Sozialrecht

Reichweite der “Unmittelbarkeit” beim Übergangsgeldanspruch

Aktenzeichen  S 18 R 685/15

Datum:
11.5.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 69637
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 54 Abs. 2 S. 1
SGB VI § 20 Nr. 3b
SGB V § 19 Abs. 2

 

Leitsatz

Das Tatbestandsmerkmal “Unmittelbarkeit” als Voraussetzung des Übergangsgeldanspruchs gem. § 20 Nr. 3b SGB VI erfordert keinen “nahtlosen” Übergang des Arbeitslosengeldbezugs zu der Maßnahme zur Rehabilitation. Ein Abstand von einem Monat ist in Anlehnung an § 19 Abs. 2 SGB V unschädlich. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 24. Februar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Juni 2015 verurteilt, an den Kläger Übergangsgeld für die Zeit der Rehabilitationsleistung vom 4. Februar 2015 bis zum 11. März 2015 zu leisten.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Klägers in vollem Umfang.

Gründe

I.
Die Klage hat in vollem Umfang Erfolg.
Die form- und fristgerecht erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4, § 56 Sozialgerichtsgesetz – SGG -) ist zulässig, das Sozialgericht Augsburg ist das für die Entscheidung sachlich und örtlich zuständige Gericht (§§ 51 Abs. 1 Nr. 1, 57 Abs. 1 Satz 1 SGG). Die Klage wurde gemäß §§ 87, 90, 92 SGG form- und fristgerecht erhoben.
Die Klage ist auch begründet. Der das Übergangsgeld ablehnende Bescheid vom 24.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.06.2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten nach § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Kläger hat einen materiellen Anspruch auf Gewährung des Übergangsgeldes, welcher sich auf § 20 Nr. 3 b SGB VI ergibt. Dieser lautet:
Anspruch auf Übergangsgeld haben Versicherte, die 1. ( …) 2. ( …) 3. bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder sonstigen Leistungen zur Teilhabe unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder, wenn sie nicht arbeitsunfähig sind, unmittelbar vor Beginn der Leistungen a) ( …) b) Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld, Übergangsgeld, Kurzarbeitergeld, Arbeitslosengeld, Arbeitslosengeld II oder Mutterschaftsgeld bezogen haben und für die von dem der Sozialleistung zugrunde liegenden Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen oder im Falle des Bezugs von Arbeitslosengeld II zuvor aus Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt worden sind.
Streitig ist vorliegend allein die Rechtsfrage, ob der unbestimmte Rechtsbegriff der „Unmittelbarkeit“ als Tatbestandsvoraussetzung des Übergangsgeldanspruches gem. § 20 Nr.3 b SGB VI vorliegend gegeben ist, d. h. ob unmittelbar vor Beginn der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Arbeitslosengeld gewährt wurde. Dies ist nach Auffassung der Kammer der Fall.
Unstreitig wurde Arbeitslosengeld von der Arbeitsagentur bis 30.01.2015 gewährt, die Maßnahme zur Rehabilitation begann am 04.02.2015. Zwischen dem Ende des Arbeitslosengeldbezuges und der Maßnahme zur Rehabilitation liegt ein Wochenende und zwei Werktage, so dass nach Auffassung der Kammer das Tatbestandsmerkmal der „Unmittelbarkeit“ gemäß § 20 Nr. 3b SGB VI erfüllt ist.
Die Beklagte vertritt hingegen die Ansicht, dass das Tatbestandsmerkmal und der unbestimmte Rechtsbegriff „unmittelbar“ mit einem nahtlosen Übergang gleichzusetzen sei und nur insoweit eine Ausnahme möglich ist, wenn der Tag vor Beginn der Leistung auf ein Wochenende oder einen Feiertag fällt.
Da der Tag vor Beginn der Leistung, der 03.02.2015, ein Dienstag war und zu diesem Zeitpunkt der Arbeitslosengeldanspruch bereits nicht mehr bestand, wäre unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Beklagten ein Übergeldanspruch ausgeschlossen.
Dieser Auffassung schließt sich die Kammer nicht an, da sie diese sehr enge Auslegung nicht nachvollziehen kann. In der vom Kläger zitierten Arbeitsanweisung der Beklagten (R3 zu § 24 SGB VI), die nach wie vor im Internet publiziert wird, vertrat die Beklagte ursprünglich (im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 24 SGB VI, die seit 30.06.2001 außer Kraft ist und im Wesentlichen der streitgegenständlichen Regelung des § 20 Nr. 3b SGB VI entspricht) eine weite Auslegung der Unmittelbarkeit. Hiernach sollte diese Voraussetzung im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB VI auch dann erfüllt sein, wenn der Zeitraum zwischen dem Ende der als Entgeltersatzleistung gezahlten SGB-III-Sozialleistung und dem Beginn der Reha-Leistung bzw. der vorausgegangenen Arbeitsunfähigkeit nicht mehr als einen Monat umfasst. Die Beklagte bezog sich in diesem Zusammenhang auf eine Analogie bzw. auf den Rechtsgedanken des § 19 Abs. 2 SGB V, wonach der Krankenversicherte grundsätzlich Anspruch auf Leistungen längstens für einen Monat nach Ende der Mitgliedschaft hat.
In der aktuellen Arbeitsanweisung zu § 20 SGB VI (R4.1.1.) wird hingegen von dieser Auslegung klar Abstand genommen und die Unmittelbarkeit nunmehr im Sinne einer Nahtlosigkeit ausgelegt. Die Beklagte vertritt den Ansatz, dass für die Anspruchsprüfung des Übergangsgeldes nur die unmittelbar vor Beginn der Leistung bzw. Arbeitsunfähigkeit maßgebenden Verhältnisse zugrunde zu legen seien. Zu beurteilen sei nicht der zurückliegende Monat, sondern nur noch der letzte Tag vor Beginn der Leistung/Arbeitsunfähigkeit. Falle dieser Tag auf ein Wochenende oder einen Feiertag, dann sei der letzte davor liegende Werktag maßgebend.
Ausweislich des in der mündlichen Verhandlung von der Beklagtenvertreterin übergebenen Besprechungsergebnisses (TOP 11 der Arbeitsgruppe Durchführung der Rehabilitation in der Sitzung 1/2004 am 28.01.2004 in Frankfurt am Main), auf welches die aktuelle Auslegung der Beklagten zurückzuführen ist, wurde die Abkehr der bisher vertretenen „Karenzzeit“ von einem Monat damit begründet, dass die Entgeltersatzfunktion des Übergangsgeldes bei Versicherten, die bereits bis zu vier Wochen keine wirtschaftliche Absicherung gehabt haben, nicht gerechtfertigt erscheine. Außerdem sei die Karenzzeit nicht mit der Rechtsauslegung zur unmittelbaren Aufeinanderfolge von Anrechnungszeiten nach § 252 Abs. 7 SGB VI in Einklang zu bringen. Die unmittelbare Aufeinanderfolge Anrechnungszeittatsachen sei nur dann gegeben, wenn die Lücke zwischen den einzelnen Zeiten nicht mehr als drei Tage andaure. Ferner erscheine eine Analogie zu § 19 Abs.2 SGB V nicht mehr sachgerecht.
Ein Teil der Literatur stützt die Auffassung der Beklagten und fordert unter Berufung auf das allgemeine Sprachverständnis eine Nahtlosigkeit (Löschau in Löschau, SGB VI, Stand September 2010, § 20 Rz. 40; Zabre in Kreikebohm, SGB VI, 4. Aufl. 2013, § 20 Rz. 4). Allerdings sollen auch nach dieser Ansicht zur Vermeidung ungerechtfertigter Härten neben Wochenenden oder Feiertage pauschal Lücken von drei Tagen unschädlich sein (Löschau, a. a. O.; Jüttner a. a. O., Rn. 29).
Die jedoch herrschende Meinung in der Literatur und Rechtsprechung bevorzugt klar die frühere Rechtsauffassung der Beklagten, wonach kein nahtloser Übergang zwischen den Leistungen erforderlich ist. Ein Abstand von einem Monat soll hiernach in Anlehnung an § 19 Abs. 2 SGB V (Haack in jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 20 Rz. 6; Hirsch in LPK-SGB VI, 2. Auflage 2010, § 20 Rz. 6; Kater in KassKomm SGB VI, Stand September 2015, § 20 Rz. 11; KommGRV, SGB VI, Stand Oktober 2006, § 20 Rz. 3) oder von vier Wochen (BSG SozR 2200 § 1240 Nr. 11) unschädlich sein. In der zuletzt genannten Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG), die sich auf die Vorschrift des §§ 1241 Abs. 1 Satz1 und 1241b Reichsversicherungsordnung (RVO) bezog, stellte das BSG im Hinblick auf die Frage der Nahtlosigkeit und der Unmittelbarkeit fest, dass eine Grenzziehung bei zumindest drei bzw. vier Wochen zu ziehen ist. Länger als vier Wochen könne der Zeitraum nicht andauern, weil im Fall des Übergangsgeldes, wie auch in vergleichbaren Fällen, eine längere Frist den Begriff des unmittelbaren Anschlusses nicht mehr erfüllen kann (BSG, Urteil vom 21.06.1983 – 4 RJ 39/82 -Rn. 14 und 15).
