, sondern nur für den am Folgetag – einem Sonntag – erneut vorzunehmenden Weg zur Arbeit, so dass die Handlungstendenz auf die Besorgung von Kraftstoff für den Weg zum Ort der Tätigkeit am nächsten Tag gerichtet war (BSG, Urteil vom 11.08.1998 Az. B 2 U 29/97 R). An der älteren Rechtsprechung ist auch in der Literatur Kritik geäußert worden, die fordert, die Gründe, aus denen der Versicherte erst bei Antritt oder während des Verlaufs der Fahrt die Notwendigkeit zu tanken erkennt, stärker zu berücksichtigen (vergleiche Hauck/ Noftz a.a.O.; Ricke in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 91. Erg. Lief. September 2016, § 8 SGB VII Rdnr. 218). Vor diesem Hintergrund mag zu diskutieren sein, das Tanken als versicherte Tätigkeit ausnahmsweise anzusehen, wenn der Kraftstoff aufgrund eines unerwarteten Mehrverbrauchs, etwa durch Staus oder technische Defekte, früher als geplant zur Neige geht, oder möglicherweise auch dann, wenn der Beschäftigte auf der Heimfahrt nach dem Ende der Spätschicht tankt, weil ihm unerwartet am selben Tag vom Arbeitgeber die Einteilung für die folgende Frühschicht mitgeteilt worden ist und er zwischen beiden Fahrten keine weitere Möglichkeit zu tanken hat (so BSG, Urteil vom 24.01.1995 Az. 8 RKnU 1/94 = SozR 3-2200 § 548 Nr. 23).
Im Ergebnis ist im Einklang mit der älteren BSG-Rechtsprechung anzuerkennen, dass das Tanken während einer versicherten Fahrt ausnahmsweise versichert sein kann, wenn die Notwendigkeit zu tanken unvorhersehbar eintritt. Diese Rechtsprechung ist jedoch dahingehend einschränkend weiterzuentwickeln, dass die Unvorhersehbarkeit der Notwendigkeit zu tanken nicht auf Gründen beruhen darf, die in der privaten, unversicherten Sphäre des Versicherten wurzeln.
Die Beschränkung der zum Versicherungsschutz führenden Unvorhersehbarkeit der Notwendigkeit zu tanken auf solche Gründe, die nicht im privaten unversicherten Bereich wurzeln, ergibt sich aus der Überlegung, dass Vorbereitungshandlungen, die in die Privatsphäre der Versicherten hineinreichen, grundsätzlich unversichert sein müssen, um eine zu starke Ausweitung des Versicherungsschutzes von der betrieblichen in die private Sphäre zu vermeiden. Der Gesetzgeber hat mit dem Versicherungstatbestand der Wege von und zur Arbeit nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ohnehin die versicherte Tätigkeit sehr weit in die private Sphäre der Versicherten hinein verlagert. Um hier Grenzen zu setzen, ist bei Vorbereitungshandlungen, die dieser weit in den privaten Bereich hineinreichenden versicherten Tätigkeit dienen, eine restriktive Auslegung geboten. Hinzu kommt die Erwägung, dass die Unvorhersehbarkeit der Notwendigkeit zu tanken bei Berücksichtigung rein privater Lebensumstände kaum sinnvoll zu bestimmen ist, zumal dem Begriff der Unvorhersehbarkeit eine Verletzung von Pflichten bzw. wenigstens von Obliegenheiten innewohnt, die im rein privaten Bereich schwer zu konkretisieren sind. Beispielsweise würde sich im vorliegenden Fall die Frage stellen, ob sich die Klägerin die Kenntnis und das Handeln ihres Ehemannes am Vortag zurechnen lassen muss und ob sie eventuell verpflichtet war, ihren Ehemann darüber aufzuklären und dazu anzuhalten, dass er das Fahrzeug am Vorabend mit ausreichender Tankfüllung abstellen müsse, bzw. ob es ihr oblegen hätte, das Fahrzeug nach Rückkehr des Ehemannes am Vorabend noch zu kontrollieren und gegebenenfalls noch eine längere Fahrt zum Auftanken zu machen.
Nach diesen Grundsätzen war die Notwendigkeit des Tankens für die Klägerin nicht im rechtlichen Sinne unvorhersehbar, da die Gründe für die Tatsache, dass die Klägerin die Notwendigkeit zu tanken erst bei Antritt der Fahrt erkennen konnte, ausschließlich im privaten unversicherten Bereich der Klägerin wurzelten, nämlich in erster Linie im Verhalten ihres Ehemannes, der am Abend zuvor spät nach Hause gekommen war und den Wagen mit fast leerem Tank abgestellt hatte, ohne der Klägerin davon zu berichten, als auch möglicherweise im eigenen Verhalten der Klägerin, die insoweit keine eigenen Kontrollen durchgeführt hatte.
Auch die übrigen Voraussetzungen der Rücknahme nach § 45 SGB X lagen vor. Ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin im Sinne des § 45 SGB X war für die Zukunft nicht ersichtlich, insbesondere sind keine Dispositionen bekannt, die die Klägerin im Vertrauen auf die Wirksamkeit des aufgehobenen Verwaltungsaktes für die Zukunft getroffen hätte. Die Beklagte hat in dem Bescheid auch das nach § 45 Abs. 1 SGB X eröffnete Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
Die für die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung geltende Zweijahresfrist des § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X wurde eingehalten. Die Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X war nicht anwendbar, weil die Rücknahme nicht für die Vergangenheit erfolgte. Die erforderliche Anhörung war mit Schreiben vom 14.07.2015 erfolgt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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