Verkehrsrecht

Unvollständige Beweiserhebung und unzulängliche Beweiswürdigung in einem Verkehrsunfallprozess

Aktenzeichen  10 U 4087/15

Datum:
11.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 05265
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 128 Abs. 2, § 295, § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
GG Art. 103 Abs. 1
StVG § 7 Abs. 1, Abs. 2, § 9, § 17, § 18 Abs. 1, Abs. 3

 

Leitsatz

1 Die erstinstanzliche Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen ist zu beanstanden, wenn diese weder vollständig, noch uneingeschränkt zutreffend erarbeitet wurden. Das Berufungsgericht ist in einem solchen Fall wegen offensichtlicher Lücken, Widersprüche oder Unrichtigkeiten nicht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Tatsachenfeststellungen gebunden und eine erneute Sachprüfung ist eröffnet. (redaktioneller Leitsatz)
2 Wird in einem Verkehrsunfallprozess einem auf Klärung des Unfallgeschehens gerichteten Beweisantrag auf Vernehmung eines Unfallzeugen nicht nachgegangen und wird für diese Unterlassung einerseits keinerlei Begründung gegeben, andererseits der Beweisantrag in den Urteilsgründen nicht einmal erwähnt, muss ein unberechtigtes Übergehen eines Beweisantrags angenommen werden, mit der Folge eines Verstoßes gegen das Verfahrensgrundrecht rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und somit eines schweren Verfahrensfehlers. (redaktioneller Leitsatz)
3 Das auf diesen Verstoß gerichtete Rügerecht hat die Partei, die den Beweis angeboten hat, nicht deswegen verloren, weil sie mit der Zustimmung zum schriftlichen Verfahren den Beweisantrag nicht wiederholt hat. Denn derart schwere Verfahrensverstöße, insbesondere Verletzungen des Grundrechts auf rechtliches Gehör, finden im Prozessrecht keine Stütze und sind deswegen als unverzichtbar (§ 295 Abs. 2 ZPO) der Parteidisposition entzogen. Zwar ist die Bestimmung des § 295 ZPO anwendbar, wenn bei der Beweisaufnahme ein unzulässiges Beweismittel benutzt, nicht jedoch, wenn eine Beweisaufnahme vollständig unterlassen wurde. (redaktioneller Leitsatz)
4 Die Beweiswürdigung ist zwar grundsätzlich ureigenste Aufgabe des Tatrichters und darf nicht durch bloß abweichende Auffassungen der Parteien oder des Berufungsgerichts ersetzt werden. Dabei ist der Tatrichter jedoch nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, in einer Gesamtschau der gesamten Beweisaufnahme zu entscheiden, welcher Unfallhergang als erwiesen zu gelten hat, wobei der gesamte Inhalt der Verhandlungen, insbesondere die Beteiligtenangaben, auch unter Berücksichtigung sonstiger Beweisergebnisse individuell zu würdigen ist. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

20 O 17988/14 2015-10-28 Urt LGMUENCHENI LG München I

Gründe

OBERLANDESGERICHT MÜNCHEN
Aktenzeichen: 10 U 4087/15
Im Namen des Volkes
20 O 17988/14, LG München I
Verkündet am 11.03.2016
… die Urkundsbeamtin
In dem Rechtsstreit

– Klägerin und Berufungsbeklagte –
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte …
gegen

– Beklagte und Berufungsklägerin –
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte …
wegen Schadensersatzes
erlässt der 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht … und die Richter am Oberlandesgericht … und … im schriftlichen Verfahren mit Schriftsatzfrist bis zum 29.02.2016 folgendes
Endurteil
1. Auf die Berufung der Beklagten eingegangen am 13.11.2015 wird das Endurteil des LG München I vom 28.10.2015 (Az. 20 O 17988/14) samt dem ihm zugrunde liegenden Verfahren aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG München I zurückverwiesen.
