Verwaltungsrecht

Aufnahmevoraussetzungen für jüdische Zuwanderer

Aktenzeichen  19 ZB 15.2120

Datum:
13.7.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 49252
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 23 Abs. 2

 

Leitsatz

Der Wortlaut von Ziffer I.5., 2. Spiegelstrich der Anordnung des Bundesministeriums des Innern über die Aufnahme jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion mit Ausnahme der Baltischen Staaten vom 24.05.2007 in der Fassung vom 21.05.2015 schließt nicht aus, dass die Aufnahmevoraussetzungen trotz der Vorlage eines veränderten Dokuments, das Zweifel an der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit des Bewerbers begründet, vorliegen können, wenn der Bewerber ein weiteres, unverfälschtes Dokument vorlegt. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 5 K 14.1888 2015-08-06 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsantragsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsantragsverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

Gegenstand des Verfahrens ist die Erteilung einer Aufnahmezusage für jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Erteilung der beantragten Aufnahmezusage an die Klägerin mit Bescheid vom 22. Oktober 2014 abgelehnt, weil ihr Wehrpass im Bereich des Nationalitäteneintrags verfälscht sei, der Nachweis der jüdischen Abstammung und Nationalität mit einer verfälschten Urkunde ausgeschlossen sei und wegen der beabsichtigten Täuschung und der Verletzung der Wahrheitspflicht weitere, nachträglich vorgelegte Urkunden zum Nachweis der jüdischen Nationalität nicht berücksichtigt würden.
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 6. August 2015 unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids zur Erteilung der Aufnahmezusage an die Klägerin verpflichtet und zur Begründung ausgeführt, im Lichte des Grundsatzes der Gleichbehandlung sei der Klägerin die Aufnahmezusage zu erteilen. Neben einem nachträglich veränderten Wehrpass habe die Klägerin auch eine am 27. Oktober 1976 ausgestellte Geburtsurkunde ihres Sohnes vorgelegt, in dem ihre Nationalität mit Jüdin angegeben sei. Das Bundesamt gehe selbst von der Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufnahmezusage aus. Der Ablehnungstatbestand der Ziffer I.5, Spiegelstrich 2 der Verfahrensanordnung liege mangels strafrechtlicher Verurteilung der Klägerin nicht vor. Es gebe auch keine Verwaltungspraxis, wonach bei der Vorlage sowohl verfälschter als auch echter Urkunden die Erteilung einer Aufnahmezusage abgelehnt werde. Es gebe außerdem keine Anhaltspunkte dafür, wer die Manipulation am Wehrpass vorgenommen habe und dass dieser Sachverhalt der Klägerin bekannt gewesen sei.
Der auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sowie eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Zulassungsantrag der Beklagten hat keinen Erfolg. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen im Zulassungsantrag (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung.
1. Die von der Beklagten vorgebrachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen nicht.
Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (z. B. BVerfG, B. v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546/547 – juris) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B. v. 10.3.2010 – 7 AV 4/03 – DVBl 2004, 838/839 – juris). Dies ist nicht der Fall. Die Voraussetzungen für eine Ablehnung der Aufnahmezusage liegen nach der zutreffenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht vor.
In der Begründung des Zulassungsantrags wiederholt das Bundesamt den Vortrag, die Klägerin habe eine verfälschte Urkunde vorgelegt, sowie die Auffassung, wegen der beabsichtigten Täuschung und der Verletzung der Wahrheitspflicht könnten in einem solchen Fall andere Urkunden keine Berücksichtigung mehr finden. Gleichzeitig knüpft das Bundesamt an den Ausschlussgrund im 2. Spiegelstrich der Nr. I.5 der Anordnung an. Es will die Ausschlussregelung „in allen Fällen der Täuschung“ zur Anwendung bringen, auch wenn keine Verurteilung erfolgt ist bzw. wenn kein konkreter Tatnachweis geführt werden kann. Damit werden eine Rechtsgrundlage für eine Aufnahmeablehnung und ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht dargelegt.
a) Nach § 23 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann das Bundesministerium des Innern (Bundesministerium) zur Wahrung besonders gelagerter politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Benehmen mit obersten Landesbehörden anordnen, dass das Bundesamt Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufnahmezusage erteilt. Das Bundesministerium kann im Rahmen seines Entschließungs- und Auswahlermessens den von einer Anordnung erfassten Personenkreis bestimmen. Es kann dabei, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, positive Kriterien (Erteilungsvoraussetzungen) und negative Kriterien (Ausschlussgründe) aufstellen. Ein Anspruch des einzelnen Ausländers, von einer Anordnung nach § 23 Abs. 2 AufenthG erfasst zu werden, besteht nicht (vgl. BVerwG, U. v. 19.9.2000 – 1 C 19.99 – juris). Im vorliegenden Fall ist die Anordnung des Bundesministeriums des Innern gemäß § 23 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes über die Aufnahme jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion mit Ausnahme der Baltischen Staaten vom 24. Mai 2007 in der Fassung vom 21. Mai 2015 einschlägig.
Nach Nr. I.2.a der Anordnung zählt zu den positiven Erteilungsvoraussetzungen, dass als jüdische Zuwanderer nur Personen aufgenommen werden können, die nach staatlichen, vor 1990 ausgestellten Personenstandsurkunden selbst jüdischer Nationalität sind und von mindestens einem jüdischen Elternteil oder einem jüdischen Großelternteil abstammen. Der dabei verwendete Begriff der „jüdischen Nationalität“ beruht auf einer Besonderheit in der ehemaligen Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten. Diese unterscheiden zwischen der Staatsangehörigkeit und der Nationalität; das Judentum wird der Nationalität zugerechnet, die in staatlichen Personenstandsurkunden des Herkunftsgebietes angegeben ist. Die Klägerin hat nach den Ausführungen der Beklagten mit der Geburtsurkunde ihres Sohnes eine vor 1990 ausgestellte Personenstandsurkunde vorgelegt, in der ihre jüdische Nationalität eingetragen ist, und damit die Aufnahmevoraussetzungen erfüllt.
Nach dem 2. Spiegelstrich der Nr. I.5 der Anordnung sind Zuwanderer ausgeschlossen, die wegen Delikten, die in Deutschland als vorsätzliche Straftaten anzusehen sind, bestraft sind. Dies ist bei der Klägerin unstreitig nicht der Fall, auch wenn sie ein verändertes (verfälschtes) Dokument vorgelegt hat. Allein der Hinweis des Bundesamtes im Zulassungsvorbringen, dass der Sachverhalt an die Generalstaatsanwaltschaft N. mit der Bitte um Prüfung und Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abgegeben worden ist, erfüllt den Ausschlusstatbestand nicht. Die Beklagte räumt im Zulassungsantrag selbst ein, dass eine Verurteilung nicht erfolgt ist und dass der konkrete Tatnachweis einer Urkundenfälschung von ihr nicht geführt werden kann.
Der Anordnung ist nicht zu entnehmen, dass die Vorlage eines veränderten Dokuments einen Ablehnungsgrund darstellt, etwa weil sie Zweifel an der Glaubwürdigkeit oder Zuverlässigkeit des Bewerbers begründe. Der Wortlaut der Anordnung schließt es nicht aus, die Aufnahmevoraussetzungen nach der Vorlage eines nicht berücksichtigungsfähigen Dokuments durch ein (anderes) unverfälschtes Dokument zu erfüllen.
b) In der Begründung des Zulassungsantrags trägt das Bundesamt vor, das Bundesministerium des Innern habe der Ablehnung von Aufnahmezusagen in derartigen Fällen zugestimmt. Ein Beleg für die vorgetragene Zustimmung ist jedoch nicht angegeben worden, insbesondere ist ein entsprechendes Schriftstück nicht vorgelegt worden. Bei dieser Sachlage vermag der Vortrag des Bundesamtes nicht durchzugreifen.
Aus den geltenden Aufnahmevoraussetzungen in Verbindung mit Art. 3 GG ergibt sich ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Gleichbehandlung. Die Aufnahmevoraussetzungen werden entsprechend § 23 Abs. 2 Satz 1 AufenthG durch das Bundesministerium des Innern im Benehmen mit den obersten Landesbehörden festgelegt. Letztlich maßgebend ist aber die tatsächliche Verwaltungspraxis, die vom Urheber gebilligt oder geduldet ist (BVerwG, U. v. 19.9.2000 – 1 C 19.99 – BVerwGE 112, 63, 66 ff.). Sie kann aus sachlichen Gründen jederzeit geändert oder weiterentwickelt werden.
