Verwaltungsrecht

Antrag auf Zulassung einer Berufung- wegen Ausweisung und Aufenthaltserlaubnis

Aktenzeichen  10 ZB 17.853

Datum:
12.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 113704
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG § 53 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen, kann unter Umständen seine Reifung fördern und die Gefahr neuen Straffälligwerdens mindern kann (Bestätigung von VGH München BeckRS 2016, 46954) (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Den Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern über die Strafaussetzung zur Bewährung kommt für die Frage der Wiederholungsgefahr erhebliche indizielle Bedeutung zu, die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind an diese Entscheidung aber nicht gebunden, sondern haben über das Vorliegen einer hinreichenden Gefahr neuer Verfehlungen eigenständig zu entscheiden (Bestätigung von VGH München BeckRS 2017, 100322). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 12 K 16.2033 2016-11-17 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 6. April 2016 und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis weiter. Mit dem streitgegenständlichen Bescheid hat die Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet ausgewiesen, die Wirkungen der Ausweisung auf fünf bzw. sieben Jahre nach Ausreise befristet, die Abschiebung nach Albanien angedroht und seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist abzulehnen, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteil (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nicht ergibt.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat seine Auffassung, die Ausweisung des Klägers sei nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls rechtmäßig, damit begründet, dass die Gefahr, der Kläger werde erneut gravierende Straftaten begehen, gegenwärtig nach wie vor bestehe. Es hat dabei insbesondere auf die Art und Weise der Begehung der vom Kläger verübten Straftaten, die Schwere der Straftaten, das verletzte Rechtsgut und den fehlenden Abschluss einer notwendigen Antiaggressionstherapie abgestellt.
Der Kläger bringt demgegenüber im Zulassungsverfahren vor, das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass die Straftaten mittlerweile lange zurücklägen und der Kläger erstmals eine längere Zeit in Haft verbracht habe. Die positiven Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt hätten keinen Eingang in die Entscheidung gefunden. Bei der Stellungnahme vom 22. März 2016 habe das Gericht verkannt, dass die Justizvollzugsanstalt nur die Aussetzung des Restes der Jugendstrafe zum März 2016 nicht befürwortet habe, jedoch die Aussetzung zum Juni 2016. Jedenfalls wäre das Verwaltungsgericht gehalten gewesen, die positive Entwicklung des Klägers in der Haft in die Abwägung miteinzustellen. Ein therapeutischer Handlungsbedarf sei nach dem Vollzugsplan der Justizvollzugsanstalt bei ihm nicht gegeben gewesen. Auch sei von einer positiven Nachreifung auszugehen. Zu berücksichtigen sei ferner der Beschluss zur Aussetzung der Vollstreckung der restlichen Jugendstrafe vom 3. Juni 2016 und die Teilnahme an einem Projekt für jugendliche Gewalttäter (Rubikon). Der Kläger befinde sich auch in psychotherapeutischer Behandlung.
Damit hat der Kläger jedoch keine Umstände aufgezeigt, die die vom Erstgericht im Rahmen der Prüfung des § 53 Abs. 1 AufenthG angestellte Gefahrenprognose und die Annahme einer beachtlichen Wiederholungsgefahr erneuter Gewaltdelikte ernstlich in Zweifel ziehen könnten. Das Verwaltungsgericht hat bei der bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung von ihm zu treffenden eigenständigen Gefahrenprognose alle für den Einzelfall wesentlichen Umstände berücksichtigt. Ausschlaggebende Bedeutung kommt insoweit den vom Kläger im Jahr 2014 begangenen massiven Körperverletzungsdelikten zu, bei denen er andere Personen ohne jeglichen Anlass niedergeschlagen und teilweise mit Tritten in den Kopfbereich schwerwiegend verletzt hat. Die Schwere dieser Straftaten wird nicht dadurch gemindert, dass sie mittlerweile fast drei Jahre zurückliegen. Ein bloßer Zeitablauf seit der letzten begangenen Straftat vermag entgegen der vom Kläger sinngemäß vertretenen Auffassung eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung weiterer einschlägiger Straftaten nicht auszuschließen. Schließlich musste sich der Kläger noch nicht allzu lange außerhalb des Strafvollzugs bewähren. Soweit der Kläger auf den erzieherischen Erfolg der Strafhaft sowie die positiven Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt verweist, führt dies nicht zum Entfallen der in den Straftaten zum Ausdruck kommenden erheblichen Gewaltbereitschaft des Klägers und dem damit verbundenen Risiko der Begehung erneuter Körperverletzungsdelikte. Zwar gehen die Straf- und Verwaltungsgerichte davon aus, dass die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen, unter Umständen seine Reifung fördern und die Gefahr neuen Straffälligwerdens mindern kann (vgl. BayVGH, B.v. 21.3.2016 – 10 ZB 15.1968 – juris Rn. 10). Es ist aus dem Zulassungsvorbringen jedoch nicht ersichtlich, dass den Kläger die Verbüßung der Freiheitsstrafe so stark beeindruckt hat, dass es bereits zu einem nachhaltigen Einstellungswandel hinsichtlich der Einhaltung der Rechtsordnung gekommen ist. Ihm wird zwar in den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt bescheinigt, dass er freundlich, höflich, fleißig und besonnen ist. Bezüglich seiner Straftaten findet sich jedoch nur der Satz, dass „er sich reflektiert zeige“. Vor diesem Hintergrund geht der Senat nicht davon aus, dass die Verbüßung der Freiheitsstrafe den Kläger bereits so nachhaltig beeindruckt und er sich mit seiner kriminellen Vergangenheit so auseinandergesetzt hat, dass er auch ohne den Druck des Strafvollzugs und der dreijährigen Bewährungszeit nach der Strafaussetzung zur Bewährung in der Lage ist, nicht erneut straffällig bzw. gewalttätig zu werden. Eine gute Führung während der Haft reicht insoweit jedenfalls noch nicht. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht auch darauf hingewiesen, dass der zweiwöchige Jugendarrest und die Weisungen, die dem Kläger anlässlich früherer Strafverfahren erteilt wurden, ohne Auswirkungen auf ihn geblieben sind.
Soweit der Kläger vorbringt, das Verwaltungsgericht habe nicht erkannt, dass in der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 22. März 2016 lediglich die Strafaussetzung zur Bewährung zum Zeitpunkt März 2016 nicht befürwortet worden sei, trifft dies zu, weil sich die Justizvollzugsanstalt in dieser Stellungnahme für eine Haftentlassung zu den Prüfungsterminen im Juni 2016 ausgesprochen hat. Allerdings vermag der Kläger mit diesem Einwand die Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Denn das Verwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung berücksichtigt, dass er – nicht zuletzt aufgrund dieser positiven Stellungnahme – im Juni 2016 auf Bewährung aus der Strafhaft entlassen worden ist.
Das Erstgericht ist aber auch zu Recht davon ausgegangen, dass die Aussetzung der Vollstreckung der restlichen Jugendstrafe zur Bewährung durch Beschluss des Amtsgerichts L. vom 3. Juni 2016 nicht zum Entfallen der Wiederholungsgefahr führt. Zwar kommt – wie der Kläger zutreffend ausführt – den Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern über die Strafaussetzung zur Bewährung für die Frage der Wiederholungsgefahr erhebliche indizielle Bedeutung zu, die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind an diese Entscheidung aber nicht gebunden (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1934/16 – juris 21). Sie haben über das Vorliegen einer hinreichenden Gefahr neuer Verfehlungen eigenständig zu entscheiden (BayVGH, B.v. 5.1.2017 – 10 ZB 16.1778 – juris Rn. 7). Im Fall des Klägers ist für das Abweichen von der strafrichterlichen Prognose, wonach die Strafaussetzung zur Bewährung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann (§ 88 JGG), ausschlaggebend gewesen, dass er sich gemäß der Weisungen des Beschlusses vom 3. Juni 2016 um unverzügliche Aufnahme in das Projekt Rubikon zu bemühen hat. Demnach ist auch die Strafvollstreckungskammer davon ausgegangen, dass es sich beim Kläger um einen jugendlichen gewaltbereiten Intensivtäter handelt, der auch nach der Entlassung aus der Haft einer engmaschigen Kontrolle und Unterstützung bedarf, um nicht wieder mit Gewaltstraftaten auffällig zu werden. Alleine die bisherige Teilnahme an dem Projekt lässt die Wiederholungsgefahr nicht entfallen. Dies wird insbesondere dadurch deutlich, dass der Kläger unmittelbar nach dem „erfolgreichen“ Abschluss eines Antiaggressionstrainings im August 2014 bereits im September 2014 zwei massive Körperverletzungsdelikte begangen hat.
Auch wenn der Kläger laut Vollzugsplan während seiner Inhaftierung nicht wegen seiner in den von ihm begangenen Straftaten zum Vorschein getretenen Gewaltbereitschaft psychotherapeutisch behandelt worden ist, besteht diesbezüglich Handlungsbedarf. Dies zeigen zum einen die Weisung im Beschluss vom 3. Juni 2016 zur Teilnahme am Projekt Rubikon und zum anderen der Bericht der Jugendhilfe im Strafverfahren vom 3. Februar 2016. Danach hat der Kläger in der Strafhaft seine Aggressionsproblematik erkannt, aber noch nicht bewältigt; es wird eine professionelle Auseinandersetzung mit seinem Aggressionspotential durch psychologische und therapeutische Begleitung empfohlen.
Entgegen dem Vorbringen des Klägers im Zulassungsverfahren hat das Erstgericht die seit der Begehung der letzten Straftat verstrichene Zeitspanne bei seiner Abwägungsentscheidung berücksichtigt. In den Entscheidungsgründen geht es ausdrücklich auf das beanstandungsfreie Verhalten in der Haft ein, weist aber zugleich darauf hin, dass es angesichts des nicht erfolgreich therapierten Aggressionspotentials und einer noch fehlenden Bewährung außerhalb des Strafvollzugs vom einem Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Ausreise des Klägers aus dem Bundesgebiet ausgeht. Auch unter Berücksichtigung der nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei einer Ausweisung zu beachtenden Kriterien erweist sich das Urteil des Verwaltungsgerichts daher als richtig. Alleine der Zeitablauf seit Begehung der letzten Straftat lässt die Wiederholungsgefahr nicht entfallen. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht insoweit auch berücksichtigt, dass sich die Straftaten des Klägers, die seiner Inhaftierung zugrunde lagen, gegen das hochrangige Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit richteten und daher auch eine nur relativ geringe Möglichkeit weiterer Gewalttaten eine Wiederholungsgefahr begründet (BayVGH, B.v. 28.4.2017 – 10 ZB 15.2066 – juris Rn. 12 m.w.N.).
Einwendungen gegen die Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils, soweit es die Klage gegen die Befristungsentscheidung und die Abschiebungsanordnung nach Albanien abgewiesen hat, werden im Zulassungsantrag ebenso wenig erhoben wie bezüglich des erfolglosen Verpflichtungsbegehrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 39 Abs. 1, § 47 Abs. 1 und Abs. 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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