Verwaltungsrecht

einstweiliger Rechtsschutz, Folgenbeseitigungsanspruch, Rückgängigmachen der Abschiebung von Familienangehörigen, Familienverbund, Trennung bei der Abschiebung, Vermutung der Reisefähigkeit, PTBS

Aktenzeichen  W 7 E 21.1627

Datum:
17.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 7240
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AsylG § 43 Abs. 3 S. 1
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
AufenthG § 60a Abs. 2c S. 2, 3
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt die Rückgängigmachung der Abschiebung ihrer Familienangehörigen.
1. Die Antragstellerin ist Staatsangehörige von Aserbaidschan. Sie reiste am 16. Juni 2015 mit ihrem Ehemann in das Bundesgebiet ein. Am 9. Februar 2017 wurde im Bundesgebiet der gemeinsame Sohn geboren. Die Asylanträge der Antragstellerin und ihrer Familienangehörigen wurden mit Bescheiden des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 2. Januar 2017 und 26. September 2017 unanfechtbar abgelehnt, wobei zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht festgestellt wurden und die Abschiebung nach Aserbaidschan angedroht wurde (vgl. dazu die Akten der Gerichtsverfahren Az.: W 7 K 17.30142, W 7 K 17.33512). Die Folgeanträge der Antragstellerin sowie ihrer Familienangehörigen vom 29. Dezember 2020 wurden mit Bescheid des BAMF vom 7. Juli 2021 als unzulässig abgelehnt; des Weiteren wurde die Abänderung der Feststellung zum zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutz abgelehnt. Über die gegen diesen Bescheid erhobenen Klagen ist noch nicht entschieden (Az.: W 7 K 21.30787, W 7 K 21.31265). Die zugleich gestellten Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen hat das Gericht mit unanfechtbarem Beschluss vom 2. August 2021 abgelehnt (Az.: W 7 S 21.30788). Die Regierung von Unterfranken – Zentrale Ausländerbehörde Bayern (ZAB) – lehnte daraufhin mit Bescheid vom 21. September 2021 die Ausstellung von Duldungen für die Antragsteller ab und widerrief etwaige noch nicht abgelaufene Duldungen. Über die hiergegen erhobene Klage ist noch nicht entschieden (Az.: W 7 K 21.1322).
Den zugleich gestellten Antrag gemäß § 123 VwGO auf vorläufige Untersagung der Abschiebung im Wege der einstweiligen Anordnung lehnte die Kammer mit Beschluss vom 22. November 2021 ab (Az.: W 7 E 21.1323); der Beschluss ist rechtskräftig geworden. Auf die Gründe des Beschlusses wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
Am 25. November 2021 wurden der Ehemann sowie der Sohn der Antragstellerin nach Aserbaidschan abgeschoben. Die Antragstellerin konnte im Zeitpunkt des polizeilichen Zugriffs nicht in der Unterkunft angetroffen werden und galt in der Folgezeit zunächst als untergetaucht. Ein ihr von der ZAB am 1. Dezember 2021 unterbreitetes Beratungsangebot zur freiwilligen Rückkehr in das Herkunftsland nahm die Antragstellerin nicht an.
2. Am 15. Dezember 2021 erhob die Antragstellerin Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit und Rückgängigmachung der Abschiebung (Az.: W 7 K 21.1626), über die noch nicht entschieden ist.
Zugleich beantragte sie gemäß § 123 VwGO (sinngemäß), den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Abschiebung ihres Ehemannes sowie ihres Sohnes rückgängig zu machen.