aa) Die „Zustimmung“ kann nicht als (ergänzende) Anordnung im Sinne des § 23 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bewertet werden. Eine solche Anordnung muss hinreichend bestimmt, also inhaltlich eindeutig sein. Dies ist nicht nur Voraussetzung für eine willkürfreie Anwendung durch das Bundesamt, sondern auch für die von § 23 Abs. 2 Satz 1 AufenthG geforderte Herstellung des Benehmens mit den obersten Landesbehörden.
Mangels einer verkörperten Erklärung muss auf das Vorbringen des Bundesamtes zurückgegriffen werden. Dieses ist jedoch widersprüchlich und lässt eine klare und verallgemeinerungsfähige neue Entscheidungspraxis nicht erkennen. Es ist offen, ob die Versagung eine Kenntnis des Aufnahmebewerbers von der Veränderung eines Dokuments voraussetzen soll oder ob bereits jegliche Vorlage eines veränderten Dokuments für eine Versagung der Aufnahme genügt. Ein Täuschungsversuch, von dem das Zulassungsvorbringen an einer Stelle spricht, setzt die Kenntnis des Verwenders von der Veränderung des Dokuments voraus, die hinsichtlich der hiesigen Klägerin nicht belegt ist. Eine Versagung der Aufnahme ohne konkreten Tatnachweis der Urkundenfälschung, von dem das Zulassungsvorbringen an anderer Stelle spricht, würde eine Versagung der Aufnahme unabhängig von der Kenntnis des Bewerbers allein wegen der Vorlage eines veränderten Dokuments und unabhängig von der Vorlage weiterer echter Personenstandsdokumente bedeuten.
bb) Eine tatsächliche Verwaltungspraxis des Bundesamtes, die zu dem vorliegend vom Bundesamt verfochtenen Ergebnis führt, existiert nicht.
Dass die Vorlage von durchweg gefälschten Dokumenten in der Vergangenheit stets zur Ablehnung einer Aufnahmezusage geführt hat, beruht auf dem Umstand, dass mit ausschließlich gefälschten Urkunden der Nachweis für die Aufnahmevoraussetzung nach Nr. I.2.a der Anordnung nicht erbracht werden kann. Einen „Mischfall“, in dem sowohl verfälschte als auch echte Urkunden vorgelegt wurden, hat es nach dem Vorbringen des Bundesamtes zur Begründung des Zulassungsantrages bislang nicht gegeben; eine ständige, vom Bundesinnenministerium gebilligte Verwaltungspraxis für solche Fälle kann folglich nicht bestehen. Eine Regelung zum Umgang mit einer neuen Fallkonstellation kann zwar geschaffen werden, muss jedoch aus Gründen der Gleichbehandlung (Art. 3 GG) hinreichend bestimmt sein. Eine hinreichend bestimmte Regelung für den künftigen Umgang mit „Mischfällen“ wie dem vorliegenden vermochte bereits das Verwaltungsgericht nicht festzustellen (vgl. UA S. 13); wie erwähnt ist sie auch für den Senat nicht erkennbar.
2. Die Berufung ist auch nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Insoweit fehlt es bereits an der nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO erforderlichen Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung. Dazu muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- und Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist, und darlegen, weshalb der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124a Rn. 72). Die Beklagte bezeichnet die Frage als klärungsbedürftig, ob eine Auslegung der Aufnahmeanordnung zulässig ist, wonach die einem Aufnahmebewerber zuzurechnende Vorlage verfälschter und unverfälschter Urkunden eine Aufnahme für ihn und seine Familienangehörigen ausschließt. Nachdem die Fragestellung an die Aufnahmeanordnung als Ganzes anknüpft, mangelt es bereits an einer konkreten Fragestellung. Im Übrigen kann das Bundesministerium des Innern im Rahmen seines Entschließungs- und Auswahlermessens den von einer Anordnung erfassten Personenkreis selbst bestimmen und hierfür positive Kriterien (Erteilungsvoraussetzungen) und negative Kriterien (Ausschlussgründe) aufstellen. Nach dem klaren Wortlaut der Anordnung ist die als klärungsbedürftig bezeichnete Frage derzeit zu verneinen. Der Wortlaut der Anordnung bietet keinen Anhalt für die Auslegung seitens des Bundesamts. Die Klägerin hat den Nachweis der jüdischen Nationalität in der geforderten Art und Weise erbracht und sie ist keine Straftäterin. Die Durchführung eines Berufungsverfahrens würde zu der erforderlichen Ergänzung der Aufnahmeregelungen und/oder der Verwaltungspraxis nichts beitragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 3, Abs. 1, 52 Abs. 2 GKG.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 4 Satz 5 VwGO).


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