Verwaltungsrecht

Erfolglose Anhörungsrüge

Aktenzeichen  10 ZB 21.1542

Datum:
4.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16239
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 84 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, § 86 Abs. 1, § 152a
GG Art. 103 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Bei einem geltend gemachten Verstoß gegen das rechtliche Gehör durch einen Gerichtsbescheid hat der Betroffene vorrangig von der Heilungsmöglichkeit des Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung Gebrauch zu machen. Die Wahlmöglichkeit des § 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist beschränkt (Bestätigung von VGH München BeckRS 2016, 46970). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Einwände gegen die Handhabung des Amtsermittlungsgrundsatzes und der Aufklärungspflicht sind nicht geeignet, einen Gehörsverstoß zu begründen (Bestätigung von VGH München BeckRS 2019, 7330 Rn. 11). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

10 ZB 20.2326 2021-05-11 Bes VGHMUENCHEN VGH München

Tenor

I. Die Anhörungsrüge wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

1. Die am 31. Mai 2021 erhobene Anhörungsrüge des Antragstellers gegen den nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbaren Beschluss des Senats vom 11. Mai 2021, der ihm am 17. Mai 2021 zugestellt wurde, ist zulässig, aber unbegründet.
a) Der vorgenannte Beschluss des Senats verletzt den Antragsteller nicht im Sinne von § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO in entscheidungserheblicher Weise in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör.
Das prozessuale Grundrecht des Anspruchs auf rechtliches Gehör, das verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 91 Abs. 1 BV sowie einfachgesetzlich in § 108 Abs. 2 VwGO garantiert ist, sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung, so dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (vgl. BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395 = juris Rn. 42; BayVGH, B.v. 18.4.2019 – 5 ZB 19.50014 – juris Rn. 7). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das entgegengenommene Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden. Es ist verfehlt, aus der Nichterwähnung einzelner Elemente des Vorbringens in einem sehr umfangreichen Verfahren zu folgern, das Gericht habe sich mit den darin enthaltenen Argumenten nicht befasst (vgl. BVerwG, B.v. 9.7.2019 – 1 B 51/19 – juris Rn. 2 m.w.N.). Ein Gehörsverstoß liegt deshalb nur vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist, ohne dass es unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133/146 = juris Rn. 39; B.v. 22.11.2005 – 2 BvR 1090/05 – juris Rn. 26; B.v. 29.10.2015 – 2 BvR 1493/11 – juris Rn. 45).
Einwände gegen die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt können die Annahme eines Gehörsverstoßes hingegen nicht begründen. Dahinter steht die Erwägung, dass diese grundsätzlich dem materiellen Recht zuzuordnen ist (vgl. BVerwG, B.v. 15.5.2014 – 9 B 14.14 – juris Rn. 8). Das prozessuale Grundrecht des Anspruchs auf rechtliches Gehör vermittelt keinen Schutz davor, dass ein Gericht dem Vorbringen von Beteiligten nicht folgt beziehungsweise dieses aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts nicht weiter aufnimmt (vgl. BVerfG, B.v. 21.4.1982 – 2 BvR 810/81 – BVerfGE 60, 305 = juris Rn. 15). Art. 103 Abs. 1 GG statuiert auch keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts (vgl. BVerfG, B.v. 5.3.2018 – 1 BvR 1011/17 – juris Rn. 16; B.v. 29.5.1991 – 1 BvR 1383/90 – BVerfGE 84, 188 = juris Rn. 7; B.v. 25.1.1984 – 1 BvR 272/81 – BVerfGE 66, 116 = juris Rn. 77).
Zu dem Anspruch auf rechtliches Gehör gehört allerdings das Verbot von Überraschungsentscheidungen. Eine solche liegt indes nur vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit welcher ein gewissenhafter und kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133 = juris Rn. 36). Nach § 152a Abs. 2 Satz 5 VwGO muss die Rüge die angegriffene Entscheidung bezeichnen und die Gehörsverletzung darlegen.