2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem LG München I vorbehalten. Gerichtsgebühren für die Berufungsinstanz, sowie gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind, werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
A. Die Klägerin macht gegen die Beklagte Ansprüche auf Ersatz von Sach- und Vermögensschäden aus einem Verkehrsunfall geltend. Zugrunde liegt ein Zusammenstoß am Samstag, den 04.01.2014, gegen 14.20 Uhr auf der G. Straße, Höhe Haus Nummer 73, im Stadtgebiet von M.
Der Ehemann der Klägerin war mit deren Pkw Daimler Benz, amtliches Kennzeichen …81, auf dem linken Fahrstreifen der G. Straße in nordöstlicher Richtung gefahren, als der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Pkw Daimler Benz GL 350, amtliches Kennzeichen …03, vom rechten auf den linken Fahrstreifen wechseln wollte. Hinsichtlich des Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 28.10.2015 (Bl. 91/96 d. A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).
Das Landgericht München I hat nach Beweisaufnahme die Klageforderung im Wesentlichen zugesprochen (EU 1 = Bl. 91 d. A.), ein Abzug erfolgte, weil Teile des Reparaturaufwands den unfallbedingten Schäden nicht zugeordnet werden konnten. Hinsichtlich der Erwägungen des Landgerichts wird auf die Entscheidungsgründe (Bl. 94/95 d. A.) des angefochtenen Urteils verwiesen.
Gegen dieses ihr am 03.11.2015 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit beim Oberlandesgericht München am 13.11.2015 eingegangenen Schriftsatz vom 11.11.2015 Berufung eingelegt (Bl. 102/103 d. A.) und diese mit Schriftsatz vom 30.12.2015, eingegangen am gleichen Tag, begründet (Bl. 107/110 d. A.).
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen (BB 1 = Bl. 107 d. A.).
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen (Bl. 106 d. A.).
Der Senat hat gemäß Beschluss vom 11.02.2016 mit Zustimmung der Parteien schriftlich entschieden, § 128 II ZPO; als Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, wurde der 29.02.2016 bestimmt (Bl. 122/123 d. A.). Die Beklagte hat ergänzend beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (Schriftsatz v. 26.01.2016, Bl. 119 d. A.), die Klägerin hat sich hierzu nicht geäußert.
Ergänzend wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und die Hinweisverfügung des Senatsvorsitzenden vom 11.01.2016 (Bl. 111/118 d. A.) Bezug genommen. Von weiterer Darstellung der Einzelheiten der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B. Die statthafte, sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.
I. Das Landgericht hat entschieden, dass Ansprüche der Klägerin auf Schadensersatz, geltend gemacht in Höhe von 6.041,36 €, in Höhe von 5.136,56 € bestehen, weil der gegen den Fahrer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeugs sprechende Anscheinsbeweis nicht entkräftet worden sei und deswegen – wegen der umfassenden Sorgfaltspflichten bei einem Fahrstreifenwechsel – dessen alleinige Haftung eingreife (EU 1, 4/5 = Bl. 91, 94/95 d. A.).
Diese Ergebnisse entbehren angesichts unvollständiger Beweiserhebung und unzulänglicher Beweiswürdigung einer überzeugenden Grundlage.
1. Die erstinstanzliche Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen (Senat, Urt. v. 24.01.2014 – 10 U 1673/13 [juris, Rz. 16]) ist zu beanstanden, weil diese weder vollständig, noch uneingeschränkt zutreffend erarbeitet wurden. Deswegen ist der Senat wegen offensichtlicher Lücken, Widersprüche oder Unrichtigkeiten (BGH WM 2015, 1562; NJW 2005, 1583; r + s 2003, 522) nicht nach § 529 I Nr. 1 ZPO gebunden und eine erneute Sachprüfung eröffnet.Angesichts einzelner Angriffe der Berufung auch gegen die Tatsachenfeststellung des Erstgerichts (BB 2/3 = Bl. 108/109 d. A.), unterliegt eine Prüfung des Senats von Amts wegen keiner Bindung an das Berufungsvorbringen (BGH [V. ZS] NJW 2004, 1876; [VI. ZS] NJW 2014, 2797). Ergänzend wird auf den Hinweis des Senats (v. 11.01.2016, S. 1/2 = Bl. 111/112 d. A.) Bezug genommen.
a) Die tatbestandliche Darstellung des Ersturteils erlaubt wegen ihrer Lücken, Unklarheiten und Widersprüche keine zuverlässige Feststellung des unstreitigen Sachverhalts und der streitigen Parteibehauptungen.