Im Zeitpunkt der Abschiebung ihrer Familienangehörigen sei sie gerade nicht zuhause gewesen. Die Polizisten seien sehr rabiat vorgegangen und hätten ihren Mann angetrieben, schnellstmöglich die Sachen zusammen zu packen. Seinen Einwand, dass sie auf die Antragstellerin warten sollten, hätten die Polizisten ignoriert. Sie hätten die Beiden mitgenommen und nach Aserbaidschan zurückgeführt. Ihr Sohn sei durch den Vorfall so traumatisiert, dass er seitdem nicht mehr spreche. Eine Trennung von Mutter und Kind sei rechtswidrig, vor allem, wenn das Kind noch so klein sei. Sie wolle deshalb, dass ihr Kind so schnell wie möglich zu ihr zurück komme. Da sie psychisch angeschlagen sei, sei sie auf die Unterstützung und Hilfe ihres Ehemannes angewiesen. Deshalb wolle sie ihn auch wieder in ihrer Nähe haben. Da bei ihr ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis bestehe, wäre auch eine Überstellung der ganzen Familie rechtswidrig gewesen. Auf die (im dazugehörigen Klageverfahren bzw. in den vorgängigen Verfahren vorgelegten) Arztberichte wurde verwiesen.
4. Für den Antragsgegner beantragt die ZAB, den Antrag abzulehnen.
Es liege kein Anordnungsanspruch vor. Die Antragstellerin habe keinen Anspruch auf Duldung. Sie sei reisefähig im Sinne des § 60a Abs. 2c AufenthG. Das Attest des Diplompsychologen S. C. vom 2. März 2021 genüge nicht den gesetzlichen Anforderungen für eine Widerlegung der gesetzlichen Vermutung der Reisefähigkeit und sei insoweit unbeachtlich. Es treffe keine Aussage zur Reisefähigkeit. Sowohl das BAMF als auch das Verwaltungsgericht Würzburg hätten Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 VwGO verneint. An diese Feststellungen sei die ZAB nach § 42 Satz 1 AsylG gebunden. Die Atteste vom 2. September 2021, 15. November 2021 und vom 20. Dezember 2021 entsprächen ebenfalls nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG und seien daher unbeachtlich. Die Atteste vom 2. September 2021 und 15. November 2021 enthielten keine Aussagen zur Reisefähigkeit der Antragstellerin. Das Attest vom 20. Dezember 2021 bescheinige lediglich pauschal die Reiseunfähigkeit der Antragstellerin, ohne konkret Gründe zu nennen. Sonstige Duldungsgründe seien nicht ersichtlich. Auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 22. November 2021, Az.: W 7 E 21.1323, werde Bezug genommen. Da weder die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nachgewiesen habe noch die Abschiebung des Ehemannes und des Kindes rechtswidrig gewesen sei, verstoße die Trennung der Familie am 15. Dezember (gemeint wohl: 25. November) 2021 nicht gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Die Trennung sei von der Antragstellerin veranlasst gewesen, die den Zustand jederzeit durch freiwillige Ausreise nach Aserbaidschan zu ihrer Familie beenden könne. Ein entsprechendes Beratungsangebot habe sie jedoch abgelehnt. Insoweit bestehe keine Verpflichtung der ZAB auf Rückholung im Rahmen eines Folgenbeseitigungsanspruchs.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der vorgelegten Behördenakten sowie auf die beigezogenen Akten zu den Verfahren Az.: W 7 K 21.1626, W 7 E 21.1323, W 7 K 21.1322, W 7 K 17.30142, W 7 K 17.33512, W 7 K 21.30787, W 7 K 21.31265 und W 7 S 21.30788 Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist nicht begründet.
1. Der Antrag ist zulässig.
a) Für das Antragsbegehren der einstweiligen Rückgängigmachung der Abschiebung ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung statthaft. Als solcher ist das Begehren der nicht anwaltlich vertretenen Antragstellerin – die den Antrag erkennbar ausschließlich im eigenen Namen stellt – rechtsschutzorientiert auszulegen (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO). Ein nach § 123 Abs. 5 VwGO vorrangiger Antrag auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, gegebenenfalls verbunden mit einem Antrag auf Vollzugsfolgenbeseitigung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO, ist vorliegend nicht statthaft, da in der Hauptsache keine Anfechtungsklage zu erheben wäre (vgl. BayVGH, B.v. 30.7.2018 – 10 CE 18.769 und 10 CS 18.773 – juris Rn. 15 f.; Nds.OVG, B.v. 29.3.2019 – 13 ME 519/18 – juris Rn. 9). Denn die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid des BAMF vom 2. Januar 2017 ist bereits bestandskräftig geworden. Überdies kommt dem gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, über den der Antragsgegner noch nicht entschieden hat, keine Fiktionswirkung gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG zu (vgl. BayVGH, B.v. 30.7.2018 – 10 CE 18.769 und 10 CS 18.773 – juris Rn. 15 f., 43).
b) Zugunsten der Antragstellerin legt das Gericht den Antrag nicht in dem Sinne aus (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO), dass die Antragstellerin die einstweilige Feststellung der Rechtswidrigkeit der Abschiebung begehrt, weil es dafür an der erforderlichen Antragsbefugnis der Antragstellerin fehlt. Denn es ist insoweit nicht ersichtlich, welches subjektiv-öffentliche Recht der Antragstellerin durch den Erlass einer einstweiligen Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO gesichert werden müsste, um der Gefahr einer Veränderung des bestehenden Zustandes zu begegnen (BayVGH, B.v. 28.1.2016 – 10 CE 15.2653 – juris Rn. 16).
c) Offenbleiben kann, ob die begehrte Regelungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO mit dem Ziel der einstweiligen Rückgängigmachung der Abschiebung durch Rückholen ihrer Familienangehörigen aus dem Zielstaat in das Bundesgebiet zulässig ist. Die Kammer hat zunächst keine Zweifel daran, dass ein solcher Antrag vom Prozessrecht gedeckt ist, obwohl für den Fall der einstweiligen Anordnung kein prozessualer Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch wie in § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO für den Fall der Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung geregelt ist. Denn der Vorschrift des § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO kommt lediglich prozessuale Bedeutung im Sinne einer erleichterten Geltendmachung des materiell-rechtlichen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs zu (Hamb.OVG, B.v. 6.7.2018 – 3 Bs 97/18 – juris Rn. 20; Nds.OVG, B.v. 29.3.2019 – 13 ME 519/18 – juris Rn. 9; tendenziell restriktiver: BayVGH, B.v. 28.1.2016 – 10 CE 15.2653 – juris Rn. 18; OVG RP, B.v. 21.7.2017 – 7 B 11139/17 – juris Rn. 3). Auch liegt insoweit die erforderliche Antragsbefugnis der Antragstellerin vor. Denn sie kann geltend machen, durch die infolge der Abschiebung der Familienangehörigen eingetretene Trennung des Familienverbandes möglicherweise in ihren Grundrechten aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK verletzt zu sein, jedenfalls, soweit ihr die freiwillige Rückkehr nach Aserbaidschan zu ihren Familienangehörigen unzumutbar wäre. Bedenken gegen die Zulässigkeit dieses Antrags bestehen jedoch unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzinteresses, weil dem Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegengehalten werden könnte (VG Berlin, U.v. 25.2.2015 – 24 K 14.15 – juris Rn. 73) bzw. der erstrebte Rechtsschutz sich als nutzlos erweisen würde. Denn auch bei unterstellter Rechtswidrigkeit der Abschiebung der Familienangehörigen wegen der dadurch bewirkten Trennung des Familienverbandes könnten die Antragstellerin und ihre Familienangehörigen wieder – dann aber nur im Familienverband – abgeschoben werden, weil ihnen jedenfalls im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im vorliegenden Verfahren voraussichtlich kein Duldungsgrund zusteht (dazu 2.). Der Antragstellerin würde somit im vorliegenden Verfahren bei Erfolg ihres Antrags eine vorläufige Rechtsposition verliehen, welche ihr umgehend wieder entzogen werden könnte. Unter solchen Umständen ist einstweiliger Rechtsschutz aber nutzlos und ein darauf gerichteter Antrag wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Ob das Gebot des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG die mit der einstweiligen Anordnung der Rückholung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache erfordert, ist dagegen eine Frage der Begründetheit des Antrags, da sie auf den Inhalt der begehrten einstweiligen Anordnung abzielt, und kann hier deshalb offen bleiben (vgl. dazu Saarl.OVG, B.v. 14.4.2021 – 2 B 54/21 – juris Rn. 17 f.; OVG RP, B.v. 21.7.2017 – 7 B 11139/17 – juris Rn. 5).
