Sozialrecht

Versorgung mit Hilfsmitteln – Erfordernis zeitgerechter Ausübung des Wahlrechts vor der Selbstbeschaffung

Aktenzeichen  L 4 KR 328/14

Datum:
21.9.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 127825
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 2, Abs. 3, § 33

 

Leitsatz

1. Auch die Versorgung mit Hilfsmitteln (§ 33 SGB V) kann zu den veranlassten Leistungen im Sinne des § 13 Abs. 2 Satz 4 SGB V gehören. (Rn. 21)
2. Von der Ausübung des Wahlrechts nach § 13 Abs. 2 SGB V ist die Krankenkasse vor Inanspruchnahme der Leistung zu informieren. (Rn. 21)

Verfahrensgang

S 4 KR 237/11 2014-07-02 GeB SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 2. Juli 2014 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung, die keiner Zulassung bedurfte (§ 144 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist nicht begründet. Dem Kläger steht ein Kostenerstattungsanspruch für das selbstbeschaffte A-V-Impulssystem unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu.
Die Voraussetzungen des Kostenerstattungsanspruches nach § 13 Abs. 2 SGB V (i.d.F. des Gesetzes vom 22.12.2010 Bundesgesetzblatt I S. 2309, in Kraft getreten am 02.01.2011) sind nicht erfüllt. Alle Versicherte können nach dieser Rechtsvorschrift anstelle der Sach- oder Dienstleistungen das Verfahren der Kostenerstattung wählen, wobei eine Einschränkung der Wahl auf den Bereich der ärztlichen Versorgung, der zahnärztlichen Versorgung, den stationären Bereich oder auf veranlasste Leistungen mit Bindung für mindestens ein Kalendervierteljahr möglich ist (§ 13 Abs. 2 Satz 1, 4 und 12 SGB V). Hierüber haben sie ihre Krankenkasse vor Inanspruchnahme der Leistung in Kenntnis zu setzen. Auch der Leistungserbringer hat die Versicherten vor Inanspruchnahme der Leistung darüber zu informieren, dass Kosten, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden, von dem Versicherten zu tragen sind. Anspruch auf Erstattung besteht höchstens in Höhe der Vergütung, die die Krankenkasse bei Erbringung als Sachleistung zu tragen hätte. Die Satzung hat das Verfahren der Kostenerstattung zu regeln (§ 13 Abs. 2 Satz 2, 3, 8 und 9 SGB V). Versicherte, die das Kostenerstattungsverfahren wählen, verschaffen sich die Leistung durch Abschluss eines privatrechtlichen Vertrages mit dem Leistungserbringer. Dieser stellt die Kosten für die Behandlung dem Versicherten privat in Rechnung, der hierfür leistungspflichtig wird. Im Übrigen ist die Kostenerstattung nicht völlig aus dem Leistungssystem der GKV gelöst, denn es können grundsätzlich nur die Leistungen in Anspruch genommen werden, die die Krankenkasse als Sachleistung schuldet.
Zwar handelt es sich bei der Beschaffung des AV-Impulssystems um eine veranlasste Leistung im Sinne des § 13 Abs. 2 SGB V, da das Gerät als Hilfsmittel nach § 33 Abs. 1 SGB V durch das Krankenhaus W-Stadt verordnet worden war. Vorliegend fehlt es aber bereits an der zeitgerechten Ausübung des Wahlrechts vor der Selbstbeschaffung. . Wie aus dem Wortlaut des § 13 Abs. 2 SGB V hervorgeht, muss die Ausübung des Wahlrechts der Selbstbeschaffung zeitlich vorweggehen, um sicherzustellen, dass eine ausreichende Information des Versicherten über die Auswirkung und Risiken der Kostenerstattung erfolgen kann. Darüber hinaus genügt es für die Ausübung des Wahlrechts nicht, dass ein privatrechtlicher Vertrag mit einem Leistungserbringer geschlossen wird. Vielmehr ist es die Krankenkasse als künftige Kostenträgerin, die vorab ausdrücklich über die Ausübung des Wahlrechts zu informieren ist. Hieran fehlt es im vorliegenden Fall, da der Kläger weder eine ausdrückliche Wahl der Kostenerstattung vorgenommen hat noch die Beklagte hiervon vor Inanspruchnahme der Leistung informiert hat.
Der Kläger kann sich im Zusammenhang mit der Wahl der Kostenerstattung auch nicht auf ein Beratungsverschulden der Beklagten berufen und hieraus Kostenerstattung auf Grundlage eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruch geltend machen. Der Herstellungsanspruch setzt voraus, dass ein Sozialleistungsträger seine gegenüber einem Berechtigten obliegende Nebenpflicht aus dem Sozialversicherungsverhältnis verletzt, dem Berechtigten ein unmittelbarer sozialrechtlicher Nachteil entsteht und zwischen der Pflichtverletzung und dem Nachteil ein Ursachenzusammenhang besteht (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urteil vom 23.10.2003 B 4 RA 27/03 R). § 13 Abs. 2 SGB V sah in der bis zum 31.03.2007 geltenden Fassung vor, dass die Versicherten von ihrer Krankenkasse vor ihrer Wahl zu beraten sind. Diese eigens geregelte Beratungsverpflichtung entfiel ab dem 01.04.2007, weil die entsprechenden Informationen den allgemeinen Auskunfts- und Beratungspflichten nach den §§ 13 bis 15 SGB I vorbehalten bleiben sollten (vgl. Bundestagsdrucksache 16/3100 S. 97).