Zwar wird die Ansicht der Beklagten mitgeteilt, der Fahrer des bei ihr versicherten Fahrzeugs habe frühzeitig den linken Fahrtrichtungsanzeigers betätigt, bevor er auf die linke Spur gewechselt sei, so dass der Fahrer des Klägerfahrzeugs rechtzeitig habe reagieren können (EU 3 = Bl. 93 d. A.), insoweit liegt jedoch keineswegs lediglich eine Rechtsmeinung zu den Begriffen „frühzeitig“ und „rechtzeitig“ vor. Vielmehr wollen die Beklagten tatsächliche Umstände behaupten, die dem klägerischen Fahrer ihre Absicht eines Spurwechsels erkennbar machen musste (BB 2 = Bl. 108 d. A.), und somit beweisbedürftigen Tatsachenvortrag darstellen.
Aus dem im Ersturteil in Bezug genommenen (EU 3 = Bl. 93 d. A.) schriftsätzlichen Vorbringen, insbesondere den Schriftsätzen der Beklagten (v. 20.11.2014, S. 2 = Bl. 11 d. A., v. 30.07.2015, Bl. 77/78 d. A.) und der Klägerin (v. 12.08.2015, S. 2 = Bl. 81 d. A.), ergibt sich unabweisbar, dass der Tatbestand insoweit fehlerhaft ist. Deswegen hat der Senat davon auszugehen, dass wesentlicher Tatsachenvortrag übergangen, insbesondere über streitige Umstände kein Beweis erhoben wurde.
Ergänzend, insbesondere zur Entbehrlichkeit statthafter Angriffe auf den Tatbestand, wird auf den Hinweis des Senats (v. 11.01.2016, S. 2 = Bl. 112 d. A.) verwiesen.
b) Die Beweiserhebung des Erstgerichts ist zu beanstanden, denn ein auf Klärung des Unfallgeschehens gerichteter Beweisantrag auf Vernehmung eines Unfallzeugen wurde missachtet (BB 2 = Bl. 108 d. A.). Insbesondere wären der angenommene Haftungsausschluss aufgrund eines unabwendbaren Ereignisses (EU 5 = Bl. 94 d. A.), etwa abweichende Bewertungen des unfallanalytischen Sachverständigen unter Berücksichtigung des Beweiswerts der Zeugenaussagen (EU 4 = Bl. 94 d. A.), und mögliche straßenverkehrsrechtliche Sorgfaltsverstöße des Fahrers des Klägerfahrzeugs als entscheidungserheblich zu prüfen gewesen.
(1) Da für diese Unterlassungen einerseits keinerlei Begründung gegeben, andererseits der Beweisantrag in den Urteilsgründen nicht einmal erwähnt wird, muss ein unberechtigtes Übergehen eines Beweisantrags angenommen werden, mit der Folge eines Verstoßes gegen das Verfahrensgrundrecht rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) und somit eines schweren Verfahrensfehlers (s. BGH NJW 1951, 481, Senat, Urt. v. 20.02.2015 – 10 U 1722/14 [juris, Rn. 33]; Urt. v. 10.02.2012 – 10 U 4147/11 [BeckRS 2012, 04212]). Das auf diesen Verstoß gerichtete Rügerecht hat die Beklagte nicht deswegen verloren, weil sie mit der Zustimmung zum schriftlichen Verfahren den Beweisantrag nicht wiederholt hat (BGH, Beschl. v. 22.03.2012 – I ZR 192/10 [BeckRS 2012, 18381]: „Dem Verlust des Rügerechts bei Verletzung verzichtbarer Verfahrensvorschriften … durch rügelose Verhandlung nach § 295 I ZPO steht es gleich, wenn im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 II ZPO keine Rüge erfolgt“). Denn derart schwere Verfahrensverstöße, insbesondere Verletzungen des Grundrechts auf rechtliches Gehör, finden im Prozessrecht keine Stütze (BVerfG NJW-RR 2001, 1006; NJW 1979, 413; BGH NJW 1970, 946) und sind deswegen als unverzichtbar (§ 295 II ZPO) der Parteidisposition entzogen (BeckOK ZPO/Vorwerk/Wolf, 18. Edition, Stand: 01.09.2015, ZPO § 284, Rn. 44). Zwar ist die Bestimmung des § 295 ZPO anwendbar, wenn bei der Beweisaufnahme ein unzulässiges Beweismittel benutzt (BGH NJW 1985, 1158), nicht jedoch, wenn eine Beweisaufnahme vollständig unterlassen wurde.
