Verwaltungsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem – Würdigung eines Eingangsstempels nach den §§ 415 ff. ZPO

Aktenzeichen  11 CS 19.1484

Datum:
25.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27431
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 130
StVG § 4 Abs. 5 S. 1, Abs. 6 S. 1, S. 2, S. 3
FeV § 41 Abs. 1
ZPO §§ 415 ff.
VwGO § 98

 

Leitsatz

1. Die Beiziehung von Behördenakten ist zwar kein selbstständiges Beweismittel, die Akten bilden aber für das Gericht einen zentralen Informationsbaustein und unterliegen als Urkunden oder Augenscheinsobjekte den jeweils dafür anwendbaren Vorschriften. Demgemäß ist es nicht zu beanstanden, wenn das Gericht bei Würdigung eines Schreibens und des darauf angebrachten Eingangsstempels im Rahmen des Urkundsbeweises nach den §§ 415 ff. ZPO zu dem Ergebnis gelangt, das Schreiben sei an diesem Tag bei der Behörde eingegangen. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zum maßgeblichen Kenntnisstand der Behörde im Fahreignungs Bewertungssystem. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 26 S 19.2339 2019-07-08 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, B und C1 nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem.
Mit Schreiben vom 8. Oktober 2018 ermahnte ihn das Landratsamt S. (im Folgenden: Landratsamt) bei einem Stand von vier Punkten. Es seien drei Ordnungswidrigkeiten (Taten vom 26.2.2015 2 Pkt., 11.5.2016 und 12.3.2018 je 1 Pkt.) im Fahreignungsregister eingetragen.
Mit Schreiben vom 22. Februar 2019 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Landratsamt mit, der Antragsteller habe sieben Punkte im Fahreignungsregister erreicht. Es seien noch zwei Ordnungswidrigkeiten vom 24. Juni 2018 (1 Pkt.) und 26. Januar 2018 (2 Pkt.) dazugekommen Das Landratsamt verwarnte ihn daraufhin mit Schreiben vom 5. März 2019, dem Antragsteller mittels Postzustellungsurkunde am 7. März 2019 zugestellt. Wann das Schreiben zur Post gegeben worden ist, kann der Behördenakte nicht entnommen werden.
Mit Schreiben vom 26. Februar 2019 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Landratsamt mit, der Antragsteller habe durch eine Verkehrsordnungswidrigkeit vom 29. Januar 2018 nunmehr neun Punkte erreicht. Dieses Schreiben ist mit einem Stempel des Landratsamts vom 6. März 2019 versehen.
Nach Anhörung entzog das Landratsamt dem Antragsteller mit Bescheid vom 16. April 2019 die Fahrerlaubnis (Nr. 1) und ordnete unter Androhung eines Zwangsgelds (Nr. 4) die Abgabe des Führerscheins binnen einer Woche nach Zustellung des Bescheids an (Nr. 3). Das Landratsamt wies darauf hin, dass die Nummern 1 und 3 des Bescheids sofort vollziehbar seien. Am 4. Juni 2019 gab der Antragsteller seinen Führerschein beim Landratsamt ab.
Über die gegen den Bescheid vom 16. April 2019 erhobene Klage (M 26 K 19.2338) hat das Verwaltungsgericht München noch nicht entschieden. Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 8. Juli 2019 abgelehnt. Die Klage werde voraussichtlich nicht erfolgreich sein. Das Schreiben des Kraftfahrt-Bundesamts vom 26. Februar 2019 sei gemäß dem Eingangsstempel des Landratsamts dort erst am 6. März 2019 zugegangen. Es sei nicht ersichtlich, dass der Stempel versehentlich falsch eingestellt oder verspätet angebracht worden sei. Die Verwarnung sei schon einen Tag vorher erfolgt. Eine Punktereduzierung komme daher nicht in Betracht. Auf die Problematik, dass die Verwarnung erst am 7. März 2019 und damit nach Eingang der letzten Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts zugestellt worden ist, geht der Beschluss nicht ein.