Fraglich ist, ob die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, den Kläger rechtzeitig, also vor Abschluss des Mietvertrages als maßgebliches Verpflichtungsgeschäft am 17.01.2011, zu beraten und darüber zu informieren, dass das beantragte Hilfsmittel nicht nur als Sachleistung, sondern auch im Wege der Kostenerstattung erlangt werden könnte. Hierfür gibt es gewisse Anhaltspunkte, da der Kläger vorgetragen hat, er habe gegenüber dem Sachbearbeiter der Beklagten seinen dringenden Wunsch auf eine schnelle Versorgung geäußert. Andererseits musste der Kläger aber davon ausgehen, dass nach der erst am 14.01.2011 erfolgten Antragstellung zumindest einige Tage bis zur Entscheidung der Beklagten verstreichen würden, zumal sich an den 14.01.2011 ein Wochenende anschloss. Eine Beratung über das Wahlrecht vor dem 17.01.2011 war daher aus Sicht des Senats nicht erforderlich. Die erfolgte Kostenbelastung durch den schon am 17.01.2011 geschlossenen Mietvertrages ist damit nicht kausal auf eine nicht erfolgte Beratung zurückzuführen.
Letztlich kann die Entscheidung über ein Beratungsverschulden aber dahingestellt bleiben, da für den Senat feststeht, dass der Kläger keinen Anspruch auf das beantragte Hilfsmittel gehabt hat und daher auch im Wege der Kostenerstattung eine Versorgung zu Lasten der Beklagten nicht möglich war. Ein Anspruch des Klägers auf Versorgung mit dem A-V-Impulssystem als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung setzt voraus, dass das Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich war, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Darüber hinaus scheiden Hilfsmittel aus, die als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen sind oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Der Einsatz des AV-Impulssystems beim Kläger sollte der Förderung der Frakturheilung dienen und damit den Erfolg der Krankenbehandlung sichern. Es handelte sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens und auch nicht um ein Hilfsmittel, das nach § 34 Abs. 4 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen ist.
Nach nochmaliger Prüfung sämtlicher Befunde und Berichte ist der Senat jedoch davon überzeugt, dass der Einsatz des Hilfsmittels beim Kläger nicht erforderlich war.
Wie aus dem Bericht des Krankenhauses W-Stadt vom 12.01.2011 über den Termin des Klägers am 11.01.2011 hervorgeht, lagen beim Kläger zum damaligen Zeitpunkt „naturgemäß“, also nicht ungewöhnliche Durchblutungsstörungen vor, die zu Schwellungen und einer Heilungsstörung führten. Nachdem mit der Antibiose bereits ein gewisser Rückgang der Entzündung erreicht worden war, sollten nun manuelle Lymphdrainage und Kompressionstherapie zur Anwendung kommen sowie der „Versuch“ mit der A-V-Pumpe unternommen werden. Lymphdrainage und andere krankengymnastische Übungsbehandlungen waren zu diesem Zeitpunkt allerdings nur in geringem Umfang und unregelmäßig vom Kläger in Anspruch genommen worden. Laut Angaben der Beklagten wurden im Zeitraum 19.01.2011 bis 04.02.2011 lediglich sechs Behandlungen abgerechnet. Vorher ist eine Abrechnung überhaupt nicht dokumentiert. Es ist daher mit dem MDK davon auszugehen, dass die klassischen Behandlungsmöglichkeiten vom Kläger noch nicht ausgeschöpft waren, obwohl es gegebenenfalls möglich gewesen wäre, auch Hausbesuche zu verordnen, um den praktischen Schwierigkeiten zu begegnen. Anders als der gerichtliche Sachverständige Dr. N. angegeben hat, waren am 11.01.2011 also die klassischen Behandlungen noch nicht erfolglos getestet worden, vielmehr sind alle Behandlungsmaßnahmen, einschließlich des Kompressionsstrumpfes gleichzeitig verordnet worden. Es kann daher auch nicht nachvollzogen werden, weshalb aus Sicht des Dr. N. allein die Pumpenbehandlung für den schließlich im März eingetretenen Behandlungserfolg verantwortlich gemacht werden kann.