(2) Deswegen wird unter Berücksichtigung berufungsrechtlicher Vorgaben (§§ 529 I Nr. 1, 520 III 2 Nr. 3 ZPO) nicht erkennbar, von welchen tatsächlichen Umständen, abgesehen von einer um 10 km/h höheren Differenzgeschwindigkeit des klägerischen Fahrzeugs, sich das Erstgericht aus welchen Gründen überzeugt hat. Folglich lässt sich nicht einmal prüfen, ob in die Abwägung nach § 17 I, II StVG alle Faktoren, soweit unstreitig oder erwiesen, einbezogen wurden, die eingetreten sind, zur Entstehung des Schadens beigetragen haben und einem der Beteiligten zuzurechnen sind. Eine Gewichtung der Mitverursachung oder des (Mit-)Verschuldens kann nicht ohne umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls erfolgen (Senat, Urt. v. 31.07.2015 – 10 U 4377/14 [juris, Rn. 55, m. w. N.]).
(3) Unter Würdigung aller Gesamtumstände stellt die unterlassene Zeugenvernehmung einen schweren Verfahrensfehler dar und schließt aus, dass die Beweiserhebung des Erstgerichts auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht (OLG München, Urt. v. 21.02.2014 – 25 U 2798/13 [juris]). Dies gilt umso mehr, als die Vernehmung in Anwesenheit des unfallanalytischen Sachverständigen hätte durchgeführt werden müssen (vgl. grds. BGH VersR 1979, 939 [juris, Rn. 23]; Senat, Beschl. v. 22.09.2014 – 10 W 1643/14), weil auf die Möglichkeit nicht hätte verzichtet werden dürfen, die unmittelbaren Unfalldarstellungen zu überprüfen, zu erweitern, ergänzende Fragen zu stellen und weitere Anknüpfungspunkte zu gewinnen, und so eine genauere und aussagekräftigere sachverständige Einschätzung zu erhalten.
c) Die Beweiswürdigung des Erstgerichts kann schon allein wegen der unvollständigen Beweiserhebung keine Bindungswirkung (§ 529 I Nr. 1 ZPO) für das weitere Verfahren entfalten, weil eine sachgerechte Prüfung und Bewertung eines vollständigen Beweisergebnisses notwendig fehlen müssen (OLG München, Urt. v. 21.02.2014 – 25 U 2798/13 [juris]), und die Verkehrsverstöße der unfallbeteiligten Fahrer sowie die Unvermeidbarkeit des Unfalls für den Fahrer des klägerischen Fahrzeugs auf einen unzureichend ermittelten Sachverhalt gestützt werden. Unabhängig davon zeigen sich durchgreifende Bedenken gegen die tatsächlich vorgenommene Beweiswürdigung:
(1) Diese ist zwar grundsätzlich ureigenste Aufgabe des Tatrichters (BGH NJW 2015, 74 [75]; BayObLG NZM 2002, 449), und darf nicht durch bloß abweichende Auffassungen der Parteien oder des Senats ersetzt werden. Dabei ist der Tatrichter jedoch nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, in einer Gesamtschau der gesamten Beweisaufnahme zu entscheiden, welcher Unfallhergang als erwiesen zu gelten hat (BGH NJW 2015, 74 [75, 76]), wobei der gesamte Inhalt der Verhandlungen, insbesondere die Beteiligtenangaben, auch unter Berücksichtigung sonstiger Beweisergebnisse (BGH NJW 1992, 1966; NJW 1997, 1988) individuell zu würdigen ist.