2. Der Antrag ist nicht begründet.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Im Hinblick auf die durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Garantie effektiven Rechtsschutzes ist der Antrag begründet, wenn der geltend gemachte Anspruch hinreichend wahrscheinlich ist (Anordnungsanspruch) und es dem Antragsteller schlechthin unzumutbar ist, das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund). Diese Voraussetzungen sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen.
Gemessen daran steht der Antragstellerin kein Anordnungsanspruch in der Gestalt eines Folgenbeseitigungsanspruchs zu. Selbst wenn die Abschiebung der Familienangehörigen ohne die Antragstellerin nach § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG in Verbindung mit deren Grundrechten aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK wegen daraus folgender Ermessensreduzierung auf Null rechtswidrig gewesen sein sollte, ist weder dargelegt noch glaubhaft gemacht worden, dass es der Antragstellerin unzumutbar ist, ihrerseits freiwillig nach Aserbaidschan zurückzukehren und dort die familiäre Lebensgemeinschaft wiederherzustellen. Auf die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes kommt es somit vorliegend nicht an.
a) Nach § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG darf die Ausländerbehörde bei Familienangehörigen im Sinne des § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG, welche gleichzeitig oder jeweils unverzüglich nach ihrer Einreise einen Asylantrag gestellt haben, die Abschiebung vorübergehend aussetzen, um die gemeinsame Ausreise der Familie zu ermöglichen. Zwar handelt es sich dabei um eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AsylG, § 43 Rn. 8; Pietzsch in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.4.2021, AsylG, § 43 Rn. 10; Faßbender in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.5.2021, AsylG, § 43 Rn. 10), weshalb den betroffenen Ausländern kein Rechtsanspruch auf Aussetzung der Abschiebung zusteht. Im Rahmen der Ermessensausübung hat die Ausländerbehörde aber die Wertungen des Art. 6 GG sowie des Art. 8 EMRK als wertentscheidender Grundsatznormen zu beachten (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 45 m.w.N.; Pietzsch in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.4.2021, AsylG, § 43 Rn. 10; Faßbender in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.5.2021, AsylG, § 43 Rn. 10). Vor diesem Hintergrund bleibt ohne nähere Aufklärung des Sachverhaltes – die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss – im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes offen, ob das Ermessen des Antragsgegners im Rahmen des § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG auf Null reduziert war, weil (zumindest) die Trennung der Antragstellerin von ihrem im Zeitpunkt der Abschiebung etwa viereinhalbjährigen Sohn mit Blick auf das Kindeswohl gegen Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK verstoßen hat. Denn selbst wenn die Abschiebung der Familienangehörigen ohne die Antragstellerin rechtswidrig war, folgt daraus noch kein Anspruch auf Rückholung der Familienangehörigen in das Bundesgebiet, weil der öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch nicht auf die (Wieder-) Einräumung derjenigen Rechtsposition gerichtet ist, welche der Betroffene bei rechtmäßigem Verwaltungshandeln erlangt haben würde, sondern allein auf die Beseitigung der Folgen eines (hier unterstellten) rechtswidrigen Hoheitsaktes, mithin auf die Wiederherstellung des ursprünglichen, durch den hoheitlichen Eingriff veränderten Zustandes (BVerwG, B.v. 14.7.2010 – 1 B 13.10 – juris Rn. 3 m.w.N.). Voraussetzung des Folgenbeseitigungsanspruchs ist demnach, dass der durch den rechtswidrigen hoheitlichen Eingriff geschaffene Zustand rechtswidrig und dessen Beseitigung tatsächlich und rechtlich möglich ist (Saarl.OVG, B.v. 14.4.2021 – 2 B 54/21 – juris Rn. 16; VGH BW, B.v. 18.1.2006 – 11 S 1455/05 – juris Rn. 7 m.w.N.). Vorliegend könnte die Antragstellerin also für den Fall, dass die Trennung des Familienverbandes durch die Abschiebung rechtswidrig war, nur die Wiederherstellung der Familieneinheit beanspruchen. Diese könnte auch durch die freiwillige Ausreise der Antragstellerin, gegebenenfalls mit Unterstützung durch den Antragsgegner, erfolgen. Ein Anspruch auf Rückführung ihrer Familienangehörigen in das Bundesgebiet auf der Grundlage eines Folgenbeseitigungsanspruchs würde hingegen voraussetzen, dass deren Aufenthalt im Inland nicht sogleich wieder beendet werden müsste (VG Berlin, U.v. 25.2.2015 – 24 K 14.15 – juris Rn. 72; VG Schleswig, B.v. 19.12.2002 – 14 B 86/02 – juris Rn. 19), was im vorliegenden Fall auf die Prüfung hinausläuft, ob die Antragstellerin und ihre Familienangehörigen einen Anspruch auf Duldung besitzen (BayVGH, B.v. 28.1.2016 – 10 CE 15.2653 – juris Rn. 16, 22 f.).