Dies gilt umso mehr als dem Kläger bereits am 28.02.2011 ein weiteres Hilfsmittel in Form eines Vacoped-Schuhes verordnet worden war mit der Begründung, dass weiterhin durch geringe Belastung eine deutliche Zunahme der Schwellung eintrete. Nach Angaben des MVZ D-Stadt berichtete der Kläger drei Wochen später, dass sich durch den Einsatz des Vacoped-Schuhes die Beschwerden deutlich gebessert hätten.
Für den Senat steht daher fest, dass die vorhandenen ambulanten Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft waren und auch nicht nachgewiesen ist, dass die streitige Hilfsmittelbehandlung zum Behandlungserfolg beigetragen hat. Damit wäre aber auch ein Anspruch des Klägers nach rechtzeitiger Wahl der Kostenerstattung ins Leere gegangen.
Ein Kostenerstattungsanspruch ergibt sich schließlich auch nicht aus § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Konnte die Krankenkasse danach eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 08.09.2015, B 1 KR 14/14 R) verlangt Unaufschiebbarkeit, dass die beantragte Leistung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubs mehr besteht, um vor der Beschaffung die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten. Ein Zuwarten darf dem Versicherten aus medizinischen Gründen nicht mehr zumutbar sein, weil der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder z. B. wegen der Intensität der Schmerzen ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist. Unaufschiebbar kann danach auch eine zunächst nicht eilbedürftige Behandlung werden, wenn der Versicherte mit der Ausführung solange wartet, bis die Leistung zwingend erbracht werden muss, um den mit ihr angestrebten Erfolg noch zu erreichen oder um sicherzustellen, dass er noch innerhalb eines therapeutischen Zeitfensters die benötigte Behandlung erhalten wird. Dies gilt umso mehr, wenn der Beschaffungsvorgang aus der Natur der Sache heraus eines längeren zeitlichen Vorlaufs bedarf und der Zeitpunkt der Entscheidung der Krankenkasse nicht abzusehen ist. Es betrifft auch die Fälle, in denen der Versicherte zunächst einen Antrag bei der Krankenkasse stellte, aber wegen Unaufschiebbarkeit deren Entscheidung nicht mehr abwarten konnte.
Der Annahme einer unaufschiebbaren Leistung steht im vorliegenden Fall entgegen, dass dem Kläger (erst) am 03.02.2011 mitgeteilt worden war, dass eine Entscheidung über die Kostenübernahme noch nicht möglich sei, jedoch bereits am 17.01.2011 der maßgebliche Mietvertrag geschlossen wurde – nachdem erst wenige Tage zuvor der Antrag bei der Beklagten vorgelegt worden war. Da der Kläger bereits am 17.01.2011 den Mietvertrag abgeschlossen hat, müssten schon zu diesem Zeitpunkt medizinische Gründe vorgelegen haben, die es ihm unzumutbar machten, die Entscheidung der Beklagten abzuwarten. Solche Gründe kann der Senat jedoch nicht erkennen, da konkrete Angaben über starke Schmerzen oder andere schwerwiegende Beeinträchtigungen fehlen. Ein Abwarten war dem Kläger daher jedenfalls für eine gewisse Zeit noch zumutbar. Hinzu kommt, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Leistungsverschaffung nicht alle anderen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft hatte und daher noch gar nicht absehbar war, dass er auf den Einsatz der Pumpe angewiesen sein würde. Unabhängig davon, ob dem Kläger bereits zuvor mitgeteilt worden war, dass eine Entscheidung noch längere Zeit dauern werde, konnte am 17.01.2011 noch nicht feststehen, dass die konsequente Durchführung der anderen Behandlungsmöglichkeiten nicht den gewünschten Erfolg haben werde. Der Kläger hätte daher in jedem Fall zunächst die üblichen Maßnahmen ausschöpfen müssen, bevor er sich gegenüber dem Hilfsmittelerbringer verpflichtete, das AV-Impulssystem zu mieten.
Da Unaufschiebbarkeit nicht anzunehmen ist, steht auch fest, dass der Beschaffungs Weg nicht eingehalten wurde. Der Kläger hat die Versorgung am 17.01.2011 durchgeführt, ohne dass zu diesem Zeitpunkt ein ablehnender Bescheid der Beklagten vorgelegen hätte. Dies schließt auch eine Kostenerstattung auf Grundlage von § 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 SGB V aus. Im Übrigen bestand kein Leistungsanspruch.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben