Verwaltungsrecht

Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  M 26 K 17.30862

Datum:
23.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 52850
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 77 Abs. 2
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Tenor

I.    Unter teilweiser Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 10. Januar 2017 wird diese verpflichtet, festzustellen, dass bei der Klagepartei das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz hinsichtlich Afghanistan vorliegt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 
II.    Von den Kosten des Verfahrens trägt die Klagepartei zwei Drittel, die Beklagte ein Drittel.
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Si¬cherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu voll¬streckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat hinsichtlich der Verpflichtung zur Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, Erfolg. Im Übrigen war die Klage abzuweisen, da kein Anspruch auf Zubilligung der Flüchtlingseigenschaft bzw. der Anerkennung als Asylberechtigter und auch kein Anspruch auf Zubilligung des subsidiären Schutzstatus besteht. Insoweit wird auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) Bezug genommen.
Die Klagepartei hat aber einen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG. Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig, soweit festgestellt wird, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegen und soweit die Abschiebung angedroht wird. Insoweit war er aufzuheben.
Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist in Streitigkeiten nach dem AsylG grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen. Da die vorliegende Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird.
Nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre beim Kläger der Fall, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist, sodass die humanitären Gründe gegen die Ausweisung im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zwingend sind (vgl. BayVGH, U.v. 21.12.2014 – 13a B 14.30285 für den Fall einer Rückkehr einer afghanischen Familie mit minderjährigen Kindern).
Bei dem Kläger handelt es sich um einen aus der Provinz stammenden, in kleinteiligen Strukturen aufgewachsenen jungen Mann, der in Afghanistan in seiner Heimatregion über keine nennenswerten Unterstützungsstrukturen verfügt und keine Aussicht hat, dort Arbeit zu finden oder anderweitig seinen Lebensunterhalt fristen zu können. Er wäre deshalb darauf angewiesen, im Fall einer Rückkehr in sein Heimatland in Kabul oder einer anderen afghanischen Großstadt Arbeit zu finden, um sein Existenzminimum zu sichern, ohne dass er über Erfahrungen betreffend den dortigen „Arbeitsmarkt“ und die sonstigen Verhältnisse, geschweige denn über persönliche Verbindungen verfügen würde.
Bislang hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung überwiegend vertreten, dass bei Rückkehr eines alleinstehenden arbeitsfähigen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen sich die Abschiebung nicht ohne weiteres als Verletzung von Art. 3 EMRK darstellt (z.B. B.v. 12.4.2018 – 13a ZB 18.30135 unter Bezugnahme auf ältere Entscheidungen). Im Kern stützte er diese Rechtsauffassung darauf, dass es für einen arbeitsfähigen Mann in Kabul oder einer anderen afghanischen Großstadt möglich sei, sein Existenzminimum durch Aushilfsjobs zu erwirtschaften. Diese Meinung äußert der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mehr oder weniger unverändert seit dem Jahr 2011 (U.v. 3.2.2011 – 13a B 10.30394 zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG).
Bei der Beantwortung der Frage, ob ein Rückkehrer nach Afghanistan sich dort das notwendige Existenzminimum sichern kann mit der Folge, dass kein Verstoß gegen § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegt, handelt es sich um einen Akt der Beweiswürdigung für den jeweils zu entscheidenden Einzelfall unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel im Zeitpunkt der Entscheidung des Tatsachengerichts, die vor diesem Hintergrund überhaupt nicht oder nur dann eingeschränkt verallgemeinerungsfähig ist, wenn der individuelle Sachverhalt und die allgemeine Erkenntnislage in den jeweils entschiedenen Fällen tatsächlich genau die gleichen sind.