b) Nach diesen Maßstäben scheidet ein Anspruch auf Rückholung der Familienangehörigen zur Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Wege der Folgenbeseitigung aus, weil kein Anspruch darauf besteht, diese Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zu führen. Kein Familienangehöriger besitzt einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet. Den zum Familienverband der Antragstellerin gehörenden Personen steht auch, wie im vorgängigen Beschluss vom 22. November 2021 (Az.: W 7 E 21.1323) ausgeführt, kein Anspruch auf Duldung zu. Auf die dortigen Ausführungen, an denen die Kammer weiter festhält, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
c) Des Weiteren steht der Antragstellerin auch auf der Grundlage der vorgelegten Atteste kein Anspruch auf Duldungserteilung wegen der geltend gemachten Erkrankung zu. Insoweit beruft sie sich auf ein inländisches Vollstreckungshindernis in der Gestalt der krankheitsbedingten Reiseunfähigkeit und damit auf einen Duldungsanspruch aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Eine Erkrankung kann einen Duldungsanspruch begründen, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des betroffenen Ausländers durch die Abschiebung selbst wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert und diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Hierbei stellen, wie im Beschluss vom 22. November 2021 ausgeführt, nur äußerst gravierende Erkrankungen eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben dar, d.h. wenn die Abschiebung dazu führen würde, dass eine schwerwiegende Erkrankung des Ausländers mangels Behandelbarkeit in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Abschiebungsvorgang in einem Ausmaß verschlechtert wird, dass dem Betroffenen eine individuell konkrete, erhebliche Gefahr an Leib oder Leben droht. Deshalb begründet auch eine festgestellte PTBS grundsätzlich kein Abschiebungsverbot, es sei denn, die Abschiebung führte ihretwegen zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung (BT-Drs. 18/7538, S. 18; Koch in Kluth/Heusch a.a.O., § 60 AufenthG Rn. 40; Röder in Decker/Bader/Kothe, Migrationsrecht, 8. Edition, Stand: 1.5.2021, § 60a AufenthG Rn. 33 ff.).
Gemessen an diesen Voraussetzungen ist eine Reiseunfähigkeit der Antragstellerin nach wie vor nicht glaubhaft gemacht. Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1, 2 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn der betroffene Ausländer die Erkrankung, welche die Abschiebung beeinträchtigen kann, nicht durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung glaubhaft macht. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (vgl. § 60 Abs. 2c Satz 3 AufenthG). Nur unter diesen Voraussetzungen kann seitens des Gerichts im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Abschiebung vorläufig ausgesetzt werden bzw. im Hauptsacheverfahren Anlass für weitere Ermittlungen von Amts wegen nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 VwGO bestehen.