– Deswegen wäre aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn das Ersturteil unter Berücksichtigung und Abwägung aller Umstände des Einzelfalls die Unfalldarstellung der Beklagten verworfen, und hierfür eine denkgesetzlich mögliche, widerspruchsfreie und nachvollziehbar begründete (BGH NJW 2012, 3439 [3442]; NJW-RR 2011, 270) Würdigung der Gutachtensergebnisse, aber auch der Zeugenaussagen geliefert hätte.
– Dies ist dem Erstgericht jedoch nicht gelungen, obwohl der Tatrichter nach § 286 I 2 ZPO (nur!) die für seine Überzeugungsbildung leitenden Gründe angeben, nicht dagegen sich im Urteil mit jedem denkbaren Gesichtspunkt und jeder Behauptung, sowie jeder Zeugen- oder Sachverständigenaussage ausdrücklich oder gar ausführlich auseinandersetzen muss (etwa BGH NJW 1987, 1557 [1558]; BAG NZA 2003, 483 [484]; Senat, Beschl. v. 25.11.2005 – 10 U 2378/05 und v. 23.10.2006 – 10 U 3590/06). Im Streitfall macht die Begründung des Erstgerichts nicht einmal „wenigstens in groben Zügen sichtbar …, dass die beachtlichen Tatsachen berücksichtigt und vertretbar gewertet worden sind“ (BAGE 5, 221 [224]; NZA 2003, 483 [484]; Senat, Beschl. v. 25.11.2005 – 10 U 2378/05 und v. 23.10.2006 – 10 U 3590/06). Ebenso wenig lässt sich erkennen, dass der Parteivortrag vollständig erfasst und in Betracht gezogen wurde und eine Auseinandersetzung – individuell und argumentativ (BGH NJW 1988, 566) – mit dem Beweiswert der Beweismittel erfolgt sei, weil die entscheidende Folgerung des Ersturteils, dass „eine Vermeidbarkeit des Unfalls von Seiten der Klagepartei technisch nicht nachgewiesen werden könne“ (EU 4/5 = Bl. 94/95 d. A.), einerseits einer eigenen Bewertung entbehrt, andererseits auf jegliche Würdigung der allein zur Begründung herangezogenen Erkenntnisse des unfallanalytischen Gutachters verzichtet.
(2) Zudem hat das Erstgericht im Streitfall Anwendungsbereich und Reichweite des Anscheinsbeweises verkannt (EU 5 = Bl. 95 d. A.), allerdings nicht aus den mit der Berufung geltend gemachten Gründen (BB 3 = Bl. 109 d. A.).
– Der Anscheinsbeweis stellt ein von Amts wegen zu berücksichtigendes Element der Beweiswürdigung dar (etwa Senat, Urt. v. 14.02.2014 – 10 U 2815/13 [juris]; v. 14.03.2014 – 10 U 4774/13 [juris]; v. 25.04.2014 – 10 U 1886/13 [juris]), und ist nicht von einer Geltendmachung durch den Beweispflichtigen abhängig. Er gilt grundsätzlich nur bei „typischen Geschehensabläufen“ (BGH NZV 1996, 277; NJW 2001, 1140; Senat, Urt. v. 22.02.2008 – 10 U 4455/07 [juris]), also wenn sich unter Prüfung und Bewertung aller unstreitigen und festgestellten Einzelumstände und besonderen Merkmale des Sachverhalts nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt habe (BGH VersR 2007, 557; VersR 2011, 234).