Im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts sind für die Beurteilung der Frage, ob im Einzelfall des Klägers im Fall seiner Rückkehr diesem ein nicht gegen die Menschenwürde verstoßendes Dasein möglich wäre, nicht nur die dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof als Grundlage seiner bisherigen Rechtsprechung zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel, sondern auch die der Beklagten bekannten (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 11.10.2018 im Verfahren M 26 K 17.35184), zum 30. August 2018 aktualisierten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender des UNHCR zu berücksichtigen. Dabei handelt es sich nicht nur um bloße Handlungsempfehlungen für Entscheider in den Aufnahmestaaten, sondern auch um eine Auswertung neuer Erkenntnismittel und deren Zusammenfassung. Im Unterschied zu der in den Richtlinien des Jahres 2016 dargestellten Rückkehrsituation, bei der der UNHCR noch davon ausging, dass im Einzelfall für einen hier in Rede stehenden Rückkehrer entsprechende Erwerbsmöglichkeiten bestünden, kommt der UNHCR nunmehr zu dem Ergebnis, dass solche Möglichkeiten für die fraglichen Rückkehrer allenfalls in einer Ausnahmesituation gegeben sein könnten. Begründet wird diese Schlussfolgerung mit der Rückkehr von über einer Millionen Afghanen aus dem Iran und aus Pakistan im Jahr 2016 sowie von 620.000 entsprechenden Personen im Jahr 2017 (vgl. insbesondere S. 111 der UNHCR-Richtlinien in der Fassung vom 30.8.2018). Hinzu kommt, dass 72,4% der in afghanischen Städten lebenden Bevölkerung in Slums, illegalen Siedlungen oder sonstigen unzureichenden Behausungen leben (ebenda). Vor diesem Hintergrund erscheint die vom UNHCR getroffene Bewertung, dass ein möglicherweise existierender „Arbeitsmarkt“ für Tagelöhner nunmehr nicht oder allenfalls in Ausnahmefällen existent ist, schlüssig und nachvollziehbar. Berücksichtigt man zudem die Zahl der seit dem Jahr 2011 aus Europa zurückgeführten Afghanen, erscheint im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts die Annahme, ein zurückkehrender afghanischer Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen sei in der Regel mit hinreichender Sicherheit in der Lage, sich sein Existenzminimum zu erwirtschaften, nicht mehr tragfähig. Für die Frage, welche Auswirkungen ein nicht gesichertes Existenzminimum auf die humanitären Mindeststandards des jeweils Betroffenen hat und dass sich insoweit eine Verletzung von Art. 3 EMRK aufdrängt, wird auf die der Beklagten bekannte Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2014 (Az. 13a B 14.30285) Bezug genommen. Ein Unterschied zu dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall der Rückkehr einer afghanischen Familie ist aus den oben dargestellten Gründen nicht mehr gerechtfertigt.
Dies zu Grunde gelegt, ist im Einzelfall des Klägers noch zu prüfen, ob in seiner Person ein Ausnahmefall begründet ist, der es rechtfertigen würde, anzunehmen, dass er entgegen dem eben Ausgeführten mit hinreichender Sicherheit in der Lage sein wird, seine Existenzgrundlage durch Arbeit sichern. Vor dem Hintergrund seiner oben dargestellten persönlichen Verhältnisse ist das jedoch nicht der Fall.
Eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, die im Übrigen für das Verwaltungsgericht nicht bindend ist, liegt nicht vor. Zwar kann eine Abweichung im Verhältnis vom Erst zum Berufungsgericht auch im Fall einer Tatsachenfrage vorliegen. Voraussetzung hierfür wäre aber zusätzlich, dass die Tatsachenfrage verallgemeinerungsfähig ist. Die Beurteilung eines konkreten Einzelschicksals im Fall einer Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland ist aber derart spezifisch einzelfallbezogen, dass eine Verallgemeinerungsfähigkeit ausscheidet. Hinzu kommt, dass die im Fall des Klägers vom Verwaltungsgericht getroffene Einschätzung maßgeblich auf den genannten neuen Erkenntnismitteln basiert, die dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof bislang nicht zur Verfügung standen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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