Der Befundbericht des Diplompsychologen S.C. vom 2. März 2021 genügt, wie das Gericht bereits im Beschluss vom 22. November 2021 ausgeführt hat, schon nicht den oben genannten formalen Anforderungen, weil es sich bei dem Behandler nicht um einen (Fach-)Arzt handelt. Des Weiteren bedarf es zur Substantiierung der dort diagnostizierten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) eines traumatisierenden Lebensereignisses des Betroffenen. Dieses unterliegt der uneingeschränkten richterlichen Nachprüfung, d.h. das Gericht muss sich gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO die volle Überzeugungsgewissheit verschaffen, dass dieses Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes muss das traumatisierende Ereignis gemäß §§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 936, 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft gemacht werden. Daran fehlt es im vorliegenden Falle. Die von der Antragstellerin gegenüber dem behandelnden Diplompsychologen geschilderten Ereignisse (Bedrohung und Gewalttätigkeiten gegenüber ihrem Ehemann durch den Schwiegervater; Flucht bzw. Verschleppung des Vaters, deshalb häufiger Polizeikontakt) waren bereits Gegenstand der Anhörung sowie der mündlichen Verhandlung im ersten Asylprozess und wurden dort nach sachlicher Prüfung als unglaubhaft gewertet. Das Gericht sieht nach dem Akteninhalt keine Veranlassung, von dieser Bewertung abzuweichen. Zu den Vorfällen in Bezug auf das Verschwinden ihres Vaters hat die Antragstellerin im Asylverfahren und -prozess im Übrigen keine substantiierten Angaben gemacht. Eine akute Suizidalität schließt das Attest aus. Ein eventueller Suizidversuch bei der Abschiebung kann im Übrigen durch entsprechende Vorkehrungen ausgeschlossen werden; dies liegt im Verantwortungsbereich der die Abschiebung durchführenden staatlichen Organe.
Auch die weiteren, von der Antragstellerin vorgelegten Atteste erfüllen die Anforderungen an eine Widerlegung der gesetzlichen Vermutung der Reisefähigkeit gemäß § 60a Abs. 2c Satz 2, 3 AufenthG nicht. Der Entlassungsbericht der H.-Klinik für Gastroenterologie, Onkologie, Pneumologie und Beatmungsmedizin vom 15. März 2016 ist schon nicht hinreichend aktuell, um die gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen. Auch das Attest vom 21. Januar 2020, der Befundbericht der H.-Klinik vom 17. Januar 2021 sowie der Entlassungsbericht der H.-Klinik vom 21. Januar 2021 sind nicht hinreichend aktuell und treffen im Übrigen weder Aussagen zu den geltend gemachten psychischen Erkrankungen, noch zur Reisefähigkeit. Der Konsiliarbericht einer Fachärztin für Allgemeinmedizin und Geriatrie vom 13. April 2021 kann schon aus dem formalen Grund mangelnder fachlicher Qualifikation der Ausstellerin nicht zur Widerlegung der Vermutung der Reisefähigkeit dienen, zu der im Übrigen auch keine Aussage getroffen wird. Bei dem Attest vom 4. August 2021 des Diplompsychologen S.C., welches somit schon aus formalen Gründen nicht zur Widerlegung der Vermutung der Reisefähigkeit dienen kann, handelt es sich lediglich um eine Überweisung an einen Therapeuten mit der kurzen Mitteilung der Diagnose sowie des Umstandes, dass die Antragstellerin Stimmen höre. Damit ist aber keine Aussage zur Reisefähigkeit getroffen. Das Attest vom 2. September 2021 ist zwar von einem Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie ausgestellt, es trifft aber ebenfalls keine Aussage zur Reisefähigkeit. Diagnostisch wird eine depressive Episode, eher chronifiziert, festgestellt. Eine PTBS könne nicht sicher ausgeschlossen werden. Aussagen zum Schweregrad der Erkrankung werden nicht getroffen. Es wird lediglich berichtet, die Antragstellerin sei „etwas depressiv, (…) jedoch aufzuheitern“ gewesen. Sie habe mittels eines Dolmetschers von Verfolgung und Misshandlung im Herkunftsland berichtet. Damit wird schon nicht an substantiierte Aussagen der Antragstellerin zu einem traumatisierenden Ereignis angeknüpft, welche durch das Gericht im Wege der Sachverhaltsaufklärung und Beweiswürdigung überprüft werden könnten. Das Attest vom 15. November 2021 ist von einer Fachärztin für Neurologie ausgestellt. Hier wird eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, eine Anpassungsstörung sowie ein Zustand nach einem Suizidversuch festgestellt. Auf einen – nicht vorliegenden – Arztbericht vom 29. Juli 2021 wird verwiesen. Eine weitere psychiatrische Betreuung wird empfohlen. Aussagen zur Reisefähigkeit der Antragstellerin enthält auch dieses Attest nicht.