– Anders als die Beklagte meint, wird aber weder ein typischer Geschehensablauf dadurch untypisch, noch eine Anscheinsbeweislage dadurch beseitigt, dass der Anscheinsbeweisbelastete verkehrsrichtiges Verhalten behauptet oder Verstöße gegen seine Sorgfaltspflichten bestreitet. Vielmehr müssten über das „Kerngeschehen“ hinaus, zu welchem das gesamte Fahrverhalten (mit oder ohne Fahrtrichtungsanzeiger) bei dem sonst unstreitigen Fahrstreifenwechsel gehört, weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sein, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene „Typizität“ sprechen. Diese müssen aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, und entweder unstreitig oder erwiesen sein (BGH NJW-RR 1986, 383; NJW 1996, 1828; 2012, 608). Ein solcher Fall ist vorliegend nicht gegeben, vielmehr betrifft das Entlastungsvorbringen der Beklagten die „Erschütterung“ oder Entkräftung des Anscheinsbeweises, wobei sie wiederum für bestrittene Tatsachen (BGH NJW 1953, 584), die eine ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsgemäßen Geschehensablaufs (BGH DAR 1985, 316) eröffnet hätten, beweispflichtig bleibt.
– Jedoch übersieht das Erstgericht (EU 5 = Bl. 95 d. A.), dass der – unstreitig zunächst gegebene und aus der Gesetzesfassung des § 7 V StVO abgeleitete – Anscheinsbeweis gegen einen Fahrstreifenwechsler lediglich insoweit gilt, als eine unsorgfältige Missachtung der in § 7 V StVO festgelegten Sorgfaltspflichten festzustellen ist (Senat NJW-Spezial 2013, 426; Urt. v. 26.04.2013 – 10 U 357/12 [BeckRS 2013, 07719]; Urt. v. 17.12.2010 – 10 U 2926/10 [BeckRS 2011, 00016]; Urt. v. 08.04.2005 – 10 U 5279/04 [BeckRS 2005, 31680]; OLG Bremen, Urt. v. 28.11.1995 – 3 U 31/95 [BeckRS 2008, 15613]; KG VM 1996, Nr. 27; NJOZ 2011, 1044; NZV 2011, 185). Dagegen kann dieser Anscheinsbeweis keinerlei Aussage treffen oder Feststellungen erbringen, dass oder ob der dann folgende Zusammenstoß für den Unfallgegner vermeidbar gewesen sei. Soweit das Erstgericht letzteres wohl für entscheidungserheblich gehalten hat (EU 4/5 = Bl. 94/95 d. A.), hätte es berücksichtigen müssen, dass die Klägerin die Beweisführungs- und Feststellungslast für die Unabwendbarkeit des Unfallereignisses für den Fahrer ihres Fahrzeugs zu tragen hätte.
– Zuletzt kommt es auf einen Anscheinsbeweis dann nicht mehr an, wenn die – nach jüngst verstärkter höchstrichterlicher Rechtsprechung (etwa BGH NJW 2012, 608) – vorrangig gebotene umfassende Aufklärung des Unfallgeschehen zu einem eindeutigen Ergebnis geführt hätte (Senat, Urt. v. 11.06.2010 – 10 U 2282/10 [BeckRS 2010, 14830: Der Unfallhergang ist daher nicht unaufgeklärt]).
2. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass das Erstgericht auch sachlichrechtliche Fragen der Haftungsverteilung nicht überzeugend beantwortet und begründet hat.
a) Zutreffend ist das Ersturteil insoweit, als die grundsätzliche Haftung der Beklagten für Schäden der bei einem Verkehrsunfall in ihrem Eigentum und Vermögen geschädigten Klägerin erkannt wurde, §§ 115 I 1 Nr. 1, 4 VVG, 1 PflVG, i. V. m. §§ 18 I, 7 I StVG). Deswegen genügt die Klägerin grundsätzlich ihrer Darlegungs- und Beweislast mit der – hier unstreitigen – Behauptung, ihr Kraftfahrzeug sei im Straßenverkehr durch einen Zusammenstoß mit dem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs beschädigt worden.