Zwar enthielt die diesem Urteil des BSG zugrunde liegende Vorschrift noch nicht den Begriff der Unmittelbarkeit, sondern die Formulierung „im Anschluss hieran“. Dieser Begriff hat aber im allgemeinen Sprachgebrauch die Bedeutung „unmittelbar (da)nach“. Die Verwendung des Ausdrucks „unmittelbar anschließend“ erfordert nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, welche dem Ansatz der grammatischen Auslegung folgt, jedoch keinen nahtlosen Übergang (BSG, Senatsurteil vom 29.01.2008 – SozR 4-3250 § 51 Nr. 1 RdNr. 31; BSG SozR 4-3250 § 28 Nr. 3 RdNr. 22; BSG, Urteil vom 07.09.2010 – B 5 R 104/08 R -, SozR 4-3250 § 49 Nr. 1, Rn. 18; Jüttner in: Hauck/Noftz, SGB, 02/16, § 20 SGB VI, Rn. 30).
Die Auffassung, welche die weite Auslegung vertritt, ist aus Sicht der Kammer weitaus überzeugender. Unter dem Aspekt einer grammatischen Auslegung des Merkmals der Unmittelbarkeit ist eine Nahtlosigkeit (vgl. BSG SozR 4-3250 § 49 Nr. 1 Rz. 18) auch aus Sicht des Gerichts nicht notwendigerweise erforderlich.
Die gegenteilige Argumentation der Beklagten, dokumentiert im Beschluss des AGDR 1/2004, Top11 vermag die Kammer hingegen nicht zu überzeugen, unabhängig davon, dass Beschlüsse der entsprechenden Gremien der Rentenversicherungsträger und deren Arbeitsanweisungen Verwaltungsinterna darstellen und im Verhältnis zur Rechtsprechung keine Bindungswirkung entfalten.
Die in diesem Zusammenhang von der Beklagten angewandte Analogie zu der Norm des § 252 Abs. 7 SGB VI bei der Auslegung des Merkmals der Unmittelbarkeit ist nicht zielführend, da bereits die Interessenlagen völlig unterschiedlich und somit eine die Voraussetzungen einer Analogie nicht gegeben sind. Die streitgegenständliche Regelung des § 20 SGB VI betrifft die Anspruchsvoraussetzung einer bestimmten Sozialleistung, während hingegen § 252 Abs. 7 SGB lediglich die Voraussetzungen bestimmter rentenrechtlicher Zeiten regelt. Die Anwendung des Rechtsgedankens des § 19 Abs. 2 SGB V, der sich ebenfalls auf die Gewährung von Sozialleistungen bezieht, ist insbesondere unter diesem Gesichtspunkt weitaus sachgerechter.
Auch die These der Beklagten, dass die Entgeltersatzfunktion des Übergangsgeldes bei Versicherten, die bereits bis zu vier Wochen keine wirtschaftliche Absicherung gehabt haben, nicht gerechtfertigt erscheine, kann das Gericht nicht überzeugen.
Zunächst ist zu beachten, dass ein vom Gesetzgeber gewählter unbestimmter Rechtsbegriff nicht unter Vernachlässigung des Einzelfalls und des Normzwecks durch ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal ersetzt werden kann (vgl. BSG vom 07.09.2010, B 5 R 104/08 R, Rn. 19).
Ausgehend von dem Regelungszweck des § 20 Nr. 3 Buchst. a und b SGB VI ist somit bei der Bestimmung und Festlegung des engen zeitlichen Zusammenhangs in erster Linie maßgeblich, ob sich der Versicherte bzw. der Kläger aufgrund der Dauer der Unterbrechungen zwischenzeitlich eine andere Lebensgrundlage gebildet hat (BSG, a. a. O.; Haack in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2.Aufl. 2013, § 20 SGB VI, Rn. 11). Dies kann jedoch bei sachgerechter Betrachtung bei einem zeitlichen Abstand der jeweiligen Leistungen von unter vier Wochen und erst recht bei einem Abstand von zwei Werktagen – wie im vorliegenden Fall – nicht angenommen werden (vgl. Niesel in: KassKomm-SGB, SGB VI, § 20 Rn. 11; Oberscheven in: GK-SGB VI, § 21 Rn. 135. Haack in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 20 SGB VI Rn. 11; A.A. Huber in: Cramer/Fuchs/Hirsch/Ritz, SGB IX, § 49 Rn. 6, der nur eine Unterbrechung für ein Wochenende oder für Feiertage als den Zusammenhang wahrend ansieht.). Gerade in dem vorliegenden Fall, wo zwischen Beginn der Maßnahme und dem Ende des Arbeitslosengeldanspruches gerade zwei Werktage (zuzüglich Wochenende) liegen und der Kläger auch keinerlei Einfluss auf den Beginn der Maßnahme hatte, führt die enge und strikte Auslegung der Beklagten zu offensichtlich nicht sachgerechten Ergebnissen und widerspricht zudem dem Regelungszweck der Norm.
Der angefochtene Bescheid ist daher materiell rechtswidrig, der Kläger hat einen materiellen Anspruch auf Leistung des Übergangsgeldes gemäß § 20 Nr. 3b SGB VI. Der Klage war daher stattzugeben.
II.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.


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