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt. Der Antragsteller wiederholt dabei wörtlich seine Klage- und Antragsbegründung. Darüber hinaus macht er geltend, es werde bestritten, dass das Landratsamt erst am 6. März 2019 von der weiteren Ordnungswidrigkeit Kenntnis erlangt habe. Bei dem Stempel handele es sich nicht um einen Eingangs-, sondern um einen bloßen Datumsstempel. Die Beweiswürdigung des Gerichts sei grob fehlerhaft. Zum einen sei überhaupt nicht Beweis erhoben worden. Zum anderen werde bloß behauptet, es sei allgemein bekannt, dass Behörden Eingangsstempel anbringen würden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
Die Auffassung des Antragsstellers, bei dem Stempel auf dem Schreiben des Kraftfahrt-Bundesamts vom 26. Februar 2019 handele es sich nicht um einen Eingangsstempel, kann nicht überzeugen. Es ist gerichtsbekannt und vom Antragsgegner für das Landratsamt auch entsprechend bestätigt, dass die Posteinlaufstellen von Behörden eingehende Schreiben mit einem Datumsstempel versehen, um das Eingangsdatum zu dokumentieren. Welchen anderen Zweck ein solcher Stempel haben könnte, hat der Antragsteller nicht dargelegt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Seine Ausführungen, es sei weder bekannt, wer diesen Stempel angebracht habe und wann dies geschehen sei, führen zu keinem anderen Ergebnis. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass das Schreiben des Kraftfahrt-Bundesamts nicht am Tag des Eingangs von der Posteinlaufstelle des Landratsamts gestempelt worden ist. Welcher Bedienstete des Landratsamts den Stempel angebracht hat, ist dabei nicht von Belang.
Die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts ist auch nicht grob fehlerhaft. Die Beiziehung von Behördenakten ist zwar kein selbstständiges Beweismittel, die Akten bilden aber für das Gericht einen zentralen Informationsbaustein und unterliegen als Urkunden oder Augenscheinsobjekte den jeweils dafür anwendbaren Vorschriften (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 98 Rn. 68). Dass das Verwaltungsgericht bei Würdigung des Schreibens vom 26. Februar 2019 und des darauf angebrachten Stempels im Rahmen des Urkundsbeweises nach §§ 415 ff. ZPO zu dem Ergebnis gekommen ist, dieses Schreiben sei am 6. März 2019 beim Landratsamt eingegangen, ist nachvollziehbar und konnte vom Antragsteller nicht erschüttert werden.
Soweit der Antragsteller darüber hinaus wörtlich seine Klage- und Antragsbegründung wiederholt, ohne einen Bezug zu dem Beschluss des Verwaltungsgerichts herzustellen, genügt dies den Darlegungsanforderung des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, § 146 Rn. 22b) und kann daher keine Berücksichtigung finden.
Der Senat weist jedoch darauf hin, dass hier fraglich erscheint, ob der Antragsteller das Stufensystem ordnungsgemäß durchlaufen hat, da ihm die Verwarnung erst am 7. März 2019 zugestellt worden ist, die Behörde aber schon am 6. März 2019 Kenntnis von weiteren zwei Punkten hatte. Das Verwaltungsgericht wird daher im Hauptsacheverfahren zu prüfen haben, ob eine Maßnahme i.S.d. § 4 Abs. 6 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) erst dann ergriffen ist, wenn der Betroffenen in Anlehnung an § 130 BGB die Möglichkeit hat, das Schreiben (vgl. § 41 Abs. 1 der Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV) zur Kenntnis zu nehmen, ob es auf den Zeitpunkt ankommt, zu dem die Behörde das Schreiben zur Post gegeben hat – der hier den Behördenakten nicht entnommen werden kann, oder ob es ausreichend ist, wenn die Behörde ein entsprechendes Schreiben verfasst hat (vgl. OVG LSA, B.v. 13.6.2019 – 3 M 85/19 – juris Rn. 25; VG Gelsenkirchen, B.v. 20.11.2018 – 9 L 1674/18 – juris Rn. 43).
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 25. Auflage 2019, Anh. § 164 Rn. 14).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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