b) Dagegen obliegen der Beklagten jeweils Darlegung und Nachweis, dass entweder die Ersatzpflicht mangels ursächlichen Verschuldens ihres Fahrzeugführers ausgeschlossen sei (§ 18 I 2 StVG), oder ein Fall höherer Gewalt (§ 7 II StVG) oder eines für sie unabwendbaren Ereignisses (§ 17 III StVG) eine Haftung (ganz) entfallen lasse. Gleiches gilt für die Behauptung, der Unfall sei jedenfalls ganz überwiegend vom klägerischen Fahrzeug und dessen Fahrer verursacht oder mitverschuldet worden (§§ 17 I, II, 18 III, 9 StVG, 254 I BGB), so dass der eigene Verursachungsbeitrag und Verschuldensanteil vernachlässigt werden dürfe. Dies scheint das Erstgericht zutreffend zugrunde zu legen, jedoch hätte der Beklagten Gelegenheit gegeben werden müssen, diesen Beweis wenigstens anzutreten.
c) Die Beweislast für eine Unvermeidbarkeit oder ein unabwendbares Ereignis für den klägerischen Fahrer (§ 17 III StVG), also dass dieser den Anforderungen an einen Idealfahrer entsprochen habe, trifft dagegen die Klägerin, was das Erstgericht ausweislich der Entscheidungsgründe (EU 4/5 = Bl. 94/95 d. A.) verkannt hat. Dabei ist daran zu erinnern, dass Fragen der Haftung nicht nur durch die technische Vermeidbarkeit berührt werden, sondern zudem geklärt und im Urteil dargelegt werden muss, ob aus Rechtsgründen ebenfalls ein unabwendbares Ereignis angenommen werden kann.
d) Darüber hinaus trägt im Rahmen der Haftungsverteilung jede Partei die Beweislast dafür, dass Unfall und Schadensausmaß „vorwiegend von dem … anderen Teil verursacht“ oder verschuldet worden seien (§17 I, II StVG), muss also die Umstände beweisen, die zu Ungunsten des anderen Halters berücksichtigt werden sollen (BGH NJW 1996, 1405; NZV 2007, 294; OLG Frankfurt 1995, 400; Senat, Urt. v. 24.11.2006 – 10 U 2555/06 [juris]; v. 01.12.2006 – 10 U 4707/06 [juris]; DAR 2007, 465). Dabei dürfen nur solche Umstände Berücksichtigung finden, die sich erwiesenermaßen auf den Unfall ausgewirkt haben, also sich als Gefahrenmoment in dem Unfall tatsächlich niedergeschlagen haben. Diese Umstände müssen feststehen, also unstreitig, zugestanden oder nach § ZPO § 286 ZPO bewiesen sein (BGH NJW 1995, 1029; NZV 2007, 190; NJW 2014, 217). Derartige Erwägungen enthält das Ersturteil nicht, anscheinend in der Erwartung, das überragende Verschulden des Fahrers des Beklagtenfahrzeugs aufgrund eines unsorgfältigen Spurwechsels verdränge jegliche Haftung des Unfallgegners, selbst diejenige für Betriebsgefahr. Allerdings erscheint nach den Urteilsgründen nicht ausgeschlossen, dass wenigstens eine Mithaftung der Klägerin angenommen worden wäre, wenn der Unfall für ihren Fahrer nicht unvermeidbar gewesen wäre (EU 5 = Bl. 95 d. A.). Richtig ist, dass ein unsorgfältiger Fahrstreifenwechsel zur Alleinhaftung des Spurwechslers führen kann und im Regelfall führen wird. Dennoch kann eine Gewichtung der Mitverursachung oder des (Mit-)Verschuldens nur aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls erfolgen, insbesondere der genauen Klärung des Unfallhergangs (Senat, Urt. v. 12.06.2015 – 10 U 3981/14 [juris, Rn. 49, m. w. N.]; Urt. v. 31.07.2015 – 10 U 4377/14 [juris, Rn. 55, m. w. N.]). Hierzu unterlässt das Erstgericht tragfähige Feststellungen.
II. Der Senat hat eine eigene Sachentscheidung nach § 538 I ZPO erwogen, sich aber aus folgenden Gründen dagegen entschieden:
1. Eine mangelhafte Beweiserhebung stellt ebenso sowie eine nicht sachgerechte Beweiswürdigung einen Zurückverweisungsgrund nach § 538 II 1 Nr. 1 ZPO dar (Senat, Urt. v. 31.07.2015 – 10 U 4733/14 [juris, dort Rz. 57, m. w. N.]). Als schwerwiegender Verfahrensfehler erweist sich, dass das Erstgericht die Pflicht zu umfassender Aufklärung des Unfallgeschehens verletzt hat.