Schließlich ist auch das fachärztliche Attest der Frau Dr. M. in S. vom 20. Dezember 2021 nicht geeignet, die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit der Antragstellerin zu widerlegen. Die dort gestellte Diagnose einer PTBS kann angesichts der oben zitierten abweichenden fachärztlichen Beurteilungen nicht als gesichert gelten. Denn zum einen lässt der Aussteller des hinreichend aktuellen Attests vom 2. September 2021, ein Facharzt u.a. für Psychiatrie und Psychotherapie, Zweifel an dieser Diagnose erkennen („[…] kann nicht sicher ausgeschlossen werden“). Zum anderen ist, wie bereits ausgeführt, der Vortrag der Antragstellerin zu den angeblichen traumatisierenden Ereignissen als zu pauschal und unglaubhaft zu werten. Überdies muss irritieren, dass die Fachärztin im Attest vom 20. Dezember 2021 im Zusammenhang mit der Abschiebung des Ehemannes sowie des Kindes der Antragstellerin den Ausdruck der „Verschleppung“ gebraucht. Diese Formulierung, welche eine nicht durch rechtskräftige Gerichtsentscheidung für rechtswidrig erklärte Maßnahme der an Gesetz und Recht gebundenen staatlichen Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) in das Licht einer Willkürmaßnahme rückt, ist geeignet, den Eindruck mangelnder Distanz der Fachärztin zum Vortrag der Antragstellerin zu erwecken. Dieser Umstand lässt wiederum Zweifel an der Verwertbarkeit des Attestes aufkommen. Unabhängig davon liegt auf der Hand, dass eine Trennung von Familienangehörigen – ungeachtet der Frage, ob diese rechtmäßig war – zu einer Verschlechterung einer depressiven Symptomatik führen kann. Diesem Umstand könnte aber durch freiwillige Rückkehr der Antragstellerin zu den Familienangehörigen in das Herkunftsland abgeholfen werden. Dies wäre ihr auch vor dem Hintergrund der genannten Diagnosen zumutbar, weil psychische Erkrankungen, wie auch eine PTBS, in Aserbaidschan behandelbar sind, sodass die begonnene Therapie dort fortgesetzt werden kann. Um den Zeitraum bis zur Erreichbarkeit einer entsprechenden Behandlung im Zielstaat – die gegebenenfalls mit einer Zuzahlung seitens der Antragstellerin verbunden sein kann – zu überbrücken, kann ihr durch den Antragsgegner ein entsprechender Medikamentenvorrat mitgegeben werden. Derartige Fragen hätten im Rahmen der von der ZAB angebotenen Rückkehrberatung, welche die Antragstellerin jedoch nicht in Anspruch nehmen wollte, erörtert werden können. Der im Attest vom 20. Dezember 2021 festgestellten Suizidalität und Gefahr einer psychotischen Eskalation, die nicht weiter begründet werden, kann der Antragsgegner im Falle einer Abschiebung – wie ausgeführt – durch eine entsprechende ärztliche Begleitung sowie durch geeignete Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die Antragstellerin im Zielstaat durch medizinisches Personal bzw. durch eine Bezugsperson in Empfang genommen wird, begegnen.
Der Antrag war deshalb abzulehnen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 2, 63 Abs. 2 Satz 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.5 und 8.3 dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Stand 2013).


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