b) Gemessen daran hat der Kläger eine Gehörsverletzung nicht dargelegt, sondern wendet sich im Wesentlichen gegen die rechtliche und tatsächliche Würdigung seines Vorbringens durch den Senat.
aa) Kein Erfolg beschieden ist insbesondere der Rüge des Klägers, der Senat habe den von dem Verwaltungsgericht verursachten Gehörsverstoß dadurch perpetuiert und eine für den Kläger überraschende Entscheidung getroffen, dass er dem unterlassenen Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung unzulässigerweise gegenüber der tatsächlich beantragten Zulassung der Berufung einen faktischen Vorrang zugewiesen habe. Die nach Erlass eines Gerichtsbescheides zumeist eröffnete Möglichkeit, eine mündliche Verhandlung zu beantragen, sei kein Ersatz für die vor der Entscheidung gebotene Gewährung rechtlichen Gehörs. Die Beteiligten sollten sich aufgrund der Anhörung nach § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu der von dem Verwaltungsgericht beabsichtigten Verfahrensweise, darunter auch der Annahme der Voraussetzungen des § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO, äußern können und Gelegenheit erhalten, ihren Sachvortrag zu ergänzen und gegebenenfalls Beweisanträge zu stellen. Dazu verwies der Kläger auf die dem Gerichtsbescheid beigefügte Rechtsmittelbelehrungdes Verwaltungsgerichts, in der beide Möglichkeiten des § 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO als gleichwertig dargestellt worden seien.
Dass der Senat den Gehörsverstoß des Verwaltungsgerichts perpetuiert hätte, ist damit nicht dargetan. Im Fall des Antrags auf Durchführung der mündlichen Verhandlung gilt der Gerichtsbescheid nach § 84 Abs. 3 VwGO als nicht ergangen, so dass es auf die ursprünglich von dem Verwaltungsgericht beabsichtigte Verfahrensweise und die zugrundeliegende Annahme, dass die Voraussetzungen hierfür vorliegen, nicht mehr ankommt. Der Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung steht den Beteiligten auch nicht nur zumeist, sondern stets zur Verfügung. Die Beteiligten erhalten in der dann stattfindenden mündlichen Verhandlung Gelegenheit, ihren Sachvortrag zu ergänzen und gegebenenfalls Beweisanträge zu stellen, wie der Senat in dem angegriffenen Beschluss ausgeführt hat (vgl. BA S. 3 Rn. 7). Der von dem Kläger als unzulässig gerügte „Vorrang“ des Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung folgt, wie der Senat unter Berufung auf die einschlägige Rechtsprechung erörtert hat, (vgl. BA S. 3 Rn. 7 a.E.), aus den Voraussetzungen einer begründeten Gehörsrüge. Auch aus der Rechtsmittelbelehrungkann der Kläger nichts für sich herleiten. Das prozessuale Vorgehen eines Beteiligten muss sich stets an den konkreten tatsächlichen Gegebenheiten und konkreten rechtlichen Erfordernissen orientieren.
Die Entscheidung des Senats, dass der Betroffene in einem derartigen Fall von der Heilungsmöglichkeit des Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung Gebrauch zu machen hat und die Wahlmöglichkeit des § 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO beschränkt ist, kann keine Überraschung für den Kläger im vorgenannten Sinne darstellen, da sie der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BA S. 3 Rn. 7 a.E.). und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. BayVGH, B.v. 12.5.2016 – 22 ZB 16.549 – juris Rn. 23; B.v. 28.3.2006 – 1 ZB 06.30348 − juris Rn. 4) entspricht und auch in der einschlägigen Kommentarliteratur ihren Niederschlag gefunden hat (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 48).
bb) Fehl geht der Kläger insoweit auch mit der Rüge, der Senat habe mit dieser Entscheidung zudem den Untersuchungsgrundsatz und seine Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt und gegen das Erfordernis des § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen, wonach die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweisen darf und der Sachverhalt geklärt sein muss. Zum einen ist der Anspruch auf rechtliches Gehör von dem Amtsermittlungsgrundsatz und der Aufklärungspflicht des § 86 Abs. 1 VwGO abzugrenzen. Einwände gegen die Handhabung des Amtsermittlungsgrundsatzes und der Aufklärungspflicht sind nicht geeignet, einen Gehörsverstoß zu begründen (s.o., vgl. auch BayVGH, B.v. 18.4.2019 – 5 ZB 19.50014 – juris Rn. 11; B.v. 25.1.2019 – 13a ZB 19.30064 – juris Rn. 2; B.v. 5.12.2017 – 11 ZB 17.31711- juris Rn. 9; B.v. 15.5.2015 – 13a ZB 15.30074 – juris Rn. 9). Der geltend gemachte Verstoß gegen § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist mit einem Gehörsverstoß ebenfalls nicht gleichzusetzen. Zum anderen gelten die vorstehenden Erwägungen zu den Gründen für eine vorrangige Heilungsmöglichkeit des Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung und die damit beschränkte Wahlmöglichkeit entsprechend (s.o.).
cc) Insofern führt auch der Verweis des Klägers auf die Seiten 2 bis 5 der Zulassungsbegründungsschrift vom 23. November 2020 sowie auf die Seiten 1 bis 3 des ergänzenden Schriftsatzes vom 9. April 2021 nicht weiter. Ein pauschaler Verweis auf Schriftsätze aus vorangegangenen Verfahren ersetzt nicht die Darlegung eines Gehörsverstoßes und die Auseinandersetzung mit der nunmehr angefochtenen Entscheidung.
dd) Ins Leere geht die Rüge des Klägers, der Senat habe − ebenso wie zuvor das Verwaltungsgericht − nicht berücksichtigt, dass der Kläger wegen seiner psychisch labilen Lage ausgereist sei, um sich nach Ableistung des Wehrdienstes dem deutschen Strafverfahren zu stellen, dass er im Februar 2015 seinen Antrag auf Ableistung seines türkischen Wehrdienstes gestellt und sich am 3. März 2015 habe mustern lassen, dass er sich immer wieder aufgrund von Depressionen in stationäre Behandlung habe begeben müssen, und zwar während seiner Wehrdienstzeit und auch danach, dass er aufgrund seiner Erkrankung sogar ausgemustert worden sei und dass er schließlich wegen seiner schweren Erkrankung an Depression nicht rechtzeitig habe wieder einreisen dürfen, wobei er seine Schwester, seinen Vater und den ehemaligen Bevollmächtigten als Zeugen benannt und auch auf die im Verfahren vorgelegten Nachweise hingewiesen habe.
Der Kläger macht geltend, dass er im Zeitpunkt der Ausreise aus einem nur vorübergehenden Grund ausgereist ist. Dies ist eine innere, auf den Zeitpunkt der Ausreise bezogene Tatsache. Die von dem Kläger im Einzelnen aufgezählten Umstände, hier Zustände und Ereignisse, die mehrere Wochen beziehungsweise mehrere Monate nach seiner Ausreise eingetreten sind, sind dagegen äußere Tatsachen, die dazu dienen sollen, auf das Vorliegen der inneren Tatsache zu schließen.
Der Kläger blendet indes aus, dass der Senat diese Umstände ausdrücklich in seine Erwägungen einbezogen und gewürdigt hat (vgl. BA S. 6 Rn. 18: „Nicht durchdringen kann der Kläger mit dem Einwand, das Verwaltungsgericht habe die klägerseits geltend gemachten Anhaltspunkte, die für eine nur vorübergehende Ausreise sprechen würden, nicht beziehungsweise nicht hinreichend gewürdigt, darunter … die weiteren zeitlichen Abläufe in der Türkei“ sowie BA S. 6 Rn. 19: „Der Sachvortrag des Klägers zu den weiteren zeitlichen Abläufen in der Türkei ist im Wesentlichen identisch mit seinem Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren , ohne dass er diesen zu den Erwägungen des Verwaltungsgerichts in Bezug setzt.“). Letztendlich wendet sich der Kläger mit seiner Anhörungsrüge insofern erneut gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Senats. Dies vermag indes eine Gehörsrüge nicht zu begründen (s.o.).
ee) Fehl geht der Kläger schließlich mit der Rüge, der Senat habe, indem er die vorgenannten Umstände nicht berücksichtigt habe, auch gegen den Untersuchungsgrundsatz und die Aufklärungspflicht verstoßen. Wie bereits erörtert (s.o.), sind Einwände gegen die Handhabung des Amtsermittlungsgrundsatzes und der Aufklärungspflicht jedoch nicht geeignet, einen Gehörsverstoß zu begründen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO entsprechend in Verbindung mit § 69a GKG und § 3 Abs. 2 GKG sowie Nr. 5400 KV. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es demnach nicht.
3. Dieser Beschluss ist nach § 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO und § 69a Abs. 4 Satz 4 GKG unanfechtbar.


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