Die erforderliche Beweisaufnahme wäre umfangreich und aufwändig (§ 538 II 1 Nr. 1, 2. Satzhälfte ZPO), weil der Senat sich nicht darauf beschränken dürfte, einen Zeugen zusätzlich zu vernehmen. Vielmehr müsste auch die sachverständige Begutachtung erneut durchgeführt werden, weil dem Sachverständigen sämtliche erreichbare Anknüpfungstatsachen vorgegeben werden müssen (§ 404a I, III ZPO). Dies kann nur durch eine Teilnahme des Gutachters an der Zeugeneinvernahme, mit der Möglichkeit, Fragen zu stellen und Vorhalte zu machen, sichergestellt werden. Durch diese gebotene Beweisaufnahme würde der Senat zu einer mit der Funktion eines Rechtsmittelgerichts unvereinbaren teilweise erstmaligen Beweiserhebung, im Übrigen vollständigen Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens (Senat VersR 2011, 549 ff.) gezwungen. Eine Beurteilung sowohl der Glaubhaftigkeit der Sachdarstellungen, als auch der Glaubwürdigkeit der Zeugen oder Parteien wäre rechtsfehlerhaft, wenn der Senat auf einen eigenen persönlichen Eindruck verzichten wollte (s. etwa BGH r + s 1985, 200; NJW 1997, 466; NZV 1993, 266; VersR 2006, 949), oder ein Sachverständigengutachten ohne diese Erkenntnisgrundlage verwerten wollte.
3. Der durch die Zurückverweisung entstehende grundsätzliche Nachteil einer Verzögerung und Verteuerung des Prozesses muss hingenommen werden, wenn ein ordnungsgemäßes Verfahren in erster Instanz nachzuholen ist und den Parteien die vom Gesetz zur Verfügung gestellten zwei Tatsachenrechtszüge erhalten bleiben sollen (Senat NJW 1972, 2048); eine schnellere Erledigung des Rechtsstreits durch den Senat ist im Übrigen angesichts seiner außerordentlich hohen Geschäftsbelastung vorliegend nicht zu erwarten.
III. Die Kostenentscheidung war dem Erstgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann (OLG Köln NJW-RR 1987, 1032; Senat in st. Rspr., zuletzt VersR 2011, 549 ff.; NJW 2011, 3729).
Die Gerichtskosten waren gemäß § 21 I 1 GKG niederzuschlagen, weil ein wesentlicher Verfahrensmangel – nur ein solcher kann zur Aufhebung und Zurückverweisung führen (§ 538 II 1 Nr. 1 ZPO) – denknotwendig eine unrichtige Sachbehandlung i. S. des § 21 I 1 GKG darstellt. § 21 I 1 GKG erlaubt auch die Niederschlagung von Gebühren des erstinstanzlichen Verfahrens (etwa Senat, Urt. v. 27.01.2012 – 10 U 3065/11 [juris, dort Rz. 12]).
IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 S. 1 ZPO. Auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung ist im Hinblick auf §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (BGH JZ 1977, 232; Senat VersR 2011, 549; NJW 2011, 3729), allerdings ohne Abwendungsbefugnis. Letzteres gilt umso mehr, als das vorliegende Urteil nicht einmal hinsichtlich der Kosten einen vollstreckungsfähigen Inhalt aufweist.
V. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gemäß § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben.
Weder eine grundsätzliche Bedeutung der Sache (BVerfG NJW 2014, 2417 [2419, Tz. 26-32]; BGH NJW-RR 2014, 505) noch die Fortbildung des Rechts (BVerfG a. a. O. Tz. 33) oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (BVerfG a. a. O. [2420, Tz. 34]; BGH NJW 2003, 1943) erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Die Entscheidung weicht nicht von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung ab und betrifft einen Einzelfall, der grundlegende Rechtsfragen nicht aufwirft.


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