Sozialrecht

Pauschale Kürzung der Regelleistung im einstweiligen Rechtsschutz

Aktenzeichen  L 16 AS 203/18 B ER

Datum:
24.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 8119
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 73a Abs. 1 S. 1, § 86b Abs. 2 S. 4, § 144 Abs. 1 Nr. 1, § 172 Abs. 3 Nr. 1

 

Leitsatz

Es ist eine Einzelfallentscheidung, ob und in welcher Höhe im Eilverfahren ein Abschlag von der Regelleistung vorgenommen wird. Ist strittig, ob Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII zu gewähren sind, ist ein Abschlag von der Regelleistung nur mit einer besonderen Begründung gerechtfertigt. (Rn. 18)

Verfahrensgang

S 54 AS 173/18 ER 2018-02-08 Bes SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts München vom 8. Februar 2018 abgeändert.
II. Der Beschwerdegegner wird verpflichtet, der Beschwerdeführerin vorläufig für die Zeit vom 24.01.2018 bis 31.01.2018 Arbeitslosengeld II in Höhe von insgesamt 309,52 € und für die Zeit vom 01.02.2018 bis 31.05.2018 Arbeitslosengeld II in Höhe von insgesamt 1.160,59 € monatlich zu gewähren.
III. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
IV. Der Beschwerdeführer trägt vier Fünftel der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin.
V. Der Beschwerdeführerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung, unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. B., bewilligt.

Gründe

I.
Zwischen den Beteiligten ist die Versagung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ab dem 01.01.2018 streitig.
Die 1975 geborene Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Bf) erhielt vom Antrags- und Beschwerdegegner (Bg) bis zum 31.12.2017 monatliche Leistungen in Höhe von 1153,59 €.
Die Bf stellte am 17.11.2017 einen Antrag auf Weiterbewilligung der Leistungen nach dem SGB II. Der Bg forderte sie unter Hinweis auf die Folgen fehlender Mitwirkung zu einer persönlichen Vorsprache am 15.12.2017 auf. Zu diesem Termin erschien die Bf nicht. Sie übersandte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 30.11.2017, wonach sie seit dem 06.05.2016 bis zum 31.12.2017 arbeitsunfähig und bis zum 31.12.2017 nicht verhandlungsfähig sei.
Mit Bescheid vom 20.12.2017 versagte der Bg die Gewährung von Arbeitslosengeld II bis zur Nachholung der Mitwirkung vollständig. Über den am 16.01.2018 eingelegten Widerspruch ist nach Aktenlage noch nicht entschieden worden.
Am 24.01.2018 stellte der Bevollmächtigte der Bf einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht München. Er beantragte den Bg im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Bf Leistungen nach dem SGB II (mindestens in Höhe der Regelleistung und der tatsächlichen Kosten der Unterkunft) in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Das Sozialgericht München verpflichtete mit Beschluss vom 08.02.2018 den Bg, vorläufig für die Zeit vom 24.01.2018 bis 31.01.2018 Arbeitslosengeld II in Höhe von 276,21 € und für die Zeit vom 01.02.2018 bis 31.05.2018 monatlich in Höhe von 1035,79 € zu gewähren. Im Übrigen lehnte es den Antrag ab. Der Antrag sei im tenorierten Umfang begründet. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund seien zu bejahen. In Ausübung richterlichen Ermessens würden im Eilverfahren die vorläufig zu gewährenden Leistungen zur Vermeidung einer Vorwegnahme in der Hauptsache um 30% des Regelbedarfs reduziert und zeitlich bis zum 31.05.2018 begrenzt. Die Gewährung von Leistungen für Zeiten vor Eingang des Eilantrags bei Gericht komme nicht in Betracht. Es sei nicht Aufgabe des einstweiligen Rechtsschutzes, vorläufig über Leistungsbewilligungen für die Vergangenheit zu entscheiden. Der Beschluss wurde dem Bevollmächtigten der Bf am 15.02.2018 zugestellt.
Der Prozessbevollmächtigte der Bf hat am 19.02.2018 Beschwerde zum Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) erhoben. Im Beschwerdeverfahren hat er keinen Antrag gestellt. Zur Begründung der Beschwerde hat er ausgeführt, dass die Bf sich gegen die 30% Kürzung der Regelleistung wende. Im Rahmen eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei es grundsätzlich gerechtfertigt, um eine Vorwegnahme der Hauptsache zu vermeiden, einen Abschlag bei der begehrten Leistung bis zu einer Höhe von 30% des Regelbedarfs vorzunehmen. Dies sei jedoch kein Automatismus. Kein Abschlag sei vorzunehmen, wenn die Erfolgsaussicht einer Klage in der Hauptsache offensichtlich sei. Dies sei gegeben, da der Bf existenzsichernde Leistungen zustehen würden, egal von welchem Träger. Die Bf sei schwer erkrankt. Der Versagungsbescheid sei kurz vor Weihnachten gekommen. Die Bf habe nur wenig Zeit gehabt, einen Anwalt zu beauftragen. Aufgrund der Bewilligung von Leistungen erst ab Eingang des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz sei die Bf in ihrer Lebensführung beeinträchtigt, so dass die Kürzung tatsächlich im Januar und über den gesamten Zeitraum über der 30%-Grenze liege. Zugleich hat der Bevollmächtigte Prozesskostenhilfe beantragt und darauf hingewiesen, dass die Beschwerde hinreichende Aussicht auf Erfolg biete, da mit der Kürzung der Regelleistung um bis zu 30% und die spätere Bewilligung ab dem 24.01.2018 die nach der Rechtsprechung des BayLSG getroffene grundsätzliche Kürzung der Regelleistung bis zu 30% schon überschritten sei.
Nach dem gerichtlichen Hinweis, dass die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München nicht zulässig sei, da der Beschwerdewert nach §§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 144 Absatz 1 S. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht erreicht werde, hat der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 22.03.2018 ausgeführt, dass sich die Bf mit ihrer Beschwerde insbesondere gegen die 30% Kürzung aber auch gegen die Versagung der Unterkunftskosten und der Regelleistung im Zeitraum vom 01.01.2018 bis 23.01.2018 wende.
Der Bg hat beantragt, die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München zurückzuweisen und zur Begründung seines Antrags auf die den Beschluss tragenden Gründe verwiesen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegten Beschwerde (§§ 172, 173 SGG) ist zulässig und teilweise begründet.
Nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG sind Beschwerden in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur dann zulässig, wenn in der Hauptsache die Berufung zulässig wäre. In Verfahren, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung betreffen, ist die Beschwerde gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft, wenn der streitige Betrag den Beschwerdewert von 750 € übersteigt oder die Beschwerde wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Für die Frage, ob eine Beschwerde zulässig ist, ist darauf abzustellen, ob in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedurfte. Zur Bestimmung des Beschwerdewertes kommt es darauf an, was der Bf vom Sozialgericht versagt wurde und was von ihr mit ihren Anträgen im Beschwerdeverfahren weiterverfolgt wird (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 144, Rn. 14, m.w.N.).
Vorliegend legt der Senat das Begehren der Bf dahingehend aus, dass diese zum einen Beschwerde wegen der Kürzung der Regelleistung um 30% und zum anderen wegen der Ablehnung der Gewährung der Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.01.2018 bis zum 23.01.2018 erhoben hat. Dies kann dem Beschwerdeschreiben des Bevollmächtigten vom 18.02.2018 gerade noch ausreichend deutlich entnommen werden. Er hat in diesem Schreiben keinen Antrag für das Beschwerdeverfahren gestellt. Zur Begründung der Beschwerde hat er zunächst erklärt, dass sich diese gegen die 30% Kürzung der Regelleistung wende. In der weiteren Begründung hat er ausgeführt, dass nach der Rechtsprechung des BayLSG im Einzelfall ein Abschlag bis zu 30% des Regelbedarfs vorzunehmen sei. Durch die Bewilligung der Leistungen erst ab Eingang des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz liege die Kürzung der Leistungen im Januar und über den gesamten Zeitraum insgesamt über der 30%-Grenze. Damit steht für den Senat fest, dass der maßgebliche Beschwerdewert von mehr als 750 € erreicht wird.
Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (sog. Regelungsanordnung) ist nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit zur Abwendung wesentlicher Nachteile umschreibt den sogenannten Anordnungsgrund (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl das zu sichernde Recht, der sogenannte Anordnungsanspruch, als auch der Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind (86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO). Bezüglich des Bestehens eines Anordnungsanspruchs und -grundes sieht der Senat von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und nimmt gemäß §§ 142 Abs. 1, 136 Abs. 3 SGG in entsprechender Anwendung auf die Entscheidungsgründe des Sozialgerichts Bezug.
Die Entscheidung des Sozialgerichts ist jedoch hinsichtlich des Abschlags von 30% des Regelbedarfs zu korrigieren. Ein Abschlag ist nicht vorzunehmen. Das Beschwerdegericht ist berechtigt, die Entscheidung des Sozialgerichts über die Höhe des Abschlags zu ändern.
Nach allgemeiner Auffassung hat das Gericht kein Ermessen hinsichtlich des „Ob“ einer einstweiligen Anordnung, wogegen das „Wie“, also welchen Inhalt die Anordnung hat, im Ermessen des Gerichts steht, § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, § 86b Rn. 30). Es kann offenbleiben, ob die Festlegung der Höhe der Geldleistung bei einem auf Geldleistung gerichteten Eilantrag eine Entscheidung über das „Ob“ oder das „Wie“ der Anordnung ist. Das Beschwerdegericht hat eine umfassende Entscheidungsbefugnis und trifft auch hinsichtlich des Inhalts der einstweiligen Anordnung eine eigene Ermessensentscheidung (Keller, a.a.O., § 86b Rn. 21 für den Bereich der aufschiebenden Wirkung). Deshalb ist das Beschwerdegericht an die Entscheidung des Sozialgerichts über die Höhe des Abschlags nicht gebunden (so bereits Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29.09.2014 – L 7 AS 629/14 B ER -, Rn. 17, juris).
Ob und in welcher Höhe im Eilverfahren ein Abschlag vorgenommen wird, ist eine Einzelfallentscheidung. Vorliegend ist die Leistungsgewährung nicht wegen Zweifeln an der Einkommens- oder Vermögenssituation der Bf strittig. Der Bg hat vielmehr Zweifel an der Erwerbsfähigkeit der Bf. Damit ist offensichtlich, dass der Bf existenzsichernde Leistungen entweder nach dem SGB II oder nach dem SGB XII zustehen. Ein pauschaler Abschlag ohne weitere Begründung ist in solchen Fällen nach Auffassung des Senats nicht gerechtfertigt. Zu erwägen ist, ob wegen einer fehlenden Mitwirkungshandlung, die dem Leistungsempfänger ohne weiteres abzuverlangen ist, ein Abschlag von den im einstweiligen Rechtsschutz zu gewährenden Leistungen vorgenommen wird. Vorliegend sieht der Senat von einem solchen Abschlag ab, da die Bf ein Attest vorgelegt hat, wonach sie gesundheitlich an einer persönlichen Vorsprache gehindert war. Auch das Sozialgericht hat insoweit keine Ausführungen gemacht. Der Senat legt der Bemessung der Höhe der Leistungen die ab dem 01.01.2018 maßgebliche Regelleistung von 416 € zugrunde und die bis zum 31.12.2017 gewährten Kosten der Unterkunft.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Die Entscheidung bezüglich der Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten der Bf